SG Nürnberg, Endurteil vom 08.12.2020 - S 4 SO 81/18
Fundstelle
openJur 2021, 14912
  • Rkr:
Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2018 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Übernahme der Kosten für einen Gebärdensprachkurs unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Der Beklagte hat deren Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten zu 4/5 zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin gegen den Beklagten einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) im Rahmen eines Hausgebärdensprachkurses hat Die 2016 geborene Klägerin ist von Geburt an beidseitig hörgemindert. Wegen der diagnostizierten sensorineuralen Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen sind ihr ein Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen G, B, H, Gl und RF zuerkannt. Sie ist seit April 2017 beidseits mit Cochlear-Implantaten (CI) versorgt. Der Beklagte gewährte der Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe in Form von interdisziplinärer Frühförderung als Komplexleistung im Umfang von 72 heilpädagogischen Behandlungseinheiten in den Räumen der interdisziplinären Frühförderung am H. (vgl. Bescheide vom 16.02.2017 und vom 11.12.2017).

Mit einem am 06.11.2017 beim Beklagten eingegangen Schreiben beantragte die Klägerin (erneut) einen Hausgebärdensprachkurs. Zur Begründung wurde ausgeführt, man hoffe zwar, dass die Klägerin mithilfe CIs das Hören und Sprechen lerne. Jedoch bleibe sie in vielen Situationen gehörlos. Die CIs müssten beispielsweise bei bestimmten Sportarten und zum Schlafen abgenommen werden. Auch könnten diese kaputtgehen. Ferner würden die CIs leider nicht zu einem normalen Hörvermögen verhelfen. So sei eine Verständigung bzw. ein Hörverständnis in einem Raum mit vielen Menschen in der Lautsprache nur sehr schwer möglich (Geburtstage, Gottesdienste, Schulhof, Diskothek). In allen diesen Situationen und noch weiteren anderen bleibe die Klägerin faktisch gehörlos und sei auf Gebärdensprache angewiesen.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 05.01.2018 den Antrag auf Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Übernahme der Kosten für den Gebärdensprachkurs in der häuslichen Umgebung für die Klägerin sowie für die Eltern und der Schwester beantragt worden sei. Die Klägerin gehöre zwar dem Grunde nach zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung (a.F.). Allerdings würden bereits die Kosten für die Interdisziplinäre Frühförderung am H. übernommen. Im Rahmen dieser Frühförderung werden heilpädagogische und logopädische Leistungen erbracht. Die Klägerin erhalte daher eine adäquate und hinreichende Förderung, um sich mit anderen Personen verständigen zu können. Zusammenfassend sei der bestehende Eingliederungshilfebedarf durch die Frühförderung abgedeckt. Eine darüber hinausgehende gebärdensprachliche Förderung sei nicht erforderlich, um den individuellen Hilfebedarf zu decken. Zudem diene die Maßnahme überwiegend dazu, dass auch die Eltern und die Schwester der Klägerin die DGS erlernen. Es bestehe jedoch nur ein Anspruch für den jeweiligen Leistungsberechtigten selbst, mithin also nur für die Klägerin. Der gegen den Ablehnungsbescheid eingelegte Widerspruch vom 15.1.2018 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.03.2018 zurückgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin mit einem am 16.04.2018 beim Sozialgericht eingegangenen Schreiben Klage zum Sozialgericht Nürnberg erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass im Klageverfahren - entgegen der Ausführungen im angefochtenen Bescheid - weder die Eltern der Klägerin noch deren Schwester eine gebärdensprachliche Förderung begehren, zumal diese bereits vom Jugendamt im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gewährt wird. Die der Klägerin seitens des Beklagten vorgehaltene Frühförderung sei nicht qualifiziert, diese dahingehend zu fördern, dass sie aufgrund der Art und Schwere ihrer Behinderung mittels DGS kommunizieren könne. Es bestehe ein Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form des Hausgebärdensprachkurses, weil dieser entgegen der Auffassung des Beklagten geeignet und erforderlich sei, den Teilhabebedarf der Klägerin zu decken, nämlich deren Teilhabe am Leben in die Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, mithin die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern.

Wissenschaftliche Studien würden belegen, dass Kinder, die zweisprachig in Gebärdensprache und Lautsprache aufwüchsen, sowohl in der Gebärdensprache als auch in der Schriftsprache besser abgeschnitten hätten als Sprachlernende, die zunächst lautsprachlich aufgewachsen seien und erst später Zugang zur Gebärdensprache erhalten hätten. Darüber hinaus sei nachgewiesen, dass mit einer wachsenden Gebärdensprachkompetenz auch eine wachsende Lautsprachkompetenz einhergehe (siehe Pressemitteilung 1/2016: Cochlea-Implantate und Gebärdensprache des Deutschen Gehörlosenbundes e. V., Berlin, vom 08.02.2016). Der Hausgebärdensprachkurs sei unerlässlich, um die Gebärdensprachkompetenz der Klägerin und eine entspannte Kommunikation zu ermöglichen. Die lautsprachliche Kommunikation mittels CI sei für die Klägerin möglich, aber anstrengend, und zudem nicht immer möglich (z. B. in der Badewanne, unter der Dusche, abends oder morgens im Bett, bei Hörpausen, bei Trotzanfällen etc.).

