VerfGH des Landes Berlin, Beschluss vom 17.03.2021 - 23 A/21
Fundstelle
openJur 2021, 14633
  • Rkr:

Das Akteneinsichtsrecht eines Minderjährigen bei einem Antrag auf Entlassung des Amtsvormunds ist Folge des Rechts aus § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG in Verbindung mit § 1887 Abs. 2 BGB. Davon ist auch das Recht auf Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts für die Akteneinsicht erfasst.

Tenor

Dem Antragsteller ist Akteneinsicht durch seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt in die Akten des Verfahrens beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg - Aktenzeichen 152 F 12170/20 - zu gewähren.

Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Das Land Berlin hat dem Antragsteller seine notwendigen Auslagen zuerstatten.

Gründe

I.

Der nach seinen Angaben 2004 geborene und aus Gambia stammende Antragsteller wendet sich gegen die Ablehnung von Akteneinsicht durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt in einem Vormundschaftsverfahren.

Der Antragsteller beantragte unter dem 28. Oktober 2020 beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg, ihm Herrn Dr. Schönfeld als Vormund zu bestellen und das Jugendamt als Ergänzungspfleger zu entlassen. Herr Dr. Schönfeld erklärte dazu schriftlich, dass er mit der Übernahme der Vormundschaft einverstanden sei.

Unter dem 29. Oktober 2020 nahmen die leitende Ärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Frau Dr. Günther und die Gemeindepädagogin Frau Urner Stellung. Beim Antragsteller sei eine doppelseitige Lungentuberkulose festgestellt worden, er sei als dauerhaft schwerbeschädigt einzustufen. Sein Zustand erfülle zudem die Kriterien einer inkompletten posttraumatischen Belastungsstörung. Wegen der Krankheitssituation sowie einer ungesicherten rechtlichen und sozialen Situation bestehe eine dringende Notwendigkeit zu einer kompetenten Einzelvormundschaft. Angesichts der ausgiebigen Vorerfahrungen von Herrn Oberarzt Dr. Schönfeld in der Bewältigung komplexer Probleme unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter würden sie den Antrag auf Einzelvormundschaft unterstützen.

Anschließend wurde der Verein Xenion e. V. zum Vormund des Antragstellers bestellt.

Der Antragsteller bevollmächtigte daraufhin schriftlich einen Rechtsanwalt in dem Vormundschaftsverfahren. Dieser beantragte beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg Einsicht in die Vormundschaftsakte.

Auf eine Nachfrage des Amtsgerichts nach einer Vollmacht durch den gesetzlichen Vertreter erklärte der Anwalt, dass eine solche Vollmacht nicht vorliege und nicht erforderlich sei. Der Antragsteller mache ein seine Person betreffendes Recht geltend, nämlich jenes aus § 1887 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -. Er sei folglich gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - FamFG - verfahrensfähig und somit auch berechtigt, zur Wahrnehmung seiner Rechte einen Bevollmächtigten zu bestellen.

Das Amtsgericht wies den Antrag mit Beschluss vom 26. Januar 2021 - 152 F 12170/20 - zurück. Der Jugendliche habe den Rechtsanwalt nicht wirksam beauftragt. Zwar sei der beschränkt Geschäftsfähige bereits ab Vollendung des 14. Lebensjahres verfahrensfähig gemäß § 9 Nr. 3 FamFG, soweit er in seine Person betreffenden Verfahren ein ihm nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend mache. Dies sei hier aber nicht der Fall. Im vorliegenden Verfahren gehe es allein um die vorläufige Anordnung von Vormundschaft. Es gehe nicht um ein dem Jugendlichen nach dem bürgerlichen Recht zustehendes Recht, sondern um eine von Amts wegen im Interesse des Kindes zu treffende Entscheidung.

Die durch den Anwalt erhobene Anhörungsrüge verwarf das Amtsgericht mit Beschluss vom 10. Februar 2021. In der Entscheidung erklärte das Gericht, dem Antragsteller oder seinem gesetzlichen Vertreter sei ohne weiteres Akteneinsicht zu gewähren.

