FG Münster, Urteil vom 25.03.2021 - 5 K 547/18 U
Fundstelle
openJur 2021, 16960
  • Rkr:
Tenor

Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Ablehnungsbescheids vom 11.01.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 02.05.2018 für 2010 und vom 30.01.2018 für 2011 verpflichtet, die Umsatzsteuer für 2010 auf 17.469,63 Euro und die Umsatzsteuer für 2011 auf 11.469,38 Euro festzusetzen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig und werden dem Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin oder der Beigeladene zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

Streitig ist für die Frage des Vorliegens einer umsatzsteuerlichen Organschaft, ob die Klägerin zu ihren Ungunsten die Übergangsregelung zur umsatzsteuerlichen Organschaft im BMF-Schreiben vom 05.07.2011, Bundessteuerblatt I, 2011, 703, gegen sich gelten lassen muss.

Die Klägerin ist eine GmbH & Co. KG. Gegenstand ihres Unternehmens ist das Halten und Verwalten von Grundbesitz. Ihre Komplementärin ohne Kapitalbeteiligung war in den Streitjahren 2010 und 2011 die E-GmbH. Kommanditisten der Klägerin waren in den Streitjahren LN (im Folgenden: LN) und UP (im Folgenden: UP) zu jeweils 50 %. LN und UP waren außerdem alleinvertretungsbefugte und von den Beschränkungen des § 181 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) befreite Geschäftsführer der Komplementär-GmbH und Gesellschafter und Geschäftsführer der D-GmbH (im Folgenden: D-GmbH), die einen Groß- und Einzelhandel mit ...(Ware) betrieb. LN war mit nominell 405.000 Euro (50,63 %), UP mit nominell 232.500 Euro (29,06 %) und Herr GN (im Folgenden: GN) mit 162.500 Euro (20,31 %) beteiligt. Die Klägerin vermietete seit 2006 Grundbesitz an die D-GmbH. Seit dieser Zeit gingen die Beteiligten von einer umsatzsteuerlichen Organschaft aus, d. h. die Klägerin wurde als Organträgerin und die D-GmbH als Organgesellschaft behandelt.

In den Steuerakten befindet sich ein Schreiben des Beklagten vom 18.11.2011 an die damaligen steuerlichen Berater der Klägerin (Steuerberater X), mit dem auf die Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur finanziellen Eingliederung und auf das daraufhin ergangene BMF-Schreiben vom 05.07.2011, Bundessteuerblatt I 2011, 703 hingewiesen wurde. Es wird wegen des Inhalts auf das vorgenannte Schreiben verwiesen (Umsatzsteuerakte, Bl. 1). Der Zugang dieses Schreibens wird von der Klägerin bestritten. Eine Reaktion auf dieses Schreiben durch die Klägerin ist unstreitig nicht erfolgt.

Die Klägerin gab am 27.02.2012 ihre Umsatzsteuererklärung für 2010 und am 22.08.2013 ihre Umsatzsteuererklärung für 2011 ab. In diesen Erklärungen waren die Besteuerungsgrundlagen der D-GmbH mit enthalten. Die Klägerin erklärte für 2010 eine Umsatzsteuer i.H.v. xyz Euro und für 2011 eine Umsatzsteuer i.H.v. xyz Euro.

Der Beklagte hat die Erklärungen erklärungsgemäß verarbeitet. Am 05.12.2012 erging nach einer Lohnsteueraußenprüfung ein Änderungsbescheid für 2010 über Umsatzsteuer, mit dem die Umsatzsteuer auf xyz Euro festgesetzt wurde. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb bestehen. Für die Jahre ab 2012 wurden für die Klägerin und die D-GmbH getrennte Umsatzsteuererklärungen abgegeben.

Am 21.07.2016 wurde über das Vermögen der D-GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Beigeladene wurde zum Insolvenzverwalter der D-GmbH bestellt.