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides des Bezirks Mittelfranken vom 05.01.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2018 zu verurteilen, der Klägerin für einen kindbedingten Hausgebärdensprachkurs eine Kostenübernahmeerklärung durch Verrichtung der A. im Umfang von wöchentlich 2 Stunden (1,5 Stunden Kursdauer; 1/2 Stunde für Vor- und Nachbereitung) unter Berücksichtigung eines Vergütungssatzes von 75,00 € pro Stunde inkl. Fahrzeit und -kosten sowie Vorbereitung und Nachbereitung zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte. Aus dem Bericht vom 28.01.2019 geht hervor, dass sich nach der CI-Versorgung beidseits bei der Klägerin sowohl in der klinischen Untersuchung als auch in der standardisierten ergotherapeutischen Testung ein altersgerechtes Entwicklungsprofil gezeigt habe. Der HNO-Arzt Dr. F. erläutert in seinem Befundbericht vom 20.05.2019, dass weiterhin eine intensive Förderung sowohl in der häuslichen Umgebung als auch im Kindergarten und ambulanten Fördereinrichtungen notwendig sei. Zudem sei auch eine weitere Betreuung durch das CI-Zentrum C. notwendig. Aus dem Befundbericht des es vom 24.05.2019 geht hervor, dass bei der Klägerin zwar eine beidseitige Versorgung mit CI erfolgt sei. Es bestehe jedoch eine Entwicklungsverzögerung. Die Entwicklungsretardierung und Hörminderung bestünden konstant, die sich daraus ergebenden Beschwerden und Probleme würden mit zunehmenden Alter in allen Lebensbereichen zunehmen.

Das H. in Nürnberg schreibt in seinem Bericht vom 19.06.2019, dass bei der Klägerin aufgrund der hochgradigen Hörbehinderung von einer verzögerten Lautsprachentwicklung auszugehen war. Durch frühzeitige Versorgung mit CI sowie regelmäßiger und intensiver Sprachförderung habe sich ihre Entwicklung im Bereich Wortschatz und Grammatik als ihrem "Hör-Alter" gut gezeigt. Hilfreich habe sich der Einsatz lautsprachunterstützender Gebärden erwiesen. Beim Vergleich mit ihrem Lebensalter liege die Klägerin lautsprachlich zwischen dem unteren Durchschnittsbereich, was als positiv einzuschätzen sei. Jedoch seien Sprachwahrnehmung und -verständnis für sie mit einem erhöhten Einsatz von Aufmerksamkeit und Konzentration verbunden. Eine lautsprachliche Kommunikation sei möglich, sofern sich ihr Kommunikationspartner auf sie einstelle und ihr Zeit gebe, Fragen und Äußerungen richtig zu verstehen und sich selbst laut sprachlich auszudrücken. Möglicherweise gebe es Vorteile in der psychosozialen Entwicklung durch erlernen der DGS. In jedem Fall biete das Erlernen der DGS einem gehörlosen Kind die Chance auf eine Teilhabe in beiden Kulturen, die der Hörenden und der Gehörlosen.

Das Gericht hat ferner Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Professor Dr. I.. Diese führt - nach vorheriger ambulanter Untersuchung der Klägerin - in seinem Gutachten vom 03.01.2020 aus, dass deren Höralter unter Berücksichtigung der postoperativen Heilungsphase und der notwendigen Einstellung der CIs mit etwa zweieinhalb Jahren anzusetzen sei. Aus der Anamneseerhebung mit entsprechenden Schilderungen der Kindesmutter geht hervor, dass der Klägerin das Hören und Verstehen bei gleichzeitig vorhandenen Geräuschen große Probleme bereite zum Beispiel bei der Fahrt mit der S-Bahn. "Völlig abgekoppelt", also ohne Möglichkeit zum Verstehen sei die Klägerin bei der Körperpflege, also beim Duschen und Baden, bei der sich die CIs nicht tragen und nutzen könne. Der mithilfe einer Logopädin erhobene Befund zum Sprachentwicklungsstand ergibt, dass das auditive Sprachverständnis altersentsprechend sei, ebenso der aktive Wortschatz. Insgesamt sei die Sprachentwicklung sowohl gemessen am Hör- als auch am Lebensalter altersgerecht. Der Gutachter erläutert, dass ein Kind mit einer angeborenen beidseitigen hochgradigen Schwerhörigkeit oder Taubheit auch bei sehr frühe Stellung der Diagnose und bei optimal konzipierter Therapie und Förderung weiterhin behindert sei. Diese Behinderung könne - trotz Versorgung mit CI - in unterschiedlichem Ausmaß altersabhängig unterschiedlichen Folgen für die Lebensgestaltung sowohl das Hören und Verstehen, das Sprachverstehen im Störgeräusch, das Richtungsgehör, die hörgerichtete Aufmerksamkeit und weitere hörabhängige höhere Funktionen wie die Lautanalyse und Lautdifferenzierung und auch das Gedächtnis betreffen, ebenfalls kann die Entwicklung expressiver lautsprachlicher Leistungen beeinträchtigt sein. Auch jenseits des Kindes- und Jugendalters bedürfe ein Patient - so auch die Klägerin - einer lebenslangen "Nachsorge" mit alters- und situationsabhängig unterschiedlichen Inhalten und Schwerpunkten. Das gilt so insbesondere auch für Kinder nach einer ein- oder doppelseitigen Cochlealmplantation wie bei der Klägerin. Die Messung bzw. audiometrische Bestimmung des Sprachverstehens auch im Störgeräusch sei in dieser Lebens- und auch Höraltersgruppe noch nicht mit standardisierten Messverfahren möglich; die von der Mutter der Klägerin berichteten Auffälligkeiten beim Sprachverstehen im Störgeräusch seien bei apparativ versorgten Schwerhörigkeiten selbst im Erwachsenenalter sehr häufig und bei (CI-Trägern im Kindesalter quasi die Regel, dafür brauche es kein messtechnische Bestätigung). Zudem sei zwar das bei Cl-Trägern in aller Regel auffällige Richtungsgehör bei der Klägerin nicht als prononciert auffällig geschildert worden. Dies sei jedoch am ehesten deren Alter geschuldet. Absehbar sei, dass das Richtungsgehör in mit dem Alter zunehmend komplexeren Kommunikationssituationen (Schule, Schulhof, Straßenverkehr) eine sehr viel größere Bedeutung bekommen wird. Zudem gebe es zwar für die hörgerichtete Aufmerksamkeit keine Messverfahren, in der gutachterlichen Untersuchungssituation seien dazu keine Auffälligkeiten bemerkt worden. Gleichwohl sei dieser Gesichtspunkt trotzdem bedeutsam: In der individuell zugewandten Situation der Sprachtestung mag die hörgerichtete Aufmerksamkeit unauffällig sein; anders werde sich das nach aller Erfahrung bei Kindern mit einer CI-Versorgung in der Gruppensituation z.B. im Kindergarten, auf dem Spielplatz, später in der Schule und auf dem Schulhof darstellen, zumal im Störgeräusch und in ungünstiger Raumakustik und bei komplexeren Inhalten wie z.B. der Vermittlung schulischen Wissens, so dass dann situativ unterschiedlich für die akustische Orientierung, das Erfassen konkreter Kommunikationsinhalte, des situativen Kontextes und auch bei der Wissensvermittlung andere Sinneseindrücke, konkret also die Nutzung visueller Eindrücke erforderlich sind.