Am 2. März 2021 ist das Eilrechtsschutzersuchen beim Verfassungsgerichtshof eingegangen, mit dem der Antragsteller begehrt, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung Akteneinsicht durch seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt in die Akten des Verfahrens beim Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg - 152 F 12170/20 - zu gewähren.

Zugleich hat er Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts erhoben.

Er ist der Auffassung, die Beschlüsse verletzten ihn in seinen Rechten auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB - und auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 15 Abs. 4 Satz 1 sowie in seinen Rechten als Kind aus Art. 13 Abs. 1 Satz 2 VvB. Der Antragsteller habe zeitnah in verschiedenen Lebensbereichen (Aufenthalt, Schule, Wohnung) wichtige und dringliche Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus könnten jederzeit im gesundheitlichen Bereich wichtige Entscheidungen erforderlich werden. Es sei sein Wunsch und Recht, diese Entscheidungen in Abstimmung mit dem von ihm benannten Einzelvormund zu treffen. Dafür sei es erforderlich, dass die durch die Akteneinsicht zugänglich gemachten Informationen zur Entscheidung über das weitere Verfahren baldmöglichst zu Verfügung stehen.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach § 31 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - kann der Verfassungsgerichtshof im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Wegen der meist weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslösen kann, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 VerfGHG ein strenger Maßstab anzulegen (Beschlüsse vom 16. März 2018 - VerfGH 41 A/18 -, Rn. 14 und vom 2. August 2019 - VerfGH 112 A/19 und 114 A/19 -, jeweils Rn. 10). Dabei müssen die Gründe, welche für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, grundsätzlich außer Betracht bleiben, es sei denn, das Ergebnis der Verfassungsbeschwerde liegt auf der Hand.

2. a. Ein wichtiger Grund im Sinn von § 31 Abs. 1 VerfGHG ist hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht.

Dass für einen Minderjährigen jederzeit Entscheidungen notwendig werden können, die nur ein gesetzlicher Vertreter, hier also ein Vormund, treffen darf, ist offenkundig, umso mehr im Fall eines Geflüchteten. Es ist zudem dargelegt und durch die ärztliche Stellungnahme glaubhaft gemacht, dass solche Entscheidungen im Hinblick auf Krankenbehandlungen zur Zeit naheliegen. Auch kann dem Antragsteller das Hinwirken auf die beantragte Bestellung seines gewünschten Vormunds erschwert werden, wenn er nicht mit Hilfe eines Rechtsanwalts Einsicht in die Vormundschaftsakte zu nehmen vermag.

b. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet, soweit sie sich gegen die Ablehnung der anwaltlichen Akteneinsicht richtet.

aa. Die Zulässigkeit hindert insbesondere nicht das Gebot der Rechtswegerschöpfung aus § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG. Gegen die hier erfolgte Ablehnung der Akteneinsicht gemäß § 13 Abs. 7 FamFG ist für Verfahrensbeteiligte wie den Antragsteller der fachgerichtliche Rechtsweg nach den Regeln des FamFG nicht eröffnet (Pabst, in: Münchener Kommentar, FamFG, 2018, § 13 Rn. 13 m. w. N.). Die begehrte Akteneinsicht ist auch erforderlich, um das Verfahren zur Bestellung des vom Antragsteller ausgewählten Vormunds sinnvoll zu führen. Es ist insofern nicht ausgeschlossen, dass die Ablehnungsentscheidung einen bleibenden rechtlichen Nachteil für den Antragsteller zur Folge hat, der sich später nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr vollständig beheben lässt (vgl. Beschluss vom 19. März 2013 - VerfGH 166/12 - Rn. 8).

bb. Die Begründetheit ergibt sich daraus, dass die angegriffene Ablehnung der Akteneinsicht durch einen bevollmächtigten Anwalt offenkundig gegen das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 1 VvB verstößt.