Mit Schriftsatz vom 02.12.2016, auf den wegen des Inhalts Bezug genommen wird (Umsatzsteuerakte Bl. 66 ff), beantragte die Klägerin die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre. Sie begründete ihren Änderungsantrag damit, dass nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH und des BFH zwischen der Klägerin und der D-GmbH keine umsatzsteuerliche Organschaft vorgelegen habe. Diesen Änderungsantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11.01.2017, auf den wegen des Inhalts Bezug genommen wird (Umsatzsteuerakte Bl. 113 ff), ab. Der Beklagte meinte, durch die fehlende Reaktion der Klägerin auf sein Schreiben vom 18.11.2011 und die Abgabe der Umsatzsteuererklärungen, in denen die Klägerin weiterhin als Organträgerin aufgetreten sei, habe die Klägerin die Übergangsregelung im BMF-Schreiben vom 05.07.2011 akzeptiert und könne keine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen mehr beanspruchen.

Die Klägerin gab am 17.01.2017 berichtigte Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre ab, mit denen sie die Umsatzsteuer für 2010 i.H.v. xyz Euro (um ein vielfaches niedriger) und die Umsatzsteuer 2011 i.H.v. xyz Euro (um ein vielfaches niedriger) erklärte. Diesen Erklärungen stimmte der Beklagte nicht zu.

Mit Schriftsatz vom 01.02.2017, auf den Bezug genommen wird (Rb - Akte Bl. 2 ff), legte die Klägerin Einspruch gegen den den Änderungsantrag ablehnenden Bescheid des Beklagten vom 11.01.2017 ein. Die Klägerin meinte, der Änderung der Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre stünden weder verfahrensrechtliche Hindernisse, noch Verwirkung entgegen.

Der Beklagte zog mit Bescheid vom 16.10.2017 den Beigeladenen gemäß § 174 Abs. 5 Abgabenordnung (AO) zum Einspruchsverfahren hinzu.

Am 30.01.2018 erging eine antragsabweisende Einspruchsentscheidung, die nur das Streitjahr 2011 betraf. Der Beklagte meinte, die im BMF-Schreiben vom 05.07.2011 getroffene Übergangsregelung stelle eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO dar, an die die Klägerin gebunden sei. Selbst wenn man diese Auffassung nicht teile, stehe der beantragten Änderung der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Die Klägerin habe in ihren Bilanzen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bis 31.12.2011 von einer umsatzsteuerlichen Organschaft mit der D-GmbH ausgegangen werde. Es wird wegen der Einzelheiten auf die Einspruchsentscheidung vom 30.01.2018 verwiesen.

Die Klägerin erhob Klage, die die Streitjahre 2010 und 2011 betraf. Die Klage wegen Umsatzsteuer 2010 wurde nach gerichtlichem Hinweis auf das noch nicht abgeschlossene Vorverfahren zurückgenommen, mit Beschluss vom 23.04.2018 vom vorliegenden Verfahren abgetrennt und eingestellt. Das eingestellte Verfahren wurde unter dem Az. 5 K 1252/18 U geführt.

Am 02.05.2018 erging die Einspruchsentscheidung des Beklagten wegen Umsatzsteuer 2010, die im Wesentlichen dieselben Argumente wie die Einspruchsentscheidung zur Umsatzsteuer 2011 enthielt. Dagegen hat die Klägerin Klage erhoben, die zunächst unter dem Az. 5 K 1688/18 U geführt wurde. Die Klageverfahren 5 K 547/18 U und 5 K 1688/18 U wurden mit Beschluss vom 25.01.2021 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem Az. 5 K 547/18 U verbunden.