Zusammenfassendführt der Gutachter aus, dass bei der Klägerin zwar derzeit bei dem Kind keine Störungen v.a. zentral auditiver Funktionen messbar belegt werden könnten, es seien aber eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit, des Richtungsgehörs für die Zukunft als relevant beeinträchtigend anzunehmen. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit des Erlernens der DGS. Das Erlernen der DGS kann zwar nicht als notwendig für den weiteren normalen Lautspracherwerb angesehen werden, wohl aber für die Sicherstellung der Kommunikationsfähigkeit in bestimmten Alltagssituationen (Störgeräusche, beim Baden, bei Ausfall der Geräte). Es ist hoch wahrscheinlich, dass sich eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit und des Richtungsgehörs trotz Versorgung mit CI ergibt. Bei einem späteren Erlernen der DGS ist die zu erreichende Kompetenz auf jeden Fall schlechter, als wenn die Klägerin jetzt die DGS erlernen würde.

Der Beklagte trägt zum Ergebnis des Gutachtens vor, dass im Gutachten eine hör- und lebensaltersgerechte Sprachentwicklung festgestellt worden sei. Dass es Situationen zum Beispiel Störgeräusche gäbe, in denen das Hören mit den CIs seine Grenzen habe, werde nicht bestritten. Für diese Situationen könnten der Klägerin gute Strategien für eine unterstützte Kommunikation aufgezeigt werden. So lasse sich zum Beispiel auch schon in der Vorschulförderung eine drahtlose Übertragungsanlage (FM-Anlage) implementieren. Diese böte eine sehr gute Ergänzung zum CI, um in akustisch schwierigen Situationen verstehen zu können. Die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sei bei der Klägerin durch die aktuelle Förderung in der Lautsprache mit lautsprachbegleitenden oder -unterstützenden Gebärden gut möglich. Der Kreis der ausschließlich mittels DGS kommunizierenden Menschen sei sehr klein und stelle aus Sicht des Beklagten keine umfangreiche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft der. Es bestünde kein klagbarer Anspruch auf einen gewünschten zusätzlichen DGS-Unterricht als Optimalversorgung, sondern lediglich ein Anspruch auf angemessene und notwendige Eingliederungshilfe.

Die Klägerin trägt zum Ergebnis des Gutachtens insbesondere vor, dass das Gutachten eindeutig die Erforderlichkeit des Lernens der DGS bestätigt. Überdies seien die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu beachten. Nach Art. 30 Abs. 4 UN-BRK hätten Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur. Mit Urteil vom 06.03.2012 habe das Bundessozialgericht entschieden (Az.: B 1 KR 10/11 R), dass das unmittelbar anwendbare UNkonventionsrechtliche Diskriminierungsverbot dem verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot behinderter Menschen entspreche und zum Beispiel Art. 30 Abs. 4 UN-BRK einen unmittelbaren Anspruch des Hilfesuchenden begründen würde. Ausgehend von der vorgenannten Grundsatzentscheidung des BSG könne die Klägerin ihr hier im Streit befindliches Begehren auf Anerkennung und Unterstützung eines baldigen täglichen Schulunterrichts in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) insbesondere auf Art. 24 Abs. 3c UN - BRK stützen, da die DGS nicht bloß als eine mögliche Brücke zur Lautsprache dienen soll bzw. dienen darf, sondern eine eigenständige Sprache ist. Diesbezüglich sei in Art. 24 Abs. 3c UN-BRK für Kinder mit einer Hörbehinderung festgehalten, dass ihnen "Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen (...), die für den Einzelnen am besten geeignet sind, sowie in einem Umfeld vermittelt wird, dergestalt sicherzustellen ist, das ihnen "die bestmögliche (...) Entwicklung gestattet".

Beide Beteiligte haben einer Entscheidung des Gerichts durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungssowie die Gerichtsakte verwiesen

Gründe

Die zulässige Klage ist weitgehend begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Eingliederungshilfe zum Erlernen der Gebärdensprache. Der Beklagte ist verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über ihren Antrag zu entscheiden und ihr dem Grunde nach die Leistungen zu gewähren.

I.)

