VG Freiburg, Beschluss vom 24.03.2021 - 5 K 731/21
Fundstelle
openJur 2021, 16191
  • Rkr:

Die derzeitige Corona-Pandemie führt nicht dazu, dass Obdachlose generell im Alter von über 70 Jahren nicht mehr in Obdachlosengemeinschaftsunterkünften untergebracht werden dürfen und können.

Tenor

Der Antrag wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass für die Obdachlosenunterkunft "x" ein Hygienekonzept unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erarbeiten und vorzuweisen ist.

Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Der sachdienlich gemäß § 88 VwGO ausgelegte Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des am 08.03.2021 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 01.03.2021 ist zulässig. Der Antrag ist nach § 80 Abs. 5, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO statthaft. Vorliegend hat die Antragstellerin sich mit Schriftsätzen vom 08.03.2021 sowie 15.03.2021 an die Antragsgegnerin gewandt und im Wesentlichen mitgeteilt, dass sie zwar grundsätzlich verlegungsbereit, aber vor einer ausreichenden Impfung nicht bereit sei, mit anderen Obdachlosen in der "neuen" Unterkunft ab dem 01.04.2021 zu wohnen. Insgesamt ist das Vorbringen der Antragstellerin sachdienlich dahingehend auszulegen, dass sie - trotz ihres Hinweises im Schriftsatz vom 15.03.2021 - Widerspruch gegen den Bescheid vom 01.03.2021 bei der Antragsgegnerin eingelegt hat. Der Hinweis der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 12.03.2021, wonach nach ihrer Auffassung der "Widerspruch gegen die Anordnung des Sofortvollzugs" an das Verwaltungsgericht Freiburg zu richten sei, ist insofern irreführend. Allein ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines (erhobenen) Widerspruchs ist beim Verwaltungsgericht Freiburg zu stellen. Dies hat die Antragstellerin zusätzlich zu ihrem Anliegen, welches sie gegenüber der Antragsgegnerin geäußert hat, mit Schriftsatz vom 16.03.2021 beim hiesigen Gericht getan.

Der Antrag ist jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Die die beiden Grundverwaltungsakte in Ziffern 1 und 2 der Verfügung vom 01.03.2021 betreffende Anordnung des Sofortvollzugs vor allem hinsichtlich der Unterbringung der Antragstellerin in einer anderen Unterkunft ab dem 01.04.2021 bis zum 30.06.2021 (vgl. Ziff. 2 des Bescheids) ist formell rechtmäßig. Sie ist besonders angeordnet (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) und in einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet. Auch die Antragstellerin hat insoweit nichts eingewendet.

Es bestehen zwar Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs. Diesen kann jedoch durch die aus dem Tenor ersichtliche Maßgabe Rechnung getragen werden. Bei deren Beachtung überwiegt im Rahmen der gebotenen Abwägung das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig von den Folgen eines Vollzugs des Bescheids verschont zu bleiben.

Zwar könnte der Bescheid vom 01.03.2021 wegen unterbliebener vorheriger Anhörung des Betreuers der Antragstellerin - vor allem im Hinblick auf den belastenden Charakter des Widerrufs einer begünstigenden Verfügung (vgl. Ziff. 1 des Bescheids) - formell rechtswidrig sein. Weder eine Anhörung der Antragstellerin noch ihres Betreuers ist vor Ergehen des Bescheids vom 01.03.2021 ausweislich der vorliegenden Verwaltungsakte erfolgt. Laut Vortrag der Antragstellerin hat sie erst durch den streitgegenständlichen Bescheid von der anstehenden Umverteilung erfahren. Dieser Mangel kann jedoch im Rahmen eines noch durchzuführenden Widerspruchsverfahrens geheilt werden (vgl. etwa VG Freiburg, Beschluss vom 14.11.2019 - 6 K 3484/19 - juris Rn. 8).

Materiell-rechtlich sind der mit sofortiger Wirkung verfügte Widerruf der Einweisungsverfügung vom 17.11.2020 hinsichtlich der Obdachlosenunterkunft "x" sowie die zugleich der Antragstellerin gegenüber ergangene Neueinweisung in die Obdachlosenunterkunft "x" in x aller Voraussicht nach und im Wesentlichen nicht zu beanstanden.

