LG Saarbrücken, Urteil vom 19.03.2021 - 12 O 393/20
Fundstelle
openJur 2021, 14422
  • Rkr:

Zur Frage der Haftung eines Fahrzeug- und Motorenherstellers aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung bei einem verpflichtenden Rückruf wegen einer Steuerung der Reagenseindüsung ("AdBlue-Einspritzung") (hier: Restreichweitenregelung).

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger macht gegen die Beklagte deliktische Schadensersatzansprüche wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen in seinem von der Beklagten hergestellten Fahrzeug Audi A6 Avant 3.0 TDI, Erstzulassung: 27.02.2017, geltend.

Der Kläger kaufte gemäß verbindlicher Bestellung vom 23.01.2018 das Fahrzeug mit einer Laufleistung von 25.928 km von der ... GmbH & Co. KG in ... zu einem Kaufpreis von 42.680,- €. Der Kaufpreis wurde durch ein Darlehen der A... Bank finanziert.

Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten 3.0 l V6 Dieselmotor der Euro-6-Norm ausgestattet. Die Kontrolle der Stickoxidemissionen erfolgt bei dem Fahrzeug unter anderem durch die sogenannte Abgasrückführung. Bei dieser wird ein Teil des Abgases zurück in das Ansaugsystem des Motors geführt und nimmt erneut an der Verbrennung teil. Die Steuerung der Abgasrückführung erfolgt temperaturabhängig. Darüber hinaus kommt ein sogenanntes SCR-System (selective catalytic reduction) zum Einsatz, bei dem Stickoxidemissionen dadurch reduziert werden, dass dem Abgas eine wässrige Harnstofflösung (AdBlue) beigemischt wird und durch die sodann ausgelöste chemische Reaktion die Stickoxide im Wesentlichen zu Stickstoff und Wasser abgebaut werden. Die ordnungsgemäße Funktion des SCR-Systems ist dabei an einen ausreichenden Vorrat von AdBlue gebunden. Im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs war das SCR-System so programmiert, dass die AdBlue-Einspritzung (Reagenseindüsung) bei einer berechneten voraussichtlichen Restreichweite von 2.400 km unter bestimmten weiteren Voraussetzungen herabgesetzt wurde.

Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) sah hierin eine unzulässige Abschalteinrichtung und ordnete für betroffene Fahrzeuge der Beklagten, darunter auch das streitgegenständliche, eine nachträgliche Nebenbestimmung zur EG-Typgenehmigung an, mit der diese Funktion entfernt werden soll (Anlage K5). Die Beklagte entwickelte in der Folge ein entsprechendes Software-Update, das vom KBA am 12.11.2018 freigegeben wurde (Anlage B5).

Der Kläger behauptet, das Autodarlehen sei zwischenzeitlich vollständig abgelöst. Er meint, ihm stünden deliktische Ansprüche gegen die Beklagte zu, da die Beklagte ausgehend von den Feststellungen des KBA trotz positiver Kenntnis über die Funktionsweise der Manipulationssoftware deren Einbau in das Fahrzeug gebilligt und dadurch die EU-Typengenehmigung erschlichen habe. Der Kläger hätte das Fahrzeug nicht erworben, wenn er von diesen Umständen Kenntnis gehabt hätte. Auch durch das von der Beklagten entwickelte Software-Update werde kein gesetzeskonformer Zustand hergestellt. Das Software-Update vermindere die Motorleistung, erhöhe den Kraftstoffverbrauch und die damit einhergehenden CO2-Emissionen und verkürze die Lebensdauer der sonstigen im Fahrzeug eingebauten Motorteile. Des Weiteren führe das im Fahrzeug verbaute Thermofenster dazu, dass außerhalb des Prüfstands und unter normalen Betriebsbedingungen die Rate der Abgasrückführung in unzulässiger Weise reduziert werde.