Die zur Entscheidung berufene Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Beide Beteiligte haben zugestimmt, § 124 SGG.

II.)

Die Gesetzeslage hat sich für den hier zur Entscheidung stehenden Zeitraum ab Antragstellung bis zur Entscheidung der erkennenden Kammer durch das Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes mehrfach geändert, so dass die Grundsätze des sog. intertemporalen Rechts gelten. Werden danach materielle Anspruchsvoraussetzungen eines sozialrechtlichen Leistungsgesetzes geändert, gilt grundsätzlich das Versicherungsfall- bzw. Leistungsfallprinzip. Hiernach ist ein Rechtssatz nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Spätere Änderungen eines Rechtssatzes sind danach für die Beurteilung von vor seinem Inkrafttreten entstandenen Lebensverhältnissen unerheblich, es sei denn, das Gesetz erstreckt seine zeitliche Geltung auf solche Verhältnisse. Dementsprechend geht das Bundessozialgerichts (BSG) in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich die Entstehung und der Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche bzw. Rechtsverhältnisse grundsätzlich nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit des Vorliegens der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat. Das Versicherungsfall- bzw. Leistungsfallprinzip ist allerdings nicht anzuwenden, soweit später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt. Dann kommt der Grundsatz der sofortigen Anwendung des neuen Rechts auch auf nach altem Recht entstandene Rechte und Rechtsverhältnisse zum Tragen. Welcher der genannten Grundsätze des intertemporalen Rechts zur Anwendung gelangt, richtet sich letztlich danach, wie das einschlägige Recht ausgestaltet bzw. auszulegen ist (BSG, Urteil vom 5. März 2014, Az. B 12 R 1/12 R, juris Rn. 21 mit weiteren Nachweisen; Blüggel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., Stand: 1. Februar 2020, § 43a SGB XII, Rn. 9).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Rechtslage nach den §§ 53 ff. SGB XII a. F. zu beurteilen, soweit die Klägerin für diesen Zeitraum die Übernahme der Kosten des Gebärdensprachkurses begehrt. Für den Zeitraum ab dem 01.01.2020 ergibt sich der Leistungsanspruch aus den §§ 76 Abs. 1, 99, 113 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - SGB IX - (in der ab 01.01.2020 geltenden Fassung) i. V. m. §§ 53 Abs. 1 und 2 SGB XII und den §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfeverordnung (jeweils in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung).

Nach der sowohl nach altem Recht als auch nach neuem Recht kraft Verweisung geltenden Regelung des § 53 Abs. 1 SGB XII a.F. erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches (SGB IX) wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Für die Leistungen zur Teilhabe gelten gemäß § 53 Abs. 4 Satz 1 SGB XII a.F. die Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch, soweit sich aus diesem Buch und den aufgrund dieses Buchs erlassenen Rechtsvorschriften nichts Abweichendes ergibt. Die Klägerin hat nach den vorstehend zitierten Regelungen sowohl nach altem wie neuem Recht dem Grunde nach Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Hausgebärdensprachkurs. Im Einzelnen:

1.) Die Klägerin erfüllt die personenbezogenen Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F., was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Sie gehört zu den Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt sind bzw. von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind und hat - was zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig ist - dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß den §§ 53, 54 SGB XII a.F. bzw. den §§ 76 Abs. 1, 99, 113 Abs. 1 SGB IX n.F. i. V. m. §§ 53 Abs. 1 und 2 SGB XII und den §§ 1 bis 3 der Eingliederungshilfeverordnung (jeweils in der bis 31.12.2019 geltenden Fassung).

2.) Der begehrte Hausgebärdensprachkurs ist auch eine Leistung der Eingliederungshilfe. Zwar stellt dieser nach Auffassung der erkennenden Kammer keine Leistung nach §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX a.F. und nach §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 16 Nr. 2 EinglHV bzw. nach § 113 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX n.F. dar. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX a.F. bzw. § 113 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX n.F stellen Hilfen zur Verständigung mit der Umwelt Leistungen zur Teilhabe dar. In § 57 SGB IX a.F. bzw. § 82 SGB IX n.F sind diese Leistungen näher beschrieben und erfordern ausweislich des Gesetzeswortlautes einen besonderen Anlass (vgl. zur neuen Regelung des § 82 SGB IX, BeckOK SozR/Jabben, 57. Ed. 1.6.2020, SGB IX § 82 Rn. 3). Diesbezüglich wird von Klägerseite ausgeführt, dass die Kenntnis der DGS die Klägerin zur Kommunikation mit ihren Eltern befähigen würde, insbesondere in den Situationen, in denen die CIs nicht ausreichten oder gar versagten; hierbei handelt es sich nach Auffassung der erkennenden Kammer jedoch in dieser Allgemeinheit und Pauschalität nicht um Hilfen "aus einem besonderen, konkret gegebenem Anlass", auf den sich diese Hilfe auch passgenau bezieht. Der angestrebte Hausgebärdensprachkurs vermittelt der Klägerin mit den DGS-Kenntnissen allgemeine Fähigkeiten, die sich nicht auf einen konkreten, besonderen Anlass begrenzen lassen, sondern den Erwerb einer eigenständigen Sprache darstellen, die sich grundsätzlich, wie jede andere Sprache auch, auf eine nicht von vornherein begrenzbare Zahl von Kommunikationsanlässen anwenden lässt. Vor diesem Hintergrund kann nicht auf §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX a.F. und nach §§ 53, 54 Abs. 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 16 Nr. 2 EinglHV bzw. § 113 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX n.F. zurückgegriffen werden.