Die Widerrufsverfügung in Ziff. 1 des Bescheids vom 01.03.2021 erfüllt aller Voraussicht nach die Voraussetzung des § 49 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 LVwVfG. Nach § 49 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 LVwVfG darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt widerrufen werden, wenn der Widerruf im Veraltungsakt vorbehalten ist. Ausweislich der Einweisungsverfügung vom 17.11.2020 hat die Antragsgegnerin sich in Ziff. 5 des Bescheids den Widerruf der Verfügung vorbehalten.

Nach summarischer Prüfung ist die Antragsgegnerin auch zum jetzigen Zeitpunkt noch verpflichtet, der Antragstellerin eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Gemäß §§ 1 und 3 PolG BW hat die zuständige Polizeibehörde die Aufgabe, von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, und Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. Dementsprechend ist die Ortspolizeibehörde verpflichtet, die (unfreiwillige) Obdachlosigkeit als Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.03.1996 - 1 S 470/96 - juris m.w.N.) zu verhindern oder zu beseitigen, wobei sie diese Aufgabe unter Berücksichtigung aller Umstände nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfüllen hat (st. Rspr. des VGH Bad.-Württ., vgl. Beschluss vom 24.02.1993 - 1 S 279/93 -; vom 02.11.1994 - 1 S 2439/94 - und vom 08.02.1996 - 1 S 147/96 -, jeweils bei juris).

Obdachlos im polizeirechtlichen Sinn ist derjenige, der nicht Tag und Nacht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt und insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft entspricht. Die Obdachlosigkeit bemisst sich allein nach objektiven Kriterien, sodass es nicht darauf ankommt, worauf sie zurückzuführen ist und insbesondere nicht darauf, ob den Betroffenen an ihrem Eintritt ein Verschulden trifft (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23.09.2019 - 1 S 1698/19 - und vom 05.03.1996 - 1 S 470/96 - jeweils juris; OVG Bremen, Beschluss vom 01.10.1993 - 1 B 120/93 - juris; Hess. VGH, Beschluss vom 30.04.1991 - 11 TG 567/91 - juris; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser durch die Polizei- und Ordnungsbehörden, 2014, S. 5; Ehmann, Obdachlosigkeit, 2. Aufl., S. 25). Denn für die Frage, ob eine Gefahr oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne der §§ 1, 3 PolG vorliegt, kommt es nach allgemeinen Grundsätzen des Polizeirechts allein darauf an, ob eine Gefahrenlage für die Schutzgüter der polizeilichen Generalklausel besteht (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.12.2015 - 1 S 2151/15 - n.V.). Eine Pflicht der Ortspolizeibehörde zum Einschreiten besteht allerdings nur bei Fällen unfreiwilliger Obdachlosigkeit. Ob die Obdachlosigkeit freiwillig oder unfreiwillig ist, entscheidet sich nach subjektiven Gesichtspunkten. Die Frage hängt mithin vom Willensentschluss des Betroffenen ab. Beruht die Obdachlosigkeit auf einer selbstverantwortlichen, rechtlich anzuerkennenden freien Willensentscheidung, fehlt es an einer polizeirechtlich relevanten Gefahrenlage. Im Falle einer Betreuung ist zur Beurteilung der Freiwilligkeit der Obdachlosigkeit der betroffenen Person in der Regel nicht allein auf ihren Willen abzustellen, sondern es kann für die Frage hinsichtlich mangelnder Bemühungen um eine anderweitige Wohnung (auch) auf das Handeln des für die betroffene Person bestellten Betreuers abgestellt werden (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 27.11.2019 - 1 S 2192/19 - juris Rn. 9 ff. m.w.N.).

Vorliegend droht der Antragstellerin unfreiwillig obdachlos zu werden, sobald die Antragsgegnerin ihr keine Unterkunft mehr zur Verfügung stellt. Eine freiwillige Obdachlosigkeit ist für das Gericht nicht ersichtlich. Im Übrigen ist dies zwischen den Beteiligten nicht streitig und seitens der Antragsgegnerin nicht vorgetragen worden.