Vom Anspruch auf rechtliches Gehör erfasst, ist das Recht auf Akteneinsicht - auch durch einen Prozessbevollmächtigten (Beschluss vom 28. August 2000 - VerfGH 104/98 - unveröffentlicht; zitiert in Driehaus/Quabeck, in: Driehaus (Hg.), Verfassung von Berlin, 2020, Art. 15 Rn. 9).

§ 13 Abs. 1 FamFG schränkt das Recht auf Akteneinsicht nur insoweit ein, als schwerwiegende Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten entgegenstehen. Solche Interessen sind hier nicht ersichtlich und auch vom Amtsgericht nicht angenommen; es hat vielmehr im Beschluss über die Anhörungsrüge ausdrücklich dem Antragsteller selbst Akteneinsicht gewährt.

Dem Recht, die Akteneinsicht durch einen Rechtsanwalt wahrzunehmen, steht hier auch nicht entgegen, dass der Antragsteller im Verfahren als sechzehnjähriger Minderjähriger geführt wird.

Nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG sind zwar die nach bürgerlichem Recht beschränkt Geschäftsfähigen, soweit sie, wie der Antragsteller, das 14. Lebensjahr vollendet haben nur verfahrensfähig, wenn sie in einem Verfahren, das ihre Person betrifft, ein ihnen nach bürgerlichem Recht zustehendes Recht geltend machen.

Die Auffassung des Amtsgerichts, dass es in dem Verfahren nicht um ein solches Recht gehe, sondern um eine von Amts wegen im Interesse des Kindes zu treffende Entscheidung, ist aber nicht vertretbar. Der Antragsteller hat in dem Verfahren einen Antrag auf Bestellung des von ihm benannten Einzelvormunds und Entlassung des Jugendamts als Ergänzungspfleger gestellt. Nachdem anschließend ein Verein als Vormund bestellt wurde, erwägt er, die Bestellung des Einzelvormunds weiterzuverfolgen. Damit würde er weiter sein Recht aus § 1887 Abs. 2 Satz BGB geltend machen. Nach § 1887 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht das Jugendamt oder den Verein als Vormund zu entlassen und einen anderen Vormund zu bestellen, wenn dies dem Wohl des Mündels dient und eine andere als Vormund geeignete Person vorhanden ist. Nach Abs. 2 ergeht die Entscheidung von Amts wegen oder auf Antrag. Zum Antrag ist berechtigt der Mündel, der das 14. Lebensjahr vollendet hat.

Das Akteneinsichtsrecht ist offenkundige Folge des Rechts aus § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG in Verbindung mit § 1887 Abs. 2 BGB. Es muss dem Verfahrens- bzw. Antragsberechtigten möglich sein, sich durch Akteneinsicht zu informieren und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob und ggf. wie er in dem Verfahren vorgeht. Im Beschluss über die Anhörungsrüge hat das Amtsgericht dem Antragsteller selbst dieses Recht auch bereits zugestanden.

Danach scheitert das Akteneinsichtsrecht nach Auffassung des Amtsgerichts nur daran, dass der Antragsteller nicht wirksam einen Rechtsanwalt beauftragen könne. Diese Auffassung widerspricht § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG. Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur erstreckt sich die Verfahrensfähigkeit auch auf ein Verfahren, das im Zusammenhang mit einem Antrag nach § 1887 Abs. 2 BGB steht. Davon ist auch die Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts erfasst (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 14. November 2016 - 4 WF 82/16 -, juris Rn. 3 ff. m. w. N.; Veit, in: Staudinger 2020, BGB § 1887 Rn. 23 m. w. N.; entgegen der Zitierung des Amtsgerichts auch Pabst, in: Münchener Kommentar, FamFG, 2018, § 9 Rn. 6a m. w. N.).

Angesichts der Eilbedürftigkeit und der offensichtlichen Begründetheit ist hier auch ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache geboten. Sie steht dann der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache möglicherweise zu spät käme und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte (Beschluss vom 21. März 2003 - VerfGH 33/03 -, Rn. 10; vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. März 2020 - 2 BvQ 6/20 -, juris Rn. 26).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgeschlossen.

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