Allerdings ist die begehrte Leistung von der Generalklausel des § 55 Abs. 1 SGB IX a.F. bzw. § 113 Abs. 1 SGB IX n.F. umfasst. Hierbei handelt es sich um eine generalklauselartige Anspruchsnorm. Zum einen ergibt sich dies aus dem Wortlaut des Abs. 2, der nur Regelbeispiele aufführt, demzufolge auch andere Leistungen möglich sind, die sich nicht bereits aus den Regelbeispielen ergeben. Dies entspricht auch zum anderen der Vielfältigkeit der Teilhabebeschränkungsmöglichkeiten und der Vielfältigkeit der Möglichkeiten, diese zu beheben, weswegen eine Generalklausel auch erforderlich ist.

3.) Schließlich sind auch die weiteren Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruches in Form der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme erfüllt. Der Hausgebärdensprachkurs ist zum Erlernen der DGS offensichtlich geeignet Er ist auch erforderlich. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit gelten folgende Grundsätze: Durchzuführen ist eine Prüfung der Erforderlichkeit in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles (konkrete Erforderlichkeit). Denn dem Merkmal der Erforderlichkeit liegt ein individualisiertes Förderverständnis zugrunde, das eine am Einzelfall orientierte, individuelle Beurteilung verlangt (vgl. zum Ganzen: BSG, Urteil vom 22.03.2012, Az. B 8 SO 30/10 R, Rn. 21 BAYERN.RECHT; BSG, Urteil vom 09.12.2016, Az. B 8 SO 8/15 R, Rn. 26 BAYERN.RECHT, jeweils m.w.N.) Eine Eingliederungshilfemaßnahme ist erforderlich, wenn sie aufgrund der Behinderung im konkreten Fall geboten ist. Die Prüfung der Erforderlichkeit setzt voraus, dass die begehrte Maßnahme nicht alternativlos ist, das heißt, dass es mehrere geeignete Maßnahmen gibt. Besteht nur eine geeignete Maßnahme, ist diese denknotwendig auch erforderlich, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit kann dann nur noch auf der Stufe der Angemessenheit erfolgen (vgl. zur gestuften Verhältnismäßigkeitsprüfung statt vieler Tammen in Berlit / Conradis / Sartorius, Existenzsicherungsrecht,.2. Aufl. 2013, Kap. 14 Rn 16 ff.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Durchführung des DGS - Kurses erforderlich, da keine andere bzw. besser Möglichkeit ersichtlich ist, um den angestrebten Zweck - hier die Erfüllung der Zwecke der Eingliederungshilfe - zu erreichen. Die Kammer stützt sich hierbei auf das eingeholte Gutachten des Prof. Dr. I.:

Der Gutachter führt aus, dass einer Sprachentwicklungsstörung der Klägerin betreffend die Lautsprache zwar nicht vorliege. So sei die Sprachentwicklung gemessen am Hör- als auch am Lebensalters altersgerecht. Allerdings sei das komplementäre Erlernen der DGS erforderlich. Er führt aus, dass die Behinderung bei der Klägerin - trotz Versorgung mit CI - in unterschiedlichem Ausmaß altersabhängig unterschiedlichen Folgen für die Lebensgestaltung sowohl das Hören und Verstehen, das Sprachverstehen im Störgeräusch, das Richtungsgehör, die hörgerichtete Aufmerksamkeit und weitere hörabhängige höhere Funktionen wie die Lautanalyse und Lautdifferenzierung und auch das Gedächtnis betreffen, ebenfalls kann die Entwicklung expressiver lautsprachlicher Leistungen beeinträchtigt sein. Auch jenseits des Kindes- und Jugendalters bedürfe ein Patient - so auch die Klägerin - einer lebenslangen "Nachsorge" mit alters- und situationsabhängig unterschiedlichen Inhalten und Schwerpunkten. Das gelte so insbesondere auch für Kinder nach einer ein- oder doppelseitigen Cochlealmplantation wie bei der Klägerin. Die Messung bzw. audiometrische Bestimmung des Sprachverstehens auch im Störgeräusch sei in dieser Lebens- und auch Höraltersgruppe noch nicht mit standardisierten Messverfahren möglich; die von der Mutter der Klägerin berichteten Auffälligkeiten beim Sprachverstehen im Störgeräusch seien bei apparativ versorgten Schwerhörigkeiten selbst im Erwachsenenalter sehr häufig und bei CI-Trägern im Kindesalter quasi die Regel, dafür brauche es keine messtechnische Bestätigung. Zudem sei zwar das bei Cl-Trägern in aller Regel auffällige Richtungsgehör bei der Klägerin nicht als prononciert auffällig geschildert worden. Dies sei jedoch am ehesten deren Alter geschuldet (noch nicht elaborierten selbständigen sozialen Situationen). Absehbar sei, dass das Richtungsgehör in mit dem Alter zunehmend komplexeren Kommunikationssituationen (Schule, Schulhof, Straßenverkehr) eine sehr viel größere Bedeutung bekommen werde.

Zudem gebe es zwar für die hörgerichtete Aufmerksamkeit keine Messverfahren, in der gutachterlichen Untersuchungssituation seien dazu keine Auffälligkeiten bemerkt worden. Gleichwohl sei dieser Gesichtspunkt trotzdem bedeutsam: In der individuell zugewandten Situation der Sprachtestung mag die hörgerichtete Aufmerksamkeit unauffällig sein; anders werde sich das nach aller Erfahrung bei Kindern mit einer CI-Versorgung in der Gruppensituation z.B. im Kindergarten, auf dem Spielplatz, später in der Schule und auf dem Schulhof darstellen, zumal im Störgeräusch und in ungünstiger Raumakustik und bei komplexeren Inhalten wie z.B. der Vermittlung schulischen Wissens, so dass dann situativ unterschiedlich für die akustische Orientierung, das Erfassen konkreter Kommunikationsinhalte, des situativen Kontextes und auch bei der Wissensvermittlung andere Sinneseindrücke, konkret also die Nutzung visueller Eindrücke erforderlich seien.