Die Kammer weist darauf hin, dass die Unterbringung in eine Obdachlosenunterkunft weder von der Verwaltung noch von dem Betroffenen selbst als Dauerlösung betrachtet werden darf. Die Gewährung und Sicherung der Unterkunft auf Dauer ist, soweit sich ein Hilfsbedürftiger nicht selbst helfen kann und die Hilfe nicht von anderen erhält, grundsätzlich Aufgabe der zuständigen Träger der Sozialhilfe, nicht aber der Ortspolizeibehörde (st. Rspr., vgl. nur VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.1992 - 1 S 1523/92 - juris; Beschluss vom 05.03.1996, a.a.O.; Beschluss vom 27.11.2019 - 1 S 2192/19 - juris Rn. 18; OVG Berlin, Beschluss vom 06.06.1989 - 6 S 46/89 - NVwZ 1989, 989; Hess. VGH, Urteil vom 07.03.2011 - 8 B 217/11 - juris). Aus dem Überbrückungscharakter der Obdachlosenunterkunft folgt auch, dass die an eine Normalwohnung zu stellenden Anforderungen bezüglich Lage, Größe, Einrichtung und sonstiger Verhältnisse nicht erfüllt zu sein brauchen; die Unterkunft muss daher auch nicht den Anforderungen an eine wohnungsmäßige Versorgung entsprechen. Es reicht aus, eine Unterkunft bereit zu halten, die vorübergehend Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.03.1996 - 1 S 470/96 - juris Rn. 5).

Schließlich ist es der Antragsgegnerin unter der Maßgabe der Ausarbeitung eines Hygienekonzepts für die Obdachlosenunterkunft "x" zumutbar, statt wie vorher in einer abgeschlossenen Wohneinheit mit eigener Küche und Bad (vgl. etwa Ziff.1 des Bescheids vom 17.11.2020) nunmehr ab dem 01.04.2021 in der soeben genannten Unterkunft mit Gemeinschaftsflächenanteil (Küche, Bäder sowie Flurbereich) untergebracht zu werden (vgl. Ziff. 2 des Bescheids vom 01.03.2021). Eine andere freie und geeignete Unterbringungsmöglichkeit besteht bei der Antragsgegnerin laut deren Vortrag nicht. Die Einwände der Antragstellerin, eine Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft gefährde ihre Gesundheit, vor allem im Hinblick auf die derzeitige Corona-Pandemie, insbesondere der Mutationen des Virus, sowie ihres fortgeschrittenen Alters (derzeit 71 Jahre), rechtfertigen keine andere Einschätzung. Dies gilt auch für den Vortrag der Antragstellerin, eine Verlegung solle bis zu einer zweiten Impfung ihrerseits aufgeschoben werden. Die derzeitige Corona-Pandemie führt nicht dazu, dass Obdachlose generell im Alter von über 70 Jahren nicht mehr in Obdachlosengemeinschaftsunterkünften untergebracht werden dürfen und können. Die Kammer verkennt insofern nicht, dass im Hinblick auf die zukünftige Obdachlosengemeinschaftsunterkunft "x" sowie auch aufgrund des Alters der Antragstellerin ein gewisses erhöhtes Gefährdungspotential bestehen dürfte. Jedoch weist die Kammer darauf hin, dass die Antragstellerin auch bis zum 31.03.2021 schon in einer Gemeinschaftsunterkunft mit gemeinschaftlich genutzter Wohnfläche untergebracht wurde. Daneben gilt - wie zuvor ausgeführt -, dass die Unterkunft nicht den Anforderungen an eine wohnungsmäßige Versorgung entsprechen muss. Zwar umfasst die gemeinschaftlich genutzte Wohnfläche in der bisherigen Unterkunft weder die Küche noch das Bad der Antragstellerin, jedoch gab und gibt es in der derzeitigen Unterkunft ebenfalls bereits gemeinschaftlich genutzte Bereiche (Besucher-WC, Gemeinschaftsraum, Waschraum, Besprechungsraum und zwei Flurbereiche). Im Übrigen hat die Antragstellerin nicht hinreichend substantiiert vorgetragen und dargelegt, inwiefern sich die Verlegung in die neue Unterkunft auf ihre gesundheitliche Situation auswirken kann. Allein der Umstand, dass die Antragstellerin an einer paranoiden Schizophrenie leide (vgl. Aktenvermerk vom 22.03.2021) und aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe der älteren Menschen gehört, ist insofern unzureichend. Der mittlerweile seitens der Antragstellerin bestehende Anspruch auf eine Impfung tangiert die Obdachloseneinweisung grundsätzlich nicht. Es ist nicht Aufgabe der Gemeinde als Ortspolizeibehörde neben der Obdachlosenunterbringung auch die Impfung der Antragstellerin zu gewährleisten. Diesbezüglich ist es vielmehr Aufgabe des Betreuers, sich gemeinsam mit der Antragstellerin um einen Impftermin zu bemühen. Eine medizinische Notwendigkeit, die einzig die Unterbringung in einer Ein-Zimmer-Wohnung zulassen würde, auch unter Berücksichtigung der derzeitigen Corona-Pandemie ist für die Kammer insgesamt aufgrund der vorangehenden Ausführungen nicht ersichtlich.