Der Kläger beantragt unter Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung auf der Grundlage einer Gesamtlaufleistung von 500.000 km,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 39.626,06 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... samt Fahrzeugschlüsseln und -papieren,

2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des im Antrag zu 2) benannten Fahrzeugs in Verzug befindet,

3. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.590,91 € vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bestreitet die Aktivlegitimation des Klägers im Hinblick auf den darlehensfinanzierten Kauf. Sie behauptet, das Fahrzeug entspreche in seinem Abgasverhalten den Vorgaben der Euro-6-Norm. Bei der in das Fahrzeug eingebauten temperaturabhängigen Steuerung der Abgasrückführung handele es sich nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung. Die temperaturabhängige Steuerung sei anerkanntermaßen zum Bauteileschutz erforderlich. Zu einer Herabsetzung des Wirkungsgrads der AdBlue-Einspritzung in den SCR-Katalysator habe es nur dann kommen können, wenn die Restmenge AdBlue im Tank nur noch für eine verbleibende Fahrstrecke von 2.400 km ausreichte, und der Fahrer das Fahrzeug über eine längere Zeit hochlastig und dynamisch bewegte - z.B. über längere Zeit hohe Geschwindigkeit, Anhängerbetrieb, dynamische Wechsel zwischen Vollgas und Bremsen. Dieser Ausnahmefall sei im normalen Fahrzeugbetrieb praktisch kaum vorgekommen. Mit dem Emissionsausstoß des Fahrzeugs bei vollerem AdBlue-Tank habe dies nichts zu tun und auch für das Erlangen der Emissionsklasse EU6 sei dies völlig irrelevant. Das entwickelte Software-Update habe keine nachteiligen Folgen. Schließlich meint die Beklagte, im Hinblick auf die vermutliche Vereinbarung eines sogenannten verbrieften Rückgaberechts sei ein Schaden der Klagepartei ausgeschlossen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26.02.2021 verwiesen.

Gründe

I.

Die Klage ist unbegründet.

1. Dem Kläger, der die vollständige Ablösung des Autodarlehens durch Bestätigungsschreiben der A... Bank vom 17.06.2020 nachgewiesen hat (Anlage K10, Bl. 93 d.A.), steht gegen die Beklagte kein Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) zu.

a) Richtig ist zwar, dass bei dem Einsatz einer Motorsteuerungssoftware, die eine unzulässige Prüfstandserkennung enthält, Ansprüche gegen den Motorenhersteller aus § 826 BGB i.V.m. § 31 BGB in Betracht kommen (vgl. grundlegend BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 m.w.N.). So liegt der Fall hier aber nicht. Denn es sind vorliegend keine konkreten Tatsachen nachgewiesen, aus denen mit der erforderlichen Gewissheit auf ein vorsätzliches sittenwidriges Verhalten der Beklagten geschlossen werden könnte.

b) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist ein Verhalten sittenwidrig, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (zum Ganzen BGH, Urteil vom 25.05.2020 aaO m.w.N.).

c) Hieran fehlt es im Hinblick auf den Einsatz sog. "Thermofenster", wie die Kammer bereits unter eingehender Begründung, auf die hier Bezug genommen wird, entschieden hat (vgl. hierzu Kammer, Urteil vom 04.12.2020 - 12 O 260/19, DAR 2021, 96 m.w.N.), und wie kürzlich auch vom Bundesgerichtshof bestätigt worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, WM 2021, 354). Ob es sich bei den "Thermofenstern" um unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne der EG-VO Nr. 715/2007 handelt (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 17.12.2020 - C-693/18, DAR 2021, 71), ist insoweit nicht streitentscheidend (vgl. BGH, Beschluss vom 19.01.2021 aaO; Kammer, Urteil vom 04.12.2020 aaO). Unerheblich ist hiernach auch, ob nach dem Aufspielen des Software-Updates unverändert ein "Thermofenster" zur Anwendung kommt (Kammer, st. Rspr.; vgl. Beschluss vom 26.06.2020 - 12 O 12/20; zur Implementierung eines Thermofensters im Rahmen des Software-Updates beim Motor EA 189 vgl. auch OLG Frankfurt, Urteil vom 13.11.2019 - 13 U 274/18, BeckRS 2019, 29281). Dies gilt insbesondere, nachdem das KBA in Kenntnis der Problematik der "Thermofenster" auch in dem Bescheid zur Freigabe des hier maßgeblichen Software-Updates (Anlage B5) das "Nichtvorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen" ausdrücklich bestätigt hat.

Soweit der Bundesgerichtshof zuletzt in diesem Zusammenhang ausgeführt hat, im Einzelfall könne es darauf ankommen, ob ein Hersteller im Typgenehmigungsverfahren verschleiert habe, dass die Abgasrückführungsrate durch die Außentemperatur mitbestimmt werde (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 19.01.2021 aaO), fehlt es hierzu im Streitfall bereits an geeignetem Tatsachenvortrag. Im Übrigen hat die Kammer bereits entschieden, dass ein Fahrzeughersteller im Rahmen des EG-Typgenehmigungsverfahren zu einer über die in dem Verfahren nach der EG-VO Nr. 692/2008 geforderten Daten hinausgehenden Information nicht gehalten war. Denn es ist keine Verpflichtung erkennbar, wonach im Rahmen eines gesetzlich geregelten Verfahrens über die in diesem Verfahren notwendigen Informationen weitergehende Mitteilungen über die Funktionsweise eines Fahrzeugs und dessen Motor gemacht werden müssen. Dass vorliegend nach Art. 3 Nr. 9 der EG-VO Nr. 692/2008 im Rahmen des EG-Typgenehmigungsverfahrens nähere Angaben über die konkrete Funktionsweise von Abschalteinrichtungen hätten gemacht werden müssen, ist im Übrigen wegen des Fehlens eines entsprechenden Feldes auf dem Muster-Beschreibungsbogen nach Anhang I Anlage 3 dieser Verordnung keinesfalls eindeutig. Dafür spricht auch, dass erst im Jahr 2016 durch die EU-VO Nr. 646/2016 eine ausdrückliche Pflicht zur Angabe von Emissionsstrategien, die in Abhängigkeit von spezifischen Umwelt- oder Betriebsbedingungen für einen bestimmten Zweck aktiv werden, im Typgenehmigungsverfahren eingeführt worden ist. Selbst wenn die Beklagte Angaben zur Funktionsweise des "Thermofensters" im Rahmen des EG-Typgenehmigungsverfahrens unterlassen hätte, ließe sich daher hieraus allein kein zwingender Rückschluss auf ein vorsätzliches sittenwidriges Verhalten der Beklagten ziehen (vgl. zu allem Kammer, Urteil vom 04.12.2020 aaO m.w.N.).

d) Richtig ist allerdings, dass das KBA die ursprünglich in dem Fahrzeug eingebaute Regelung der Reagenseindüsung als unzulässige Abschalteinrichtung angesehen und hierauf die Anordnung nachträglicher Nebenbestimmungen zur EG-Fahrzeugtypgenehmigung im als Anlage K5 vorgelegten Bescheid ("Audi A6, A7 3.0 l Diesel Euro 6 Motorkennbuchstabe (MKB) CRT") gestützt hat. Anders als der Kläger meint, kann hieraus aber nicht beweissicher auf ein vorsätzliches sittenwidriges Handeln der Beklagten im Hinblick auf das Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs geschlossen werden.

aa) Der Bundesgerichtshof hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 25.05.2020 (VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316) für die Haftung aus § 826 BGB maßgeblich darauf abgestellt, dass der dortige Hersteller die Motorsteuerungssoftware bewusst und gewollt so programmiert hatte, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte mittels einer unzulässigen Abschalteinrichtung nur auf dem Prüfstand eingehalten wurden und er das KBA hierüber bewusst und gewollt im eigenen Kosten- und damit auch Gewinninteresse getäuscht hatte (BGH aaO Rn. 16). Dem vergleichbar sind die Fälle unzulässiger Abschalteinrichtungen, die zwar keine Prüfstandserkennung enthalten, aber deren Parameter so eng gefasst sind, dass sie letztlich wie eine Prüfstandserkennung wirken, weil sie nahezu ausschließlich unter Prüfstandsbedingungen zum Einsatz kommen (vgl. Saarl. OLG, Beschluss vom 31.08.2020 - 2 U 66/20; OLG Koblenz, Urteil vom 05.06.2020 - 8 U 1803/19, BeckRS 2020, 17355; OLG Hamm, Urteil vom 23.11.2020 - 8 U 43/20, juris; OLG Oldenburg, Urteil vom 16.10.2020 - 11 U 2/20, juris; OLG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.09.2020 - 8 U 39/20, juris; Kammer, Urteil vom 13.03.2020 - 12 O 23/19, juris).

bb) Eine solche Abschalteinrichtung liegt hier nicht vor.

Die ursprünglich im Fahrzeug eingebaute Steuerung war nach den Feststellungen des KBA in dessen Bescheid so programmiert, dass nach Aktivierung des Aufforderungssystems nicht über die gesamte Restreichweite des Fahrzeugs gleich viel Reagens in den SCR-Katalysator eingedüst wurde (bezogen auf vergleichbare Betriebsbedingungen vor Erreichen der Restreichweite (vgl. Bescheid, S. 3 Absatz 3, vorgelegt als Anlage K5). Diese Funktion hat das KBA als unzulässige Abschalteinrichtung eingestuft, weil durch die gewählte Strategie die Wirksamkeit des Abgasnachbehandlungssystems unzulässig verringert werde (Bescheid S. 3 Absatz 5, Anlage K5). Anders als in den Fällen, die zu einer Haftung der Hersteller nach § 826 BGB geführt haben, hat das KBA ausweislich des Inhalts des vorgelegten Bescheids dabei weder eine Prüfstandserkennung/Prüfzykluserkennung festgestellt noch eine auf den Prüfstand ausgerichtete Abschalteinrichtung. Damit kann sich die Klägerseite aber - anders als in den bereits zur Herstellerhaftung nach § 826 BGB entschiedenen Fällen - nicht auf eine ausdrückliche Feststellung des KBA berufen.

Aber auch aus der (unstreitigen) Wirkungsweise der vorliegenden Abschalteinrichtung kann weder auf eine Prüfstandserkennung noch auf eine auf den Prüfstand ausgerichtete Abschalteinrichtung geschlossen werden. Dies ergibt sich insbesondere unter Berücksichtigung der maßgeblichen Vorschriften für Fahrzeuge, die ein Reagens für ihr Abgasnachbehandlungssystem benötigen (Anlage 6 der Regelung Nr. 83 der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE) — Einheitliche Bedingungen für die Genehmigung der Fahrzeuge hinsichtlich der Emission von Schadstoffen aus dem Motor entsprechend den Kraftstofferfordernissen des Motors, ABl. L 42 vom 15.2.2012; Anhang XVI zur EG-VO Nr. 692/2008 zur Durchführung und Änderung der EG-VO Nr. 715/2007 Vorschriften für Fahrzeuge, die ein Reagens für ihr Abgasnachbehandlungssystem benötigen; vgl. auch Nr. 13.7 der Anlage XXII zu § 47 Abs. 3b und 3c StVZO).

Nach Nr. 3.1. dieser Regelungen muss das jeweilige Fahrzeug über ein Warnsystem verfügen, das den Fahrer durch ein (optisches oder akustisches) Signal darauf aufmerksam macht, dass der Reagensfüllstand niedrig ist, der Reagensbehälter bald aufgefüllt werden muss oder das Reagens nicht die vom Hersteller vorgeschriebene Qualität hat.

Nr. 3.5. bestimmt, dass sich das Warnsystem aktivieren muss, sobald noch eine Strecke von mindestens 2.400 km gefahren werden kann, bevor der Reagensbehälter leer wird.

Regelungen zur Reichweite enthalten ferner Nr. 5.2., wonach die Daten über den mittleren Reagensverbrauch- und bedarf des Motorsystems für die gesamte Motorbetriebsdauer während der 2.400 km zuvor gefahrenen Kilometer verfügbar sein müssen, und Nr. 8.4., der die Deaktivierung des Aufforderungssystems nach Aktivierung und Stilllegung des Fahrzeugs nur dann zulässt, wenn die nachgefüllte Reagensmenge einer mittleren Reichweite von 2.400 km entspricht.

Nach Nr. 5.4.muss sich das Fahrerwarnsystem aktivieren und einen entsprechenden Warnhinweis anzeigen, wenn der mittlere Reagensverbrauch und mittlere Reagensbedarf des Motorsystems während einer Fahrzeugbetriebsdauer von 30 Minuten um mehr als 50% voneinander abweichen.

Nach Nr. 8.4. darf sich das Aufforderungssystem, sobald es sich voll aktiviert und das Fahrzeug stillgelegt hat, nur dann deaktivieren, wenn die nachgefüllte Reagensmenge einer mittleren Reichweite von 2.400 km entspricht oder die maßgeblichen Fehlfunktionen beseitigt wurden.

Der Zweck dieser Regelungen besteht im Wesentlichen darin sicherzustellen, dass das Reagens in ausreichender Quantität und Qualität vorhanden ist, um die Funktionsfähigkeit des Systems zu gewährleisten (vgl. hierzu BR-Drs. 491/19, S. 16). Im Hinblick darauf, dass die europäischen Typgenehmigungsvorschriften keine Vorgaben hinsichtlich Reagens-Verbrauch bzw. -Tankgröße enthalten, so dass diese je nach technischen Randbedingungen, z.B. Motorgröße oder Abgasnachbehandlungskonzept, sehr unterschiedlich sein können (BT-Drs. 18/13370, S. 4 f.), ist die Reichweite von 2.400 km aber nicht als feste Bezugsgröße definiert. Die Regelungen nehmen vielmehr ausdrücklich Bezug auf einen "mittleren Reagensverbrauch" und einen "mittleren Reagensbedarf" (Nr. 5.2. und 5.4.), auf eine "mittlere Reichweite" (Nr. 8.2.) sowie auf eine "mittlere Reichweite von 2.400 km" (Nr. 8.4.). Infolge dessen hat auch das KBA in dem streitgegenständlichen Bescheid ausdrücklich eingeräumt, dass sich hieraus nicht klar ergibt, ob das Reagens unter allen möglichen Umständen mindestens 2.400 km oder aber nur bei einem "mittleren" Betriebsprofil 2.400 km ausreichen muss (Bescheid, S. 3 Absatz 5).

Angesichts des Inhalts der vorgenannten Regelungen und der hieraus folgenden, auch vom KBA eingeräumten Unklarheit im Hinblick auf die Bedeutung des Bezugs zur "mittleren Reichweite", erscheint der Kammer die von der Beklagten ursprünglich eingesetzte Strategie zur Einhaltung der Restreichweite jedenfalls vertretbar gewesen zu sein. Denn die Steuerung sah - wie die Beklagte unwidersprochen und auch in Übereinstimmung mit den Ausführungen des KBA in seinem Bescheid vorgetragen hat - nur dann eine Herabsetzung des Wirkungsgrads der Reagenseindüsung vor, wenn die Restmenge im Tank nur noch für eine verbleibende Fahrstrecke von 2.400 km ausreichte und das Fahrzeug zuvor über eine längere Zeit so gefahren worden war, dass jedenfalls nicht mehr von einem "mittleren" Betriebsprofil ausgegangen werden konnte. Die eingesetzte Steuerung diente deshalb nach Überzeugung der Kammer jedenfalls auch dem Zweck der maßgeblichen Regelungen, eine Restreichweite von 2.400 km - wenn auch mit eingeschränkter Reagenseindüsung - zu gewährleisten.

Hiervon ausgehend stellt die ursprünglich eingesetzte Steuerung des SCR-Katalysators eine Abschalteinrichtung dar, die auf einer vertretbaren Auslegung der maßgeblichen Regelungen über die Reagenseindüsung beruht (offen gelassen durch OLG Oldenburg, Urteil vom 16.10.2020 - 11 U 2/20, juris), was die Annahme einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung im Sinne des § 826 BGB durch die Beklagte ausschließt (vgl. die obigen Nachweise zum "Thermofenster"). Dem steht nicht entgegen, dass das KBA die streitgegenständliche Abschalteinrichtung als unzulässig eingestuft und nachträgliche Nebenbestimmungen zur Typgenehmigung angeordnet hat. Denn ein einfacher Gesetzesverstoß reicht für die Begründung eines Sittenverstoßes im Sinne des § 826 BGB gerade nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 aaO; Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, juris; OLG Koblenz, WM 2019, 2222 für ein vom Rückruf betroffenes Fahrzeug).

2. Auch andere deliktische Grundlagen kommen nicht in Betracht.

a) Ein Anspruch aus § 831 Abs. 1 BGB i.V.m. § 826 BGB scheitert aus den gezeigten Gründen.

b) Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB scheitert ebenfalls. Denn es kann für den maßgeblichen Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs aus den gezeigten Gründen jedenfalls nicht von einem Tatvorsatz auf Seiten der Beklagten ausgegangen werden.

c) Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV (Fahrzeuggenehmigungsverordnung) kommen nicht in Betracht, wie der Bundesgerichtshof zuletzt entschieden hat (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798).

3. Mangels Hauptanspruchs scheitern auch der Antrag auf Feststellung des Annahmeverzugs sowie die geltend gemachten Nebenforderungen.

Auf die Frage, ob die Vereinbarung eines sogenannten "verbrieften Rückgaberechts" in Fällen wie hier schadensrechtliche Auswirkungen haben kann, kommt es danach nicht mehr an (vgl. hierzu OLG Celle, NJW-RR 2020, 87; OLG Hamm, Urteile vom 05.03.2020 - I-13 U 326/18, juris, vom 02.04.2020 - 13 U 560/18, juris und vom 23.11.2020 - I-8 U 43/20, juris; OLG Stuttgart, Urteile vom 16.04.2020 - 7 U 273/18, juris und vom 08.07.2020 - 4 U 153/19, juris; OLG Köln, Urteil vom 10.06.2020 - I-16 U 240/19, juris; OLG Brandenburg, Urteil vom 04.03.2020 - 4 U 58/19, juris).

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.