Zusammenfassend führt der Gutachter aus, dass bei der Klägerin zwar derzeit bei dem Kind keine Störungen v.a. zentral auditiver Funktionen messbar belegt werden könnten, es seien aber eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit, des Richtungsgehörs für die Zukunft als relevant beeinträchtigend anzunehmen. Hieraus ergebe sich die Notwendigkeit des Erlernens der DGS. Das Erlernen der DGS kann zwar nicht als notwendig für den weiteren normalen Lautspracherwerb angesehen werden, wohl aber für die Sicherstellung der Kommunikationsfähigkeit in bestimmten Alltagssituationen (Störgeräusche, beim Baden, bei Ausfall der Geräte). Es ist hoch wahrscheinlich, dass sich eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit und des Richtungsgehörs trotz Versorgung mit CI ergibt. Bei einem späteren Erlernen der DGS ist die zu erreichende Kompetenz auf jeden Fall schlechter, als wenn die Klägerin jetzt die DGS erlernen würde.

Ausgehend von diesen gutachterlichen Feststellungen ist unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks der Eingliederungshilfe zu hinterfragen, ob die bei der Klägerin vorhandene Behinderung bzw. deren Folgen mit der DGS beseitigt oder gemildert werden kann, um ihr insbesondere die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Hierbei ist - wie eingangs dargestellt - ein individueller und personenzentrierter Maßstab zugrunde zu legen. Für die Erforderlichkeit des komplementären Erlernens der DGS sprechen folgende Gesichtspunkte:

> Kommunikation im Störgeräusch trotz CI (z.B. mit den Eltern im Zug, bei Lärm) nicht möglich

> Keine Kommunikation z.B. beim Baden, Schwimmbadbesuch (z.B. auch bei Durchführung eines Schwimmkurses)

> Keine Kommunikation bei Ausfall beider CIs, z.B. aufgrund eines Sturzes

> Hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit und des Richtungsgehörs trotz CIs ergibt Die Klägerin ist also in den dargestellten Situationen auf Kommunikation angewiesen. Es ist nicht ersichtlich, wie eine Kommunikation anderweitig erfolgen soll, wenn die CIs entweder nicht getragen werden (z.B. beim Baden) oder bei Ausfall derselbigen. Hinzu kommt, dass nach den Feststellungen des Gutachters eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben ist, dass sich - trotz CI-Versorgung - eine Einschränkung des Sprachverstehens im Störgeräusch, der hörgerichteten Aufmerksamkeit und des Richtungsgehörs eintritt. Es mag zwar sein, dass die Klägerin im Alltag in normalen Situationen mit den Eltern in der Lautsprache kommunizieren kann. Dies ändert jedoch nichts an der Frage, wie die Kommunikation in den vorstehend dargelegten Situationen anders als durch DGS sichergestellt werden soll. Hieraus ergibt sich nach Auffassung der erkennenden Kammer eine nicht unwesentliche Beschränkung der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Denn deren Grundvoraussetzung ist die zumindest altersgerechte Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Menschen. Das Ergebnis des Gutachtens wird im Übrigen auch in einem weiteren Gesichtspunkt gestützt durch den Bericht des Zentrums für Hörgeschädigte vom 19.06.2019. Hieraus geht hervor, dass trotz CI-Versorgung Sprachwahrnehmung und -verständnis für die Klägerin mit einem erhöhten Einsatz von Aufmerksamkeit und Konzentration verbunden ist. Gerade vor diesem Hintergrund gilt es auch zu bedenken, dass es der Klägerin zu Hause möglich sein soll, "Hörpausen" zu nehmen und in der DGS mit den Eltern zu kommunizieren. Wenn und soweit der Beklagte ausführt, dass die DGS von nur ca. 200.000 Menschen in Deutschland beherrscht würde, so dass es eher unwahrscheinlich sei, dass die Klägerin außerhalb des Elternhauses in der DGS überhaupt kommunizieren kann, so vermag der Beklagte mit dieser Argumentation nicht durchzudringen. Denn gerade die Kommunikation im Rahmen des Eltern-Kind-Verhältnisses ist wesentlicher Ausfluss des kindlichen Teilhabeanspruchs. Gerade im Kindesalter wird außerhalb des Kindergartens bzw. der Schule überwiegend mit den Eltern kommuniziert. Gerade die Möglichkeit, mit der nächsten Bezugspersonen zu kommunizieren ist wesentlicher Bestandteil des Eltern-Kind-Verhältnisses. Auch gilt es abschließend zu beachten, dass hier zwar kein Anspruch der Eltern auf Durchführung eines DGS-Kurses im Raum steht (vgl. hierzu ablehnend LSG Baden-Württemberg, aaO), allerdings stünde dem Anspruch vorliegend nicht entgegen, dass neben der Klägerin auch deren Familienangehörige mitunterrichtet würden. Zwar hat das LSG Baden-Württemberg, aaO, entschieden, dass Eingliederungshilfe an sich nur der Leistungsberechtigte selbst beanspruchen kann, Dritte (wie beispielsweise die Eltern) nur dann, wenn dies positivrechtlich geregelt sei. Dem vom LSG entschiedenen Fall lag aber die Konstellation zugrunde, dass ausschließlich die Eltern einen solchen Hausgebärdensprachkurs erhalten sollten. Allerdings unterscheidet sich die vorliegende Konstellation davon insofern, als dass nicht die Eltern der Klägerin, sondern vor allem diese selbst an diesem Kurs teilnehmen und DGS überhaupt erlernen soll. Nachdem damit Adressatin der Leistung die Klägerin und damit auch die Leistungsberechtigte selbst ist, kann nach Auffassung des Gerichts die weitere mögliche Teilnahme anderer Familienangehöriger nicht zu einem Leistungsausschluss für die Klägerin selbst führen.

Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die Klägerin hörbehinderungsbedingt und trotz Hilfsmittelversorgung mittels CI und daran anknüpfender medizinischer Rehabilitation und interdisziplinärer Frühförderung sowie sonstiger, bereits ergriffener Eingliederungshilfemaßnahmen, nach wie vor wesentlich in ihrer Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt ist, ohne dass vorrangige Leistungen ersichtlich wären neben den bereits ergriffenen, um dies zu beseitigen.

4.) Unabhängig davon, ob die UN-BRK, insbesondere vorliegend die Artt. 30 Abs. 4, 24 UN-BRK einen unmittelbaren und klagbaren Anspruch auf Erlernen der DGS vermittelt (dagegen: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 18.07.2013, Az.: L 7 SO 4642/12) sind jedenfalls deren Wertungen bezüglich der Frage der Erforderlichkeit der DGS zu berücksichtigen. Das UN-Behindertenrechtsübereinkommen ist in Deutschland am 29. März 2009 in Kraft getreten, nachdem der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates dem Übereinkommen mit Vertragsgesetz vom 21. Dezember 2008 (BGBl. II S. 1419) zugestimmt hatte. Mit dem Vertragsgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland das völkerrechtliche Übereinkommen verbindlich übernommen. Es ist damit gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG wirksamer Bestandteil des Bundesrechts geworden, soweit dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die materiellen Regelungen zusteht. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu Kammerbeschluss vom 30. Januar 2020, Az. 2 BvR 1005/18 -, Rn. 40, juris aus (Unterstreichungen eingefügt):

Völkervertragliche Bindungen haben innerstaatlich zwar nicht den Rang von Verfassungsrecht (vgl. für die EMRK BVerfGE 111, 307 <317>). Der UN-Behindertenrechtskonvention hat der Bundesgesetzgebermittels förmlichen Gesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht sie damit im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 141, 1 <19 Rn. 45>; 142, 313 <345 Rn. 88>; 149, 293 <329 f. Rn. 90>). Gleichwohl besitzt sie verfassungsrechtliche Bedeutung als Auslegungshilfe für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 142, 313 <345 Rn. 88>). Ihre Heranziehung ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das einer Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Deutsche Rechtsvorschriften sind nach Möglichkeit so auszulegen, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht (vgl. BVerfGE 111, 307 <317 f.>; 141, 1 <27 Rn. 65>).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind daher vorliegend die Wertungen der UN-BRK im Rahmen der Auslegung des Begriffes der Erforderlichkeit des begehrten DGS-Kurses heranzuziehen:

Nach Art. 24 Abs. 3 b und c UN-BRK ermöglichen die Vertragsstaaten Menschen mit Behinderungen, lebenspraktische Fertigkeiten und soziale Kompetenzen zu erwerben, um ihre volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft zu erleichtern. Zu diesem Zweck ergreifen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen; unter anderem erleichtern sie das Erlernen der Gebärdensprache und die Förderung der sprachlichen Identität der Gehörlosen (Abs. 3b) und stellen sicher, dass unter anderem gehörlosen Menschen, insbesondere Kindern, Bildung in den Sprachen und Kommunikationsformen und mit den Kommunikationsmitteln, die für den Einzelnen am besten geeignet sind, sowie in einem Umfeld vermittelt wird, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet (Abs. 3 c UN-BKR). Im Falle der Klägerin gilt es zu beachten, dass die CIs reine Hilfsmittel sind. Zwar ermöglichen diese der Klägerin den Lautspracheerwerb. Die Klägerin hat hiervon auch nach dem bisherigen Entwicklungsstand sehr gut profitiert. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Klägerin ohne diese Hilfsmittel der Welt der Gehörlosen angehört. Deren natürliche Sprache ist die Gebärdensprache. Gerade dann, wenn die CIs in den unter Punkt 3. genannten Situationen nicht genutzt werden können, diese ausfallen oder es zum Beispiel aus irgendwelchen Gründen zu einer Unverträglichkeit (auch wenn dies recht selten vorkommen mag), muss es der Klägerin möglich sein, in ihrer natürlichen Sprache, der DGS, die Teil ihrer Identität ist bzw. sein sollte, zu kommunizieren. Die Bundesrepublik ist aufgrund der Vorgaben des Art. 24 Abs. 3b und c UN-BRK gehalten, dass das Erlernen der DGS durch geeignete Maßnahmen, also erleichtert wird und dass die sprachliche Identität der Gehörlosen gefördert wird. Dies lässt sich ohne Weiteres durch den begehrten DGS-Kurs erreichen. Nach Art. 30 Abs. 4 UN-BKR haben Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung ihrer spezifischen kulturellen und sprachlichen Identität, einschließlich der Gebärdensprachen und der Gehörlosenkultur. Insoweit würden die Vorgaben der UN-BKR ausgehöhlt, würde man einem Gehörlosen unter Berufung auf einen guten lautsprachlichen Entwicklungsstand die Erforderlichkeit des Erlernens der DGS als natürliche Sprache absprechen.