Soweit die Antragsgegnerin vorträgt, dass nach den Corona-Vorschriften erforderliche Abstände zum Beispiel durch Vereinbarung entsprechender Nutzungszeiten eingehalten werden könnten (vgl. Antragserwiderung vom 18.03.2021), wird hierdurch nicht im hinreichenden Maße der Gefährdung der Antragstellerin und damit dem Infektionsschutz Rechnung getragen. Laut Vortrag der Antragsgegnerin gibt es für die Obdachlosenunterkunft "x" kein Hygienekonzept (vgl. Aktenvermerk vom 24.03.2021). Allein durch ein von der Antragsgegnerin anhand der Rechtsauffassung des Gerichts noch auszuarbeitendes Hygienekonzept kann der zukünftigen Gefährdungslage der Antragstellerin hinreichend Rechnung getragen werden. Die Absicht der Antragsgegnerin, Masken und Desinfektionsmittel in der Unterkunft zur Verfügung zu stellen, sowie der Hinweis auf die allgemeine Möglichkeit, sich einmal die Woche kostenlos testen zu lassen (sog. Bürgertestung, vgl. Aktenvermerk vom 24.03.2021), ist insofern unzureichend. Für die Kammer ist auch nicht ersichtlich und seitens der Antragsgegnerin nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden, dass die Hausordnung, auf welche in der streitgegenständlichen Verfügung verwiesen wird (vgl. Ziff. 3 a des Bescheids vom 01.03.2021), die besondere Gefahrenlage der Corona-Pandemie hinreichend berücksichtigt. Daher ist in Ergänzung zur bestehenden Hausordnung ein Hygienekonzept zu erarbeiten, welches folgende Aspekte aufgreifen sollte: Maskenpflicht in den Gemeinschaftsräumlichkeiten (Flur, Küche, ggf. Bad); Einhaltung des Mindestabstands von 1,5 m; Zurverfügungstellung von ausreichenden Masken sowie Desinfektionsmitteln für die Untergebrachten; regelmäßiges Lüften der gemeinschaftlich genutzten Räume mehrmals täglich durch Stoß- bzw. Querlüftung sowie Reinigung der Gemeinschaftsräumlichkeiten; die Gewährleistung, dass die soeben genannten Hygienemaßnahmen umgesetzt und befolgt werden (z.B. durch regelmäßige Kontrollen durch den Hausmeister); Vorgehen bei Auftreten eines Covid-19-Falles (z.B. Isolation der betroffenen Person) (vgl. etwa auch zur Erforderlichkeit eines zusätzlichen Hygienekonzepts bei der derzeitigen Corona-Pandemie VG Augsburg, Beschluss vom 15.12.2020 - Au 8 E 20.2249 - juris Rn. 22).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 35.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

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