Die Klägerin nimmt zur Begründung ihrer Klage Bezug auf ihren im Einspruchsverfahren gemachten Vortrag und trägt ergänzend vor, es dürfe als unstreitig gelten, dass zwischen ihr und der D-GmbH in den Streitjahren keine umsatzsteuerliche Organschaft vorgelegen habe. Das vom Beklagten herangezogene Schreiben vom 18.11.2011 kenne die Klägerin nicht und sie bestreite den Zugang. Auch dem damaligen Berater sei das Schreiben nicht zugegangen, wofür die Klägerin Beweis anbietet durch Vernehmung des Steuerberaters Herrn X. Die Klägerin habe auch unstreitig nicht auf das Schreiben reagiert. Die Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre seien daher nicht mit Rücksicht auf das vorgenannte Schreiben abgegeben worden, sondern weil im Zeitpunkt der Erstellung der Erklärungen noch nicht die richtigen steuerlichen Rückschlüsse aus der geänderten BFH-Rechtsprechung zur umsatzsteuerlichen Organschaft gezogen worden seien. Der Abgabe der Umsatzsteuererklärungen könne somit kein Erklärungswert zu einer möglichen Übergangsregelung gemäß dem BMF-Schreiben vom 05.07.2011 beigemessen werden. Die Umsatzsteuererklärungen hätten keinen Hinweis auf das vorgenannte BMF-Schreiben oder das Schreiben des Beklagten vom 18.11.2011 enthalten. Die Klägerin habe keine Erklärung, auch nicht konkludent, darüber abgegeben, dass die Organschaft fortbestehen solle.

Aus dem Verhalten der Klägerin könne kein Verzicht auf einen Rechtsbehelf hergeleitet werden. Das gelte auch und insbesondere auf die Abänderung oder Aufhebung der Umsatzsteuererklärungen im Rahmen des Vorbehalts der Nachprüfung. Welche rechtlichen Schlussfolgerungen der Beklagte aus den BFH-Urteilen zur umsatzsteuerlichen Organschaft gezogen und in dem BMF-Schreiben vom 05.07.2011 niedergelegt habe, sei belanglos, denn das BMF-Schreiben binde nur die Verwaltung und nicht die Klägerin. Das BMF-Schreiben stelle entgegen der Auffassung des Beklagten auch keine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO dar, denn es sei lediglich eine verwaltungsinterne Richtlinie.

Der Abänderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre stehe auch nicht der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Das Schweigen auf das Schreiben des Beklagten vom 18.11.2011 sei unerheblich. Es sei bemerkenswert, dass sich der Beklagte im Streitfall auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufe. In der Rechtsprechung und Literatur sei nämlich anerkannt, dass sich Steuerpflichtige nicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen könnten, solange ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehe und das Finanzamt eine fehlerbeseitigende Änderung zulasten des Steuerpflichtigen vornehmen wolle. Der BFH (Urteil vom 29.04.2008, VIII R 75/05) vertrete die Auffassung, dass bei einem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid nur in besonderen Ausnahmefällen eine Korrektur nach dem Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sei. Erforderlich sei für die Annahme eines Vertrauenstatbestands neben weiteren Voraussetzungen die eindeutige, klare und unmissverständliche Aussage, dass ein bestimmter Tatbestand für die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes maßgeblich sein solle. Daran fehle es im Streitfall. Der Grundsatz von Treu und Glauben habe lediglich rechtsbegründende Wirkung innerhalb bestehender Steuerschuldverhältnisse und könne nicht dazu führen, dass Steueransprüche oder -schulden überhaupt erst zum Entstehen oder Erlöschen gebracht werden (BFH, Urteil vom 08.02.1996, V R 54/94). Da die Klägerin und die D-GmbH eigenständige Rechts- und Wirtschaftssubjekte seien, fehle es schon an der Identität der beteiligten Rechtssubjekte innerhalb des Steuerschuldverhältnisses.

Die Klägerin habe sich auch nicht rechtsmissbräuchlich verhalten. Sie habe lediglich von ihren Verfahrensrechten Gebrauch gemacht. Es habe dem Beklagten freigestanden, jederzeit eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre durchzuführen. Der Grundsatz von Treu und Glauben habe nicht den Zweck, eine unvorteilhafte Verfahrensbehandlung der Finanzbehörde aufzufangen (BFH, Urteil vom 19.12.2013, V R 5/12).