Die erkennende Kammer sieht sich bei dieser auf das zu befriedigende Grundbedürfnis des Erlernens der natürlichen Sprache von Gehörlosen gerichteten grundrechtsorientierten Auslegung des Begriffs der Erforderlichkeit im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG zum Paradigmenwechsel, den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit sich gebracht hat, und der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (zuletzt BVerfG, aaO, Rn. 35 ff.) Der Anspruch auf das Erlernen der DGS zum Behinderungsausgleich kann daher nicht davon abhängig gemacht werden, wie gut die lautsprachliche Entwicklung des jeweiligen Betroffenen aufgrund der CI-Versorgung. Auch wenn diese - wie im Falle der Klägerin - gemessen am Hör- als auch am Lebensalters altersgerecht ist, kommt ein Anspruch auf Erlernen der DGS im notwendigen Umfang bereits dann in Betracht, wenn diese wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung in den Situationen (dazu siehe oben) verschafft, in denen die Nutzung der CIs nicht möglich sind.

5.) Nachdem der Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch abgelehnt hat, fehlt es an der erforderlichen Ermessenausübung zu Art und Weise sowie Höhe der Eingliederungshilfe. Er ist daher zur Neubescheidung zu verurteilen. Denn bei Leistungen nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. hat der Sozialhilfeträger gemäß § 17 Abs. 2 SGB XII über Art und Ausmaß der Leistungserbringung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (LSG Thüringen, Urteil vom 23.05.2012, Az. L 8 SO 640/09 mwN), auch wenn das "Ob" der Leistung nicht in seinem Ermessen steht. Dieser Spielraum entfällt nur dort, wo das Gesetz selbst eine bestimmte Art der Leistungserbringung oder ein bestimmtes Maß der Leistung vorschreibt (Hohm in Schellhorn/ Schellhorn/Hohm, 18. Aufl. 2010, § 17 SGB XII, Rn. 77) oder eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. verlangt eine Entscheidung im Einzelfall und schließt daher gerade nicht das Ermessen über Art und Ausmaß der Leistungserbringung aus. Das Ermessen des Beklagten ist aber vorliegend bezüglich des beantragten Kurses nicht auf Null reduziert, da es ihm obliegt, bei welchem Maßnahmeträger, zu welchen finanziellen Bedingungen der DGS-Kurs und in welchem wöchentlichem Stundenumfang durchgeführt wird. Er war daher zur Neubescheidung bei dem Grunde nach gegebenem Anspruch auf Eingliederungshilfe zu verurteilen.

Allerdings weist die Kammer darauf hin, dass den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zuzugestehen ist, dass der Beklagte schnellstmöglich mit der Ararat-Akademie (oder einem anderen Träger) nunmehr einen Vertragsabschluss herbeiführen sollte. Der in Ansatz gebrachte Stundensatz von 75,00 € ist vor dem Hintergrund der Regelung des § 75 Abs. 3 JVEG durchaus als angemessen zu betrachten. Der Beklagte wird daher noch zu prüfen haben, wie viele Unterrichtsstunden pro Woche zum Erlernen der Gebärdensprache erforderlich sind.

Allerdings weist das Gericht darauf hin, dass den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin zuzugestehen ist, dass der Beklagte schnellstmöglich mit der Ararat-Akademie (oder einem anderen Träger) nunmehr einen Vertragsabschluss herbeiführen sollte. Der in Ansatz gebrachte Stundensatz von 75,00 € ist vor dem Hintergrund der Regelung des § 75 Abs. 3 JVEG durchaus als angemessen zu betrachten. Der Beklagte wird daher noch zu prüfen haben, wie viele Unterrichtsstunden pro Woche zum Erlernen der Gebärdensprache erforderlich sind.

III.)

Eine Beiladung des zuständigen Jugendamtes war vorliegend nicht erforderlich, § 75 Abs. 2 SGG, da diese hier nicht als leistungspflichtig in Betracht kommt. Bei der Klägerin liegt neben der Hörbehinderung keine seelische Behinderung vor, so dass bereits unter diesem Gesichtspunkt Eingliederungshilfe nach § 35a Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) nicht in Betracht kommt. Nachdem es sich vorliegend auch nicht um einen Anspruch der Personensorgeberechtigten handelt, scheidet eine Leistungspflicht des Jugendamtes nach § 27 SGB VII aus.

Ebenfalls war eine Beiladung der Krankenkasse nicht erforderlich. Vorliegend scheidet ein Anspruch nach §§ 27, 32 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V - schon deshalb aus, weil es sich bei dem Gebärdensprachkurs nicht um ein verordnungsfähiges Heilmittel handelt. Nach § 4 Abs. 1 der Heilmittel-Richtlinie in der zum 01.10.2020 in Kraft getretenen Fassung sind nur die im Heilmittelkatalog (Zweiter Teil der Heilmittel-Richtlinie) genannten Heilmittel verordnungsfähig. Nach § 4 Abs. 4 Heilmittel-Richtlinie dürfen neue Heilmittel nur verordnet oder gewährt werden, wenn der GBA zuvor in der Richtlinie den therapeutischen Nutzen anerkannt und Empfehlungen für die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung abgegeben hat. Nach Ziffer II.2.3 des Heilmittelkatalogs ist bei Störungen der Sprache bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit als Heilmittel Sprachtherapie verordnungsfähig. Ziel der Sprachtherapie ist die "Ausbildung der Lautsprache zur sprachlichen Kommunikation sowie der Erhalt der Lautsprache". Die Gebärdensprache dient weder der Ausbildung noch dem Erhalt der "Lautsprache", fällt damit bereits nicht unter den vorstehenden Tatbestand.

IV.)

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

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