ArbG Bielefeld, Urteil vom 17.12.2020 - 1 Ca 1741/20
Fundstelle
openJur 2021, 13914
  • Rkr:

1. Zur fristverkürzenden Stellungnahme des Betriebsrats in Verfahren gemäß § 102 BetrVG (Anschluss an BAG vom 25.05.2016 - 2 AZR 345/19)

2. Verpflichtung zur Offenbarung einer Nebentätigkeit in einem von Corona betroffenen Betrieb (konkrete/abstrakte Gefahr)

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 02.07.2020 nicht beendet worden ist.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits zu den bislang arbeitsvertraglichen Bedingungen als QS-Prüfer weiter zu beschäftigen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.200,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund einer außerordentlichen Kündigung vom 02.07.2020, die dem Kläger am gleichen Tage zugegangen ist, an diesem Tag geendet hat oder aufgrund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung mit dem 31.10.2020 oder ob es darüber hinaus fortbesteht sowie über einen Anspruch auf tatsächliche Beschäftigung im letzteren Fall.

Insgesamt hat di Beklagte am 02.07.2020 vier Kündigungen ausgesprochen. Die 3. Kammer des erkennenden Gerichts hat am 02.12.2020 zwei Parallelverfahren (Z. 3 Ca 1733/20 sowie T. 3 Ca 1739/20) entschieden. Ein viertes Verfahren vor der 2. Kammer (2 Ca 1742/20) ist noch anhängig.

Die Familie N. hat in C, jetzt ein Stadtteil von C1, ursprünglich eine Ledergerberei betrieben. Zu diesem Geschäftsfeld gehörte auch das Gerben von Leder für Autositze. Die Beklagte ist innerhalb der N auf dem Geschäftsfeld Entwicklung und Produktion von Kunststoffteilen im Automobilbau tätig. Sie beschäftigt an ihrem C1 Standort mehrere 100 Arbeitnehmer, die einen Standortbetriebsrat gewählt haben, dessen Vorsitzender Herr U. ist.

Der am 20.09.1976 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist bei der Beklagten seit dem 03.09.2012 als QS-Prüfer in der Spritzabteilung mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden gegen ein monatliches Bruttoentgelt von ca. 2.400,00 € beschäftigt.

Die wechselseitigen Rechte und Pflichten sind aktuell in einem vom 09.05./15.05.2018 datierenden Arbeitsvertrag niedergelegt (auf dessen Ablichtung wegen der weiteren Einzelheiten, Blatt 14ff. d.A., verwiesen wird).

§ 6 Absatz 1 dieses Vertrages lautet:

"Jede Nebentätigkeit, gleichgültig, ob sie entgeltlich oder unentgeltlich ausgeübt wird, ist anzuzeigen und bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung der Firma. Die Zustimmung ist zu erteilen, wenn die Nebentätigkeit die Wahrnehmung der dienstlichen Aufgaben zeitlich nicht oder allenfalls unwesentlich behindert und sonstige berechtigte Interessen der Firma nicht beeinträchtigt werden."