Auch die vom Beklagten herangezogene Entscheidung des 15. Senats des Finanzgerichts Münster vom 06.04.2020, 15 K 2536/15 U, stehe der beantragten Änderung nicht entgegen. Im vom 15. Senat entschiedenen Fall habe das Finanzamt den Steuerpflichtigen im Hinblick auf das BMF-Schreiben vom 05.07.2011 nämlich kontaktiert. Hieran fehle es im Streitfall. Der damalige Berater der Klägerin, Steuerberater X, habe lediglich in elektronischer Form die Umsatzsteuererklärungen abgegeben. Weitere Erklärungen seien von ihm nicht abgegeben worden. Für weitere Erklärungen sei er auch gar nicht bevollmächtigt gewesen. Auch die Angabe in den Jahresabschlüssen der Klägerin für die Streitjahre, in denen auf eine umsatzsteuerliche Organschaft hingewiesen worden sei, stelle in rechtlicher Hinsicht keine Willenserklärung oder gar Zustimmung zum BMF-Schreiben vom 05.07.2011 dar. Für das Jahr 2010 enthalte der Jahresabschluss zudem nur die für das Jahr 2010 relevanten Angaben. Das vorgenannte BMF-Schreiben sei in 2010 aber noch gar nicht existent gewesen.

Im Übrigen sei nochmals darauf hinzuweisen, dass das BMF-Schreiben ausschließlich eine verwaltungsinterne Anweisung und für den Steuerpflichtigen unverbindlich sei. Die Klägerin verweist dazu auf die BFH-Urteile vom 10.11.2011, V R 34/10 und 11.10.2012, V R 9/10).

Vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass die umsatzsteuerliche Organschaft europarechtlich höchst zweifelhaft sein, was sich aus dem Vorlagebeschluss des BFH vom 11.12.2019, XI R 16/18 ergebe.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids des Beklagten vom 11.01.2017 und der Einspruchsentscheidungen des Beklagten vom 02.05.2018 für 2010 und vom 30.01.2018 für 2011 den Beklagten zu verpflichten, entsprechend der mit Schriftsatz vom 07.03.2018 eingereichten Umsatzsteuererklärungen die Umsatzsteuer 2010 auf xyz Euro und die Umsatzsteuer 2011 auf xyz Euro herabzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.

Er verweist auf seine Ausführungen in seinen Einspruchsentscheidungen. Ergänzend trägt er vor, die Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre seien jeweils nach Veröffentlichung des BMF-Schreibens vom 05.07.2011 und nach Veröffentlichung des BFH-Urteils im Bundessteuerblatt II 2011, 597 beim Finanzamt eingegangen. In beiden Erklärungen sei die Klägerin trotz veröffentlichter abweichender BFH-Rechtsprechung vom Vorliegen der Organschaft ausgegangen. Hinzu käme, dass in den Bilanzen darauf hingewiesen worden sei, dass bis zum 31.12.2011 mit der D-GmbH eine umsatzsteuerliche Organschaft bestanden habe. Die Behauptung der steuerlich beratenen Klägerin, sie sei völlig ahnungslos weiterhin vom Bestehen einer Organschaft ausgegangen und die abgegebenen Erklärungen/Bilanzen hätten keinerlei Bezug zur Billigkeitsregelung des vorgenannten BMF-Schreibens gehabt, sei unglaubwürdig. Es könne unterstellt werden, dass der steuerliche Berater der Klägerin über Verwaltungsanweisungen, die sich auf sein Mandat auswirkten und Billigkeitsregelungen enthielten, informiert gewesen sei. Der Umstand, dass in den Erklärungen und Bilanzen eindeutig und unmissverständlich vom Vorliegen der Organschaft ausgegangen worden sei, sei zumindest als konkludente Zustimmung zur Billigkeitsregelung zu werten. Bei dem BMF-Schreiben handele es sich um ein Entgegenkommen der Finanzverwaltung mit dem Ziel der Verwaltungsökonomie und Rechtssicherheit. Ob man dies Billigkeitsregelung oder Übergangsregelung nenne, sei unerheblich. Dass es sich auch um eine Verwaltungsanweisung handele, die ausschließlich die Verwaltung binde, sei unbestritten. Im Falle des Verzichts auf die Anwendung des BMF-Schreibens hätte die steuerlich beratene Klägerin sich äußern können und hätte in ihren Erklärungen die steuerlichen Konsequenzen aus der geänderten BFH-Rechtsprechung ziehen müssen. Die Klägerin habe sich jedoch (zumindest konkludent) für die Anwendung der Billigkeitsregelung entschieden. Der Beklagte nimmt Bezug auf das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 08.12.2016, 6 K 2485/13, EFG 2017, 343. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei im Streitfall die grundsätzlich gegebene Korrekturmöglichkeit gemäß § 164 Abs. 2 AO durch den Grundsatz von Treu und Glauben eingeschränkt. Die Übergangs-/Billigkeitsregelung diene nicht dazu, dem Steuerpflichtigen steuerliche Gestaltungsspielräume zu eröffnen. Sie habe vielmehr den Zweck, den Beteiligten des Besteuerungsverfahrens ein ökonomisches Verfahren zu ermöglichen und Rechtssicherheit herzustellen. Das Finanzgericht Münster (rechtskräftiger Gerichtsbescheid vom 06.04.2020, 15 K 2536/15 U) habe in einem gleichgelagerten Fall entschieden, dass das Finanzamt eine Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung zu Recht aufgrund der Zustimmung der Klägerin zur Übergangsregelung des BMF-Schreibens vom 05.07.2011 abgelehnt habe. Die Zustimmung zu einer belastenden Übergangsregelung in einem BMF-Schreiben führe zum Verlust des Rechts, die Änderung der Steuerfestsetzung zu verlangen. Außerdem könne das Finanzamt die Änderung aufgrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben ablehnen. Im Streitfall ergebe sich der Umstand, dass die Klägerin die Übergangsregelung im BMF-Schreiben vom 05.07.2011 kannte und ihr bewusst zugestimmt habe, aus den Umsatzsteuererklärungen 2010 und 2011 und den Jahresabschlüssen, in denen darauf hingewiesen worden sei, dass bis zum 31.12.2011 eine umsatzsteuerliche Organschaft bestanden habe.

Mit Beschluss vom 26.01.2021 ist der Beigeladene gemäß § 174 Abs. 5 Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen worden.

Der Beigeladene beantragt,

den Beklagten entsprechend dem Antrag der Klägerin zu verurteilen.

Er trägt vor, die Voraussetzungen der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft hätten unstreitig zu keiner Zeit vorgelegen. Der Grundsatz von Treu und Glauben und die Entscheidung des Finanzgerichts Münster (Gerichtsbescheid vom 06.04.2020, 15 K 2536/15 U) griffen im Streitfall nicht. Im soeben genannten Fall des 15. Senats des Finanzgerichts Münster habe die dortige Klägerin unzweifelhaft auf das Anschreiben des Finanzamts im Hinblick auf das BMF-Schreiben vom 05.07.2011 reagiert. Im Streitfall sei demgegenüber sogar streitig, ob ein entsprechendes Schreiben vom Beklagten überhaupt versandt worden sei und ob es den seinerzeitigen Beratern zugegangen sei. Es habe bis auf die Steuererklärungen keinerlei Äußerung der Klägerin im Hinblick auf das vorgenannte BMF-Schreiben gegeben. Ein bloßes Schweigen der Klägerin habe keine rechtliche Wirkung. Der Beklagte habe es in seiner Hand gehabt, den Vorbehalt der Nachprüfung aufzuheben. Die Klägerin habe kein Verhalten gezeigt, woraus der Beklagte den Schluss hätte ziehen können, dass die Klägerin die Übergangsregelung im BMF-Schreiben vom 05.07.2011 in Anspruch nehmen wolle. Der Beklagte sei daher nicht nach den Grundsätzen von Treu und Glauben schutzwürdig.

Es wurden die Gerichtsakten 5 K 1252/18 U und 5 K 1688/18 U beigezogen.

Die Sache wurde am 25.03.2021 vor dem Senat mündlich verhandelt. Es wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Gründe

I. Die Klage ist begründet. Die Ablehnung der Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 FGO).

Die gegen die Klägerin ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen für 2010 vom 05.12.2012 und die einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehende Umsatzsteuerjahreserklärung der Klägerin (§ 168 AO) vom 22.08.2013 sind rechtswidrig (siehe dazu 1). Einer antragsgemäßen Änderung stehen keine verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen (siehe dazu 2). Das Änderungsbegehren der Klägerin ist nicht rechtsmissbräuchlich (siehe dazu 3).

1. Die Klägerin war in den Streitjahren keine Organträgerin im Sinne von § 2 Abs. 2 Umsatzsteuergesetz (UStG), denn die D-GmbH war zumindest finanziell nicht in das Unternehmen der Klägerin eingegliedert. Die Besteuerungsgrundlagen der D-GmbH waren daher nicht bei der Klägerin zu erfassen.

Nach der neueren Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 22.04.2010, V R 9/09, BStBl II 2011, 597; vom 01.12.2010, XI R 43/08, BStBl II 2011, 600; vom 02.12.2015, V R 15/14, BStBl II 2017, 553), der der Senat folgt, liegt eine finanzielle Eingliederung nicht vor, wenn ein oder mehrere Gesellschafter die Stimmenmehrheit an zwei Gesellschaften hat/haben. In diesem Fall ist nämlich nicht rechtssicher bestimmbar, unter welchen Voraussetzungen der Beteiligungsbesitz der Gesellschafter zusammengerechnet werden kann, um eine finanzielle Eingliederung der einen in die andere Schwestergesellschaft zu begründen. Im Streitfall war die Klägerin selbst nicht unmittelbar oder mittelbar (aus einer über eine Tochtergesellschaft gehaltenen Beteiligung) an der D-GmbH beteiligt. Die Klägerin und die D-GmbH waren vielmehr sogenannte Schwestergesellschaften, an denen dieselben Gesellschafter die Anteilsmehrheit gehalten haben. Das begründet nach der oben genannten Rechtsprechung keine finanzielle Eingliederung. Dieser Umstand ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

Da es schon an einer finanziellen Eingliederung fehlt, kann der Senat dahinstehen lassen, ob die Annahme einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft zwischen der Klägerin und der D-GmbH darüber hinaus auch europarechtswidrig ist (siehe dazu Vorlagebeschluss des BFH vom 11.12.2019, XI R 16/18, BFH/NV 2020, 598).

2. a) Die beantragte Änderung der gegenüber der Klägerin ergangenen Festsetzungen war gemäß § 164 Abs. 2 AO verfahrensrechtlich möglich, denn die Umsatzsteuerfestsetzungen standen noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Der Vorbehalt der Nachprüfung ist auch nicht gemäß § 164 Abs. 4 AO wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung entfallen. Im Zeitpunkt der Änderungsantragstellung (02.12.2016) war die vierjährige Festsetzungsverjährungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO noch nicht abgelaufen. Die Umsatzsteuererklärung für 2010 wurde in 2012 und für 2011 in 2013 abgegeben, so dass die Festsetzungsverjährungsfrist für 2010 mit Ablauf des 31.12.2016 und für 2011 mit Ablauf des 31.12.2017 endete.

b) Die Klägerin hat sich ihrer verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nicht durch eine Zustimmung zu der sie belastenden Verwaltungsregelung im BMF-Schreiben vom 05.07.2011 begeben. Die Verfahrensordnung enthält zudem keine explizite Vorschrift, dass die Zustimmung zu einer in einer Verwaltungsvorschrift niedergelegten Übergangsregelung die Anwendung einer Änderungsvorschrift (§§ 164 Abs. 2, 172 ff AO) ausschließt.

Das Verfahrensrecht hält durch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO, § 354 Abs. 1 Satz 1 AO, § 50 Abs. 1 FGO allerdings auch Regelungen bereit, durch die der Steuerpflichtige durch Willensbekundung seine verfahrensrechtliche Position zu seinem Nachteil verändern kann - um damit ggf. einen indirekten oder mittelbaren Vorteil zu erlangen. Beim Einspruchs- und Klageverzicht kann dieser Vorteil in einem zügigeren Eintritt der formellen Bestandskraft bestehen (vgl. Tappe in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 354 AO, Rn. 6). Die Zustimmung in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO wird oftmals erteilt, um ein Entgegenkommen des Finanzamts an anderer Stelle (Stundung / Teilerlass) zu fördern (vgl. z.B. v. Groll in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 172 AO, Rn. 142). Der Interessenlage dieser Vorschriften vergleichbar verfügt der Steuerpflichtige bei der ausdrücklichen Zustimmung zu einer ihn belastenden Übergangsregelung ebenfalls bewusst über seine verfahrensrechtliche Position, um einen indirekten Vorteil zu erlangen und ist an diese Zustimmung gebunden (Finanzgericht Münster, als Urteil wirkender Gerichtsbescheid vom 06.04.2020, 15 K 2536/15 U, EFG 2020, 1091).

Anders als im Fall des 15. Senats des Finanzgerichts Münster (a. a. O.), in dem der Steuerpflichtige der ihn belastenden Verwaltungsvorschrift ausdrücklich zugestimmt hat, fehlt im Streitfall eine solche Zustimmung. Es ist nicht einmal klar, ob die Klägerin das Schreiben des Beklagten vom 18.11.2011 überhaupt erhalten hat. Jedenfalls hat die Klägerin darauf unstreitig nicht reagiert. Die Abgabe der Umsatzsteuererklärungen unter Berücksichtigung der Besteuerungsgrundlagen der D-GmbH und der Hinweis in den Bilanzen auf die umsatzsteuerliche Organschaft stellen keine ausdrückliche bzw. konkludente Zustimmung zur für die Klägerin belastenden Verwaltungsvorschrift dar. Es liegen keinerlei Indizien vor, die dafür sprechen, dass die Klägerin ihre verfahrensrechtlichen Rechte einschränken wollte und die für sie belastende Rechtsfolge der umsatzsteuerlichen Organschaft bewusst hinnehmen wollte. Die Abgabe der Umsatzsteuererklärungen und die Hinweise in den Bilanzen können - wie die Klägerin vorträgt - durch Unkenntnis von der neueren BFH-Rechtsprechung im Hinblick auf die finanzielle Eingliederung bei der umsatzsteuerlichen Organschaft veranlasst gewesen sein oder auch durch anfänglich fehlende Akzeptanz der höchstrichterlichen Rechtsprechung, was - z.B. durch sogenannte Nichtanwendungserlasse - auch auf Seiten der Verwaltung vorkommt. Daraus allein kann aber kein Verzicht auf verfahrensrechtliche Rechte hergeleitet werden.

c) Es liegt auch kein bestandskräftiger Grundlagenbescheid gemäß § 163 AO vor, der einer Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre entgegensteht (§ 351 Abs. 2 AO). Der Beklagte trägt zwar dem Grunde nach zu Recht vor, dass eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen einen Grundlagenbescheid im Sinne von § 171 Abs. 1 AO darstellt (ständige Rechtsprechung, siehe z.B. BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22 mit weiteren Nachweisen). Verfahrensrechtlich wird die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 163 AO, die keines Antrags bedarf, aber in einem gesonderten Verwaltungsverfahren getroffen. Sie ist sodann ein für die Steuerfestsetzung bindender Verwaltungsakt und damit Grundlagenbescheid für die Steuerfestsetzung (BFH, X R 11/14, a. a. O.).

Im Streitfall ist kein Verwaltungsakt des Beklagten ergangen, der eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO anordnet. Das BMF-Schreiben vom 05.07.2011 stellt entgegen der Auffassung des Beklagten keine Billigkeitsregelung gegenüber der Klägerin dar, denn es fehlt insoweit an der unmittelbaren Wirkung nach außen. Verwaltungsvorschriften richten sich, was der Beklagte auch nicht in Abrede stellt, an die untergeordneten Behörden und binden diese, nicht aber den Steuerpflichtigen (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung Finanzgerichtsordnung, § 118 AO, Rn. 23 mit weiteren Nachweisen).

Im Streitfall können die Umsatzsteuerfestsetzungen gegen die Klägerin, in denen diese als Organträgerin behandelt wird, auch schon deshalb nicht Gegenstand einer Billigkeitsmaßnahme des Beklagten sein, weil gemäß § 163 AO nur eine niedrigere Steuerfestsetzung bzw. eine Nichtberücksichtigung von steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen, also begünstigende Verwaltungsakte, ermöglicht wird. Im Streitfall ist die Umsatzsteuer gegen die Klägerin aber nicht zu niedrig, sondern zu hoch festgesetzt worden. Das vom Beklagten herangezogene Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 08.12.2016, 6 K 2485/13, EFG 2017, 343 (vom BFH aufgehoben, Urteil vom 26.06.2019, XI R 3/17, BFH/NV 2019, 1455) ist daher hier nicht anwendbar, weil im Fall des FG Rheinland-Pfalz der Kläger die umsatzsteuerliche Organschaft angestrebt und das Finanzamt diese gebilligt hat und die Übergangsregelung daher als begünstigende Billigkeitsregelung Bindung entfalten konnte.

3. Die Klägerin war auch nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben daran gehindert, die Änderung der Steuerfestsetzungen zu beantragen. Die Grundsätze von Treu und Glauben gebieten es innerhalb eines bestehenden Steuerrechtsverhältnisses für Steuergläubiger wie Steuerpflichtigen gleichermaßen, dass jeder auf die Belange des anderen Teils Rücksicht nimmt und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (Verbot des venire contra factum proprium). Beide Seiten müssen sich dabei grundsätzlich das Verhalten von in das Steuerrechtsverhältnis eingeschalteten Erfüllungsgehilfen zurechnen lassen (BFH-Urteil vom 17.6.1992 X R 47/88, BFHE 169, 103, BStBl II 1993, 174). Hierzu verlangt der Grundsatz von Treu und Glauben einen Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen ein am Steuerrechtsverhältnis Beteiligter disponiert hat. Erforderlich ist eine bestimmte Position oder ein bestimmtes Verhalten des einen Teils, aufgrund dessen der andere Teil bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, jener werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten (BFH-Urteil vom 6.7.2016 X R 57/13, BFHE 256, 1, BStBl II 2017, 334).

Im Streitfall hat der Beklagte keine für ihn vertrauensbegründenden Umstände vorgetragen, aus denen er schließen durfte, dass die Klägerin sich im Hinblick auf ihre Auffassung zum Vorliegen der umsatzsteuerlichen Organschaft endgültig und unabänderbar binden wollte. Der Umstand, dass die Klägerin Umsatzsteuererklärungen abgegeben hat, die nicht mehr der jüngsten BFH-Rechtsprechung entsprachen, begründet ohne weitere Umstände keinen vertrauensbegründenden Umstand zu Gunsten des Beklagten. Auch aus den Erklärungen in den Bilanzen - sofern man diese für die Umsatzsteuer überhaupt als verbindlich ansehen will - ergibt sich kein endgültiger Bindungswille der Klägerin. Es wird insoweit auf die o. g. Ausführungen unter 2) b) verwiesen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind gemäß § 139 Abs. 4 FGO erstattungsfähig. Es entspricht der Billigkeit, dem Beigeladenen Kostenerstattung zuzubilligen, denn er hat einen Sachantrag gestellt und damit ein Kostenrisiko übernommen. Der Beigeladene hat mit seinem Sachantrag auch obsiegt.

Die Revision ist nicht zuzulassen, denn es liegt eine Einzelfallentscheidung unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung vor.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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