SG Dortmund, Beschluss vom 07.12.2020 - S 39 KR 2379/20 ER
Fundstelle
openJur 2021, 17012
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten

Gründe

Sozialgericht Dortmund

Az.: S 39 KR 2379/20 ER

Beschluss

In dem Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes

Antragsteller

Proz.-Bev.:

Antragsgegnerin

hat die 39. Kammer des Sozialgerichts Dortmund am 07.12.2020 durch die Vorsitzende, Richterin Spenner, beschlossen:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Gründe I.:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Antragstellers mit regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen.

Der Antragsteller leidet u.a. an einer koronaren 1-Gefäßerkrankung bei Zustand nach Myokardhinterwandinfarkt im Mai 2017, einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) im Stadium IIb bei Zustand nach aortobifemoraler Y-Prothesen-Implantation im August 2017 mit Verschluss der Prothese mit mehrfachen Thrombektomien der Prothesenschenkel im September bzw. Oktober 2019 sowie einer gemischten Hyperlipidämie mit Lp(a)-Erhöhung.

Der Antragsteller wandte sich erstmalig Ende des Jahres 2019 an die Antragsgegnerin und stellte bei der Sachverständigen-Kommission Apherese der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) einen Erstantrag zur Beratung der Indikationsstellung zur Apherese-Behandlung für die Lp(a)-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung. Der Antrag und dessen Ablehnung waren in der Folge Gegenstand des unter dem Aktenzeichen S 39 KR 276/20 ER bei dem Sozialgericht Dortmund geführten Eilrechtsverfahrens, welches am 17.04.2020 durch Beschluss endete. In diesem Beschluss wurde die Antragsgegnerin nach Einholung von Befundberichten der behandelnden Ärzte vorläufig bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis zum 20.10.2020, verpflichtet, den Antragsteller mit extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogene Verfahrensakte verwiesen.

In der im Zeitpunkt des Beschlusses des Sozialgerichts Dortmund noch nicht vorliegenden Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) kam dieser am 04.05.2020 zu dem Ergebnis, dass bei dem Antragsteller keine Veränderung der Lokalbefunde der Gefäße vorlägen. Die kardiologischen Befunde zeigten keine Progredienz der koronaren 1-Gefäßerkrankung.

Der behandelnde Nephrologe des Antragstellers, Dr. W, stellte sodann einen Folgeantrag bei der Sachverständigen-Kommission hinsichtlich der Indikationsstellung zur Apheresebehandlung. In der Stellungnahme vom 18.09.2020 kam die Sachverständigen-Kommission zu dem Ergebnis, dass die LDL-Apherese/Lp(a)-Apherese nicht befürwortet werde, da dem Antrag Angaben über einen Progress oder eine klinische Veränderung nicht beilägen, ein Progress werde vielmehr verneint. Unter Verweis auf das Beratungsergebnis der Sachverständigenkommission lehnte die Antragsgegnerin die streitgegenständliche Behandlung mit Bescheid vom 09.10.2020 ab. Der Antragsteller legte hiergegen Widerspruch ein.

Eine Entscheidung der Antragsgegnerin über den Widerspruch liegt - soweit ersichtlich - noch nicht vor.

Der Antragsteller hat am 16.10.2020 erneut einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem Sozialgericht Dortmund gestellt.

Diesen begründet er damit, dass die Voraussetzungen für die Lipid-Apherese weiterhin gegeben seien. Die Antragsgegnerin verkenne, dass es sich vorliegend um einen Folgeantrag handele. Das Vorliegen eines progredienten Krankheitsverlaufs könne nur beim Erstantrag gefordert werden, während beim Folgeantrag, d. h. nach Durchführung der Lipid-Apheresen, zu berücksichtigen sei, dass die Unterbrechung der Progredienz gerade der Benefit dieser Behandlung sei. Würde man weiterhin einen progredienten Krankheitsverlauf fordern, so müsste letztlich das Scheitern der Apherese dokumentiert werden, damit man diese fortsetzen könne.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn mit regelmäßigen extrakorporalen Lipid-Apherese-Behandlungen zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie verweist auf das Beratungsergebnis der Sachverständigen-Kommission der KVWL sowie auf das weitere Gutachten des MDK vom 26.10.2020. Danach ergebe sich ein Anspruch des Antragstellers auch nicht aus § 2 Abs. 1a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), da kein Progress der vorliegenden Erkrankungen und kein akuter Interventionsbedarf bestehe.

Das Gericht hat von Amts wegen Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Diese sind den Beteiligten mit gerichtlicher Verfügung vom 23.11.2020 zur Stellungnahme weitergeleitet worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte und der Gerichtsakte Bezug genommen.

Gründe II.:

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers bzw. der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Die hier begehrte Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG setzt die Glaubhaftmachung des streitigen Rechtsverhältnisses voraus, aus dem der Antragsteller bzw. die Antragstellerin eigene Rechte - insbesondere Leistungsansprüche - ableitet (Anordnungsanspruch). Ferner ist erforderlich, dass die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) vom jeweiligen Antragsteller glaubhaft gemacht werden (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschluss vom 12.08.2013, Az.: L 11 KR 281/13 B ER, juris, Rn. 17, m.w.N.). Dieses ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu bestimmen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde, Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes in summarischen Verfahren (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 29.07.2003, Az.: 2 BvR 311/03). Können schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Dann ist ggf. auf der Grundlage einer an der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht stattzugeben.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, die insbesondere die ärztliche Behandlung umfasst (Satz 2 Nr. 1). Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen in der vertragsärztlichen Versorgung gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu Lasten der Krankenkasse nur erbracht werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinischer Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit unter genau festgelegten Prämissen abgegeben hat. Dies ist in der Anlage I Nr. 1 der Richtlinie Methoden vertragsärztlicher Versorgung des GBA zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Method-RL) in der Fassung vom 17. Januar 2006, in Kraft getreten am 1. April 2006, zuletzt geändert am 18. Juni 2020, in Kraft getreten am 22. Juli 2020, geschehen.

In § 3 der Anlage I "Anerkannte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" "1. Ambulante Durchführung der Apheresen als extrakorporales Hämotherapieverfahren" (Apherese-Richtlinie) sind die möglichen Indikationen einer LDL-Apherese bei Hypercholesterinämie aufgeführt. Nach Abs. 1 können LDL-Apheresen bei Hypercholesterinämie nur durchgeführt werden bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie in homozygoter Ausprägung. Alternativ ist eine Behandlung bei schwerer Hypercholesterinämie möglich, wenn mit einer über 12 Monate dokumentierten maximalen diätischen und medikamentösen Therapie das LDL-Cholesterin nicht ausreichend gesenkt werden kann. Im Vordergrund der Abwägung der Indikationsstellung soll das Gesamt-Risikoprofil des Patienten stehen. Nach § 3 Abs. 2 können LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a)-Erhöhung nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankung).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist ein Anordnungsanspruch, nämlich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 der Apherese-Richtlinie, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gegeben (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 03.07.2020, L 11 KR 181/20 B ER, juris, Rn. 31ff.). Der Antragsteller hat einen klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierten progredienten Verlauf einer kardiovaskulären Erkrankung nicht glaubhaft gemacht.

Der Begriff "progredient" ist ausgehend von seinem Wortsinn (sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernd) und seiner grammatischen Herleitung (Partizip Präsenz von progredi) im Sinne von fortschreitend (und nicht etwa von fortgeschritten) zu verstehen. Es muss also über einen gewissen Zeitraum (klinisch und durch bildgebende Verfahren) eine Verschlechterung der kardiovaskulären Erkrankung festgestellt sein (LSG NRW a.a.O. Rn. 38). Zwar lässt der beim Antragsteller stattgehabte Myokardhinterwandinfarkt sowie die fortbestehende isolierte Lp(a)-Erhöhung bei koronarer 1-Gefäßerkrankung und pAVK vermuten, dass ein fortschreitender kardiovaskulärer Krankheitsprozess bestand (und ggf. auch weiter besteht). Dies ist zur Erfüllung der noch offenen Voraussetzung des § 3 Abs. 2 Apherese-Richtlinie jedoch nicht hinreichend. Es fehlt an der nach dem Wortlaut der Richtlinie ausdrücklich geforderten Dokumentation einer Progredienz des Krankheitsbildes klinisch und durch bildgebende Verfahren (LSG NRW a.a.O., Rn. 39). Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von § 5 Abs. 2 der Apherese-Richtlinie sind auch im Wiederholungsfall und im Behandlungsverlauf - und damit entgegen der Ansicht des Antragstellers auch bei Folgeanträgen- zur Begründung der Indikation bzw. deren Fortdauern Angaben zum klinischen Verlauf sowie eine bildgebende Dokumentation der Progredienz der kardiovaskulären Erkrankungen erforderlich. Dies folgt aus dem Gesamtzusammenhang der Apherese-Richtlinie. Die Behandlung stellt die "ultima ratio" dar und ist nach § 8 vom Grundsatz her stets befristet mit der Maßgabe, dass nach dem Ende des jeweiligen Behandlungsabschnitts eine erneute Prüfung der Behandlungsindikation zu erfolgen hat. Ist die Progredienz der kardiovaskulären Erkrankung aufgehalten, ist daher zunächst zu prüfen, ob - insofern kann auf die in § 1 Abs. 2 formulierte Intention der Apherese-Richtlinie verwiesen werden - die vorhandenen hochwirksamen Standardtherapien zur Anwendung kommen können. Würde man dies nicht voraussetzen, würde der Grundsatz der befristeten Genehmigung letztlich ausgehebelt und aus der "ultima ratio" würde eine auf unabsehbare Zeit zu gewährende Dauerleistung werden.

Den eingeholten Befundberichten lässt sich zwar entnehmen, dass die behandelnden Ärzte überwiegend von einer Progredienz des kardiovaskulären Krankheitsbildes ausgehen. Entsprechende aktuelle Befunde lassen sich den Unterlagen jedoch nicht entnehmen. Zudem hat der Kardiologe Dr. C mitgeteilt, dass ein stabiler klinischer Status vorliege. Dies deckt sich mit den Ausführungen der Sachverständigen-Kommission, wonach in den zum Folgeantrag eingereichten Unterlagen ein Progress verneint werde, sowie mit den gleichlautenden Stellungnahmen des MDK. Damit fehlt es aber im gegenwärtigen Zeitpunkt, d. h. mehr als ein halbes Jahr nach dem dem Begehren des Antragstellers (befristet) stattgebenden Beschluss, zwischenzeitlich an einer hinreichenden Befunddokumentation eines progredienten Krankheitsverlaufes, um das für die Glaubhaftmachung erforderliche Maß an Gewissheit für eine weitere fortlaufende vorläufige Bewilligung im gerichtlichen Eilrechtsschutz begründen zu können.

Das Gericht weist insofern ausdrücklich darauf hin, dass bei Vorlage aktueller klinischer und bildgebender Befundunterlagen zur Progredienz der kardiovaskulären Erkrankung eine abweichende Beurteilung in Betracht kommen könnte.

Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers ergibt sich letztlich auch nicht aus § 2 Abs. 1a SGB V. Zwar leidet er unstreitig an einer schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankung, die durchaus lebensbedrohlich werden kann. Vorliegend ist jedoch nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass eine unmittelbare Lebensgefahr vorliegt. Entsprechend kann auch aus den Grundsätzen der Folgenabwägung - jedenfalls derzeit - kein Anordnungsanspruch zugunsten des Antragstellers hergeleitet werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

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