Der Kläger war vor gut einem Jahr von seinem Arbeitskollegen Z. (3 Ca 1733/20) angesprochen worden, ob er Interesse hätte, sich etwas hinzu zu verdienen. Daraufhin schloss der Kläger mit der Firma A Services GmbH & Co. KG einen Arbeitsvertrag, aufgrund dessen er sonntäglich in einem Arbeitszeitumfang von 3 - 4 Stunden in den Räumlichkeiten des Schlacht- und Zerlegebetriebes V in S mit Reinigungsarbeiten beschäftigt wurde. Die Reinigungstruppe bestand aus 6 Arbeitnehmern, davon 4 Arbeitnehmern, die bei der Beklagten beschäftigt sind und 2 weiteren. Als Verbindungsmann zur Firma A Services GmbH & Co. KG fungierte der Kollege Z.. Ansprechpartner bei der Firma A Services GmbH & Co. KG war der Vorarbeiter M., der sein Büro auf dem Betriebsgelände der Firma V hat. Der Kläger und seine Kollegen hatten einen Chip zum Betreten des Betriebsgeländes der Firma V und dort einen Spind, um sich für die Arbeit umzuziehen. Die Reinigungsarbeiten im Betriebsgebäude der Firma V fanden sonntags zu Zeiten statt, in denen bei der Firma V nicht geschlachtet wurde. Der Kläger und seine Reinigungsgruppe hatten in einer großen Halle drei große Kammern zu reinigen, in denen während des laufenden Betriebes automatisiert zerteilte Schweinehälften gefahren und dort schockgefrostet wurden. Mitarbeiter der Firma V waren in dieser Halle zu keiner Zeit tätig, weder Sonntags noch während des laufenden Schlachtprozesses. Die Pausen verbrachten der Kläger und seine Kollegen in den zu reinigenden Räumlichkeiten. Die Kantine auf dem Betriebsgelände der Firma V (die u.a. Gegenstand des sogenannten "Kantinenvideoprozesses" vor der erkennenden Kammer war) wurde von dem Kläger und seinen Arbeitskollegen schon wegen der kurzen Dauer der Arbeitszeit nicht aufgesucht. Die Reinigungsarbeiten bestanden darin, dass Boden, Seiten, Fliesen und Decken der drei Räume mit scharfen Chemikalien eingeschäumt und dann mit Wasser klargespült wurden. Aus Anlass der Benutzung dieser Chemikalien haben der Kläger und seine Kollegen jeweils Ganzkörperschutzanzüge, eine Kopfbedeckung, Stiefel und Handschuhe und zuletzt auch eine Atemschutzmaske getragen (zur Veranschaulichung wird auf die Aufnahme des Kollegen Z., Anlage K3, Blatt 182 - 184 d.A. verwiesen). Letztmalig war der Kläger in diesen Räumlichkeiten mit seinen Kollegen am Sonntag, den 14.06.2020 (dem Sonntag nach Fronleichnam) vormittags tätig.

In der darauf folgenden Woche vom Montag, dem 15.06.2020, bis Freitag, den 19.06.2020, arbeitete der Kläger bei der Beklagten regulär in Spätschicht, wobei er Mittwoch, den 17.06.2020, frei hatte.

Über das lange Wochenende nach Fronleichnam wurden im Kreis H ca. 48 Coronafälle gemeldet, 46 davon mit direktem Bezug zum Fleischkonzern V in S. Am 16.06.2020 wurden 128 bei V in der Schlachtung und Zerlegung Beschäftigte binnen einer Woche positiv getestet. Alle arbeiten in der Sauenzerlegung, in der insgesamt 1000 Arbeitnehmer bei Subunternehmern von V tätig sind. Der Kreis H ordnete einen Test sämtlicher Mitarbeiter dieser Abteilung an. Von 983 Testergebnissen der Mitarbeiter der Sauenzerlegung waren am 17.06.2020 657 positiv. Für den Fleischkonzern V wurde die unverzügliche Schließung des Schlachtbetriebs in S verfügt. Die nachgelagerte Produktion wurde sukzessive heruntergefahren. Alle positiv getesteten Arbeitnehmer und deren Kontaktpersonen sowie alle noch nicht getesteten Beschäftigten in der Produktion von V wurden in Quarantäne geschickt. Erneut soll die gesamte Belegschaft getestet werden. Am 18.06. sind von den nun 1106 ausgewerteten Abstrichen der bei V beschäftigten Arbeitnehmer 730 Befunde positiv.

Der Kreis H schloss im Laufe der Woche sämtliche Schulen und Kindertagesstätten. Auch der Kläger machte sich Sorgen um seine Gesundheit und um die seiner Familie und bat Herrn Z., Kontakt zu der Firma A Services GmbH & Co. KG bzw. der Firma V aufzunehmen. Herr Z. konnte seinen Ansprechpartner bei der Firma A Services GmbH & Co. KG, Herrn M., zunächst nicht erreichen. Dieser teilte Herrn Z. dann am Nachmittag des 19.06.2020 mit, die Reinigungsgruppe könne sich - wenn sie wolle - auf dem Betriebsgelände der Firma V testen lassen. Dies kommunizierte Herr Z. in der Whatsapp-Gruppe der Reinigungsgruppe. Daraufhin unterbrach der Kläger seine Spätschicht und stempelte um 17.47 bis 19.43 Uhr aus, um sich in H einem Coronatest zu unterziehen.

Nach Rückkehr vom Coronatest hat der Kläger im Betrieb der Beklagten bis zum Schichtende gearbeitet.

Der Kreis H erließ unter dem 20.06.2020 eine "Allgemeinverfügung zur Absonderung von sogenannter häuslicher Quarantäne" für alle auf dem Betriebsgelände der Firma V am Standort In der Mark 2, XXXXX Stätigen Personen (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieser Allgemeinverfügung Anlage B 3, Blatt 87 ff. d.A. verwiesen).

Ebenfalls am 20.06.2020 erließ die Stadt C1, auf deren Gebiet der Kläger wohnt, zu einer "Allgemeinverfügung der Stadt C1 vom 20.06.2020 zur Absonderung von sogenannter häuslicher Quarantäne im Zusammenhang mit Corona-Fällen bei der Firma V", die sich an den gleichen Adressatenkreis richtete (Ablichtung dieser Allgemeinverfügung Blatt 174 ff d.A.. (Wegen der Allgemeinverfügung des Kreises H vom 18.06.2020 wird auf deren Ablichtung Anlage B 2 Blatt 78 ff. d.A. und der der Stadt C1 B. 174ff. d.A. verwiesen).

Am 21.06.2020 rief Herr Z. seine Vorgesetzte, Frau D., an und informierte jene über seine Nebentätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V. Herr Z. war unsicher, wie er sich verhalten sollte, da das Gesundheitsamt bei seinem Bruder, welcher ebenfalls bei der Firma A Services GmbH & Co. KG mit Reinigungsarbeiten auf dem Betriebsgelände der Firma V beschäftigt war, Quarantäne angeordnet hatte. Frau D. sagte Herrn Z. daraufhin, dass er, solange zuhause bleiben solle und nicht bei der Beklagten zur Erbringung der Arbeitsleistung erscheinen solle, bis er das Testergebnis habe. Auf die weitere Nachfrage von Frau D., ob noch weitere Mitarbeiter der Beklagten dieser Nebentätigkeit nachgingen und bei der Firma V tätig seine, äußerte Herr Z., dass noch Herr T., Herr E. und der Kläger der Nebentätigkeit nachgingen und letztmalig am 14.06.2020 bei der Firma V eingesetzt waren.

Der Kläger rief am Montag, den 22.06.2020 vor Arbeitsbeginn der Frühschicht (von 5.45 - 14 h) seinen Vorgesetzen Herrn K. zwischen 5.30 und 5.45 h an. Der Kläger bat Herrn K. um eine Woche Urlaub für die Zeit vom 22.06. bis zum 26.06.2020. Als Grund nannte er, dass er seine Frau krank sei und dass es Probleme mit der Betreuung seines Sohnes gebe. Im Übrigen erwähnte der Kläger auch etwas von einem freiwilligen Coronatest, ohne hier weitere Details und Anlasse zu nennen. Herr K. hat daraufhin den Urlaub telefonisch genehmigt.

Der Vorgesetzte des Klägers, Herr X., hat am Vormittag des gleichen Tages nach Unterrichtung durch Frau D. zwischen 10 und 11 Uhr den Kläger angerufen und ihn bezüglich seiner Nebentätigkeit bei der Firma A Services GmbH & Co. KG und seines Einsatzes bei der Firma V sowie zum Coronatest und zur Quarantäne befragt. In diesem Telefonat teilte der Kläger Herrn X. mit, dass er nicht wisse, dass er eine Nebentätigkeit anmelden müsse. Auf Nachfrage räumte er ein, dass er den Urlaub erbeten habe, weil er noch kein Ergebnis für seinen Coronatest vom 19.06.2020 vorliegen hatte. Frau D. informierte am 22.06.2020 per Email die Personalleiterin der Beklagten Frau R., die Mitarbeiterin für das Gesundheitsmanagement, Frau O. sowie den Beauftragten für den Arbeitsschutz P. über den Sachverhalt (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung der Mail Anlage B 1, Blatt 59 d.A. verwiesen)..

Am 23.06.2020 befragte Frau L. aus der Personalabteilung den Kläger noch einmal zum Sachverhalt.

Daraufhin beschloss die Geschäftsführung der Beklagten, allen Mitarbeitern fristlos und hilfsweise ordentlich zu kündigen.

Das negative Testergebnis vom 20.06.2020 (Ablichtung Anlage K 1 Bl. 109 d.A.) wurde dem Kläger nach mehrfachen Anrufen beim Gesundheitsamt am per Mail 24.06.2020 mitgeteilt. Der Kläger hat dieses negative Testergebnis unverzüglich per Mail an die Personalleiterin der Beklagten, Frau L., und seinen Vorgesetzten, Herrn X., weitergeleitet (Ablichtung der Weiterleitungsmails Anlage K 2 Blatt 170 sowie Blatt 180 d.A.).

Der Kläger hat seine Vorgesetzten am 24.06.2020 auch über die zwischenzeitlich angeordnete Quarantäne unterrichtet, die zunächst vom 20.06.2020 bis zum 02.07.2020 angeordnet wurde und sodann bis zum 17.07.2020 verlängert und mit Schreiben vom 09.07.2020 am gleichen Tag aufgehoben wurde (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung des Schreibens der Stadt C1 Anlage K 4, Blatt 85 d.A. verwiesen).

Am Montag den 29.06.2020 versandte Frau L. um 15.25 Uhr per Email an die Emailadresse des Betriebsrates die Anhörung zu den beabsichtigten vier außerordentlichen Kündigungen des Klägers und seiner drei Kollegen. In dem Schreiben heißt es u.a. :

"Herr Bi hat seinen Arbeitgeber nicht über den Einsatz bei der Firma V informiert und auch nicht darüber, dass er zu einem Coronatest aufgefordert wurde. Die Nebentätigkeit bei der Firma A sowie der Einsatz auf dem Werksgelände der Firma V ist erst durch ein Telefonat am 21.06.2020 zwischen Herrn D. und Herrn Z. herausgekommen. Darüber hinaus wurde vom Kreis H am 19.06.2020 eine Allgemeinverfügung erlassen, dass sich alle auf dem Betriebsgelände der Firma V in Stätigen Personen für 14 Tage in häusliche Quarantäne (bis zum 02.07.2020) begeben müssten.

Herr B.i hat mit diesem Verhalten grob fahrlässig gehandelt, da er weiterhin zur Arbeit gekommen ist, aufgrund seiner Tätigkeit als QS-Prüfer mit vielen Kollegen in persönlichem Kontakt war und dabei billigend in Kauf genommen hat, dass eine mögliche Coronainfektion seinerseits dazu führen könnte, dass sich in der N GmbH das Coronavirus ausbreitet... Er ist in der gesamten KW 25 bei der N GmbH seiner Arbeit nachgegangen, wissentlich, dass er bei der Firma V auf dem Werksgelände am 14.06.2020 gearbeitet hat und spätestens seit dem 17.06.2020 durch alle gängigen Medien bekannt ist, dass bei der Firma V über 1000 positive Coronabefunde vorliegen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte Herr Bi seinen Arbeitgeber über die Nebentätigkeit sowie die damit einhergehende Verbindung zur Firma V informieren müssen. Durch das grob fahrlässige Verhalten von Herrn Bi ist das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arbeitgeber und Mitarbeiter nachhaltig zerstört." (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ablichtung dieses Anhörungsschreibens unterzeichnet von der Personalleiterin Frau R. und der HR-Businesspartner L. Anlage B 4, Blatt 93 f. d.A. verwiesen.)

Diese Unterrichtung ist am darauffolgenden Dienstag, den 30.06.2020, vom Betriebsrat mit Datum vom 30.06.2020 als empfangen gestempelt worden.

Im Verlaufe des 30.06.2020 wurden dem Standortbetriebsrat sodann die Anhörungsschreiben zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung der betroffenen Arbeitnehmer (Anlage B 5, Ablichtung Blatt 95 ff. d.A.) übergeben, ebenfalls unterzeichnet von der Personalleiterin Frau R. und der HR-Businesspartner L..

Der Standortbetriebsrat beschäftigte sich in seiner Sitzung vom 01.07.2020 mit den beabsichtigten Kündigung u.a. des Klägers.

Gegen die außerordentliche Kündigung erhob der Standortbetriebsrat "erhebliche Bedenken". Der Standortbetriebsrat teilte die Auffassung der Beklagten, dass spätestens mit "der Bekanntgabe zur Aufforderung des Coronatests der Kläger seinen Vorgesetzten über den Sachverhalt hätte informieren müssen. Dieses Fehlverhalten rechtfertige aus Sicht des Standortbetriebsrats eine Abmahnung" (wegen der weiteren Einzelheiten dieses Schreibens wird auf dessen Ablichtung Anlage B 6, Blatt 97 f. d.A. verwiesen).

Diese Stellungnahme holte Frau L. am Morgen des 02.07.2020 bei Herrn U. ab.

Sie sprach in diesem Zusammenhang Herrn U. auf die Stellungnahmen zu den ordentlichen Kündigungen an, da beabsichtigt sei, alle Kündigungen zusammen am gleichen Tag aussprechen zu wollen. Daraufhin teilte Herr U. Frau L. mit, dass die Personalabteilung die Stellungnahmen für die ordentlichen Kündigungen im Laufe des Tages erhalten werde.

Der weitere Verlauf des Gesprächs ist zwischen den Parteien streitig. Im Schriftsatz der Beklagten vom 14.12.2020 heißt es dazu weiter: "Im Übrigen äußerte er im Hinblick auf die Aussage von Frau L., dass die Kündigungen am selben Tage ausgesprochen werden sollten, sinngemäß, dass die Beklagte dies ja nun tun könne. An den exakten Wortlaut können sich die beiden Zeugen nicht erinnern."

Die Stellungnahme zu den ordentlichen Kündigungen hatte Herr U. dann im Rahmen einer am 02.07.2020 statt gefundenen Ausschusssitzung persönlich der Personalleiterin Frau R. übergebe im Zeitfenster zwischen 13.15 h bis 14.15 h.

Die Beklagte warf das vom 02.07.2020 datierende und von Frau R. und von Frau L. unterzeichnete Kündigungsschreiben gegen 16.30 Uhr in den Briefkasten des Klägers ein.

Mit seinem vom 13.07.2020 datierenden und vorab per Fax beim erkennenden Gericht eingegangenen Schreiben erhob der Kläger Kündigungsschutzklage.

Er bestreitet die ordnungsgemäße Anhörung des bei der Beklagten bestehenden Betriebsrats mit Nichtwissen und hält die streitbefangene Kündigung für sozial ungerechtfertigt und daher unwirksam. Insbesondere liegen keine Gründe im Verhalten des Klägers vor, die eine Kündigung rechtfertigen könnten.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 02.07.2020 nicht beendet wird,

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als QS-Prüfer weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte bittet darum,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte meint, das Verhalten des Klägers sei "an sich" geeignet, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Das Fehlverhalten des Klägers bestehe vorliegend in einer Nebenpflichtverletzung. Angesichts des Umstands, dass in Betrieben der Fleischindustrie insgesamt eine erhöhte Coronaproblematik bestand, sei der Kläger - unabhängig von der allgemeinen Anzeige- und Genehmigungspflicht aus dem Arbeitsvertrag - in der konkreten Situation verpflichtet gewesen, bereits vor dem 14.06.2020 der Beklagten seine Tätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V anzuzeigen. Allein diese unterlassene Anzeige stelle nicht nur einen geringfügigen Pflichtverstoß dar.

Aufgrund des Umstands, dass der Kläger auch nach dem 14.06.2020 seine Tätigkeit auf dem Betriebsgelände der Beklagten auch nach Bekanntwerden der erhöhten Infektionszahlen bei der Firma V und insbesondere auch nach der Aufforderung, einen Coronatest zu machen, habe spätestens zu diesem Zeitpunkt eine eindeutige Verpflichtung bestanden, seine Nebentätigkeit der Beklagten mitzuteilen. Dies habe der Kläger zudem durch seinen Urlaubsantrag am Montag den 22.06.2020 zu vermeiden versucht.

Im Übrigen treffe den Kläger als Arbeitnehmer die Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis, mögliche Schäden oder Beeinträchtigungen des Arbeitgebers zu vermeiden und das Gebotene zu tun, um die Interessen des Arbeitgebers zu wahren. Auch vor diesem Hintergrund hätte der Kläger seine Tätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V der Beklagten mitteilen müssen. Die Beurteilung, ob aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen - soweit es welche gab - eine Infektion ausgeschlossen werden konnte, obliege nicht dem Kläger. Das Verhalten des Klägers habe gezeigt, dass er auch künftig seinen Pflichten nicht nachkommen werde, sondern letztlich selbst entscheide, ob er informiert oder nicht. Aufgrund dessen sei die Vertrauensbasis zwischen den Parteien ausschließlich aufgrund des vorwerfbaren Verhaltens des Klägers zerstört. Auf den Umstand, ob tatsächlich eine Infektionsgefahr bestand, komme es vor diesem Hintergrund nicht an.

Die Beklagte hat insbesondere in ihrem Schriftsatz vom 18.11.2020 auf die wegen der Coronasituation im Betrieb der Beklagten ergriffenen Maßnahmen verwiesen (wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen in diesem Schriftsatz auf Seite 8 nebst den Anlagen B 8 bis B 15 verwiesen).

Auch die in jedem Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung führe im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis. Die Einhaltung der Informationspflicht bei möglichen Infektionsrisiken durch den Coronavirus sei für den Betrieb und die Existenz der Beklagten überragend. Dem gegenüber seien keinerlei berechtigte Interessen des Klägers ersichtlich, seiner Informationspflicht nicht nachzukommen. Vielmehr komme zu Lasten des Klägers erschwerend hinzu, dass er nicht von sich aus über seine Nebentätigkeit informiert hat, sondern erst nach der Mitteilung von Herrn Z., der von der Beklagten zu diesem Thema befragt wurde.

Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei eingehalten worden.

Der Betriebsrat sei ordnungsgemäߠ gemäß § 102 BetrVG angehört worden. Es sei jahrelange Übung bei der Beklagten, dass der Betriebsrat im Rahmen seiner Mitwirkung den Punkt auf die Tagesordnung der nächsten Betriebsratssitzung nehme, einen abschließenden Beschluss treffe und diesen der Beklagten mitteile. Damit habe der Betriebsrat abschließend Stellung genommen, so dass die fristlose Kündigung und die hilfsweise ordentliche Kündigung ausgesprochen werden konnte.

Die hilfsweise ordentliche verhaltensbedingte Kündigung sei aufgrund der vorstehenden Ausführungen sozial gerechtfertigt.

Insbesondere stelle eine Abmahnung kein milderes Mittel dar, um adäquat auf das Fehlverhalten des Klägers zu reagieren. Grundsätzlich sei zwar vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung eine Abmahnung erforderlich. Dies sei ausnahmsweise nicht der Fall, wenn eine Verhaltensänderung trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine solch schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund sei vorliegend der Ausspruch einer Abmahnung entbehrlich. Der Kläger habe durch sein uneinsichtiges Verhalten gezeigt, so dass durch eine Abmahnung eine Verhaltensänderung nicht zu erwarten sei.

Der Kläger hat darauf erwidert, der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden, weil die Beklagte bereits vor Ablauf der Stellungnahmefristen des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen hilfsweise ordentlichen Kündigung die streitbefangene Kündigung ausgesprochen habe.

Der Kläger meint, die Beklagte habe den Betriebsrat zudem auch über das negative Ergebnis des Coronatests vom 19.06.2020 informieren müsse, das der Beklagten zum Zeitpunkt der Betriebsratsanhörung vorlag.

Diesem Coronatest habe sich der Kläger im Übrigen freiwillig unterzogen. Weder die Firma A noch die Firma V noch Herr Z. habe den Kläger aufgefordert, einen Coronatest zu absolvieren. Er hätte den Coronatest vielmehr auch am Montag den 22.06.2020 in seiner Hausarztpraxis in C1 absolvieren können.

Die Beklagte habe den Inhalt des Gesprächs zwischen Frau L. und dem Betriebsratsvorsitzenden U. am 02.07.2020 unzutreffend wiedergegeben. Einziger Inhalt der Unterredung sei die Frage der Zeugin L. gewesen, ob sie bei der Gelegenheit auch schon die Stellungnahme des Betriebsrats zur ordentlichen Kündigung in Empfang nehmen könne, was Herr U. verneint habe unter Hinweis darauf, dass er die Stellungnahmen im Tagesverlauf fertigstellen und der Personalleiterin R übergeben werde. Der Betriebsratsvorsitzende U. habe der Zeugin L. nicht sinngemäß mitgeteilt, die Beklagte "könne jetzt kündigen."

Der Kläger verweist weiter darauf, dass zumindest seinem unmittelbaren Vorgesetzten Herrn K. die Nebentätigkeit des Klägers im Allgemeinen bekannt war. Der Kläger hat im Kammertermin ausgeführt, Herr K. habe auch bei der Schichtplanung auf diese Nebentätigkeit Rücksicht genommen. Bei Aufnahme seiner Tätigkeit für die Firma A sei dem Kläger die Regelung in § 6 Abs. 1 des Arbeitsvertrages der Parteien nicht präsent gewesen, da er den ihm 2018 vorgelegten Arbeitsvertrag nach Unterzeichnung 2018 zu seinen Unterlagen genommen habe.

Der Kläger hat weiter behauptet, entgegen ihren Bekundungen sei der Schutz der Beschäftigten im Betrieb der Beklagten vor Coronainfektionen sei äußerst dürftig gewesen. In dem sogenannten "Reflexraum" der Beklagten, der über eine Größe von 5 qm verfügt, fänden 3 x täglich Besprechungen mit bis zu 15 (teilweise mehr) Besprechungsteilnehmern statt. Die Spender mit Desinfektionsmitteln im Betrieb der Beklagten seien häufig leer.

Im Übrigen messe die Beklagte mit zweierlei Maß: Es es mehr als unwahrscheinlich, dass er durch seine Tätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V die Gesundheit seiner Arbeitskolleginnen und Kollegen im Betrieb der Beklagten gefährdet habe, da er keinen Kontakt zu V Arbeitnehmern während des Einsatzes hatte und V Mitarbeiter auch nicht in den zu reinigenden Räumlichkeiten tätig seien (so dass dort auch keine Aerosole seien), er in Schutzausrüstung gearbeitet habe und der Einsatz der scharfen Chemikalien gerade der Reinigung der Räumlichkeiten auf dem Betriebsgelände der Firma V dienten.

Besonders kritisch sei jedoch der Einsatz von wechselnden Leiharbeitnehmern regelmäßig im Umfang von über 40 Leiharbeitnehmern im Betrieb der Beklagten. Diese Leiharbeitnehmer stammten zum Großteil aus Bulgarien und Rumänien und seien weitestgehend nicht der deutschen Sprache mächtig. Mangels deutscher Sprachkenntnisse könnten diese Leiharbeitnehmer auch keine Sicherheitshinweise der Beklagten in Bezug auf den Coronaschutz zur Kenntnis nehmen.

Die Beklagte hat eine generelle Maskenpflicht im Betrieb erst am 12.10.2020 angeordnet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger kann sich aufgrund der Dauer seines Arbeitsverhältnisses mit der Beklagten und im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer auf die Anwendbarkeit des ersten Abschnittes des Kündigungsschutzgesetzes berufen. Er hat seine Klage innerhalb der Frist des § 4 KSchG erhoben.

I.

1.)

Die streitbefangenen Kündigungen scheitern bereits daran, dass die Beklagte den in ihrem Betrieb gewählten Standortbetriebsrat vor Ausspruch der streitbefangenen Kündigungen nicht ordnungsgemäß angehört hat. Die Betriebsratsanhörung ist sowohl inhaltlich wie formal unzulänglich.

a)

Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Gemäß Satz 2 der Bestimmung hat der Arbeitgeber ihm die Gründe für die Kündigung mitzuteilen. Nach Satz 3 ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam.

aa)

Der notwendige Inhalt der Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG richtet sich nach Sinn und Zweck der Anhörung. Diese besteht darin, den Betriebsrat in die Lage zu versetzen, sachgerecht, d. h. gegebenenfalls zugunsten des Arbeitnehmers, auf den Arbeitgeber einzuwirken.

Der Betriebsrat soll die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe überprüfen und sich über sie seine eigene Meinung bilden können. Dabei musste die Anhörung so umfassend sein, dass sich der Betriebsrat ohne weitere Aufklärung ein Bild vom Sachverhalt machen kann (vgl. BAG vom 16.07.2015 - 2 AZR 15/15 - Rn. 14 mit weiteren Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung).

bb)

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Betriebsratsanhörung grundsätzlich "subjektiv determiniert". Das heißt, der Arbeitgeber muss dem Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben.

Dem kommt der Arbeitgeber jedoch dann nicht nach, wenn er den Betriebsrat einen schon aus seiner eigenen Sicht unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalt unterbreitet. Schildert er dem Betriebsrat bewusst einen unrichtigen oder unvollständigen - und damit irreführenden - Kündigungssachverhalt, der sich bei Würdigung durch den Betriebsrat zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken kann, ist die Anhörung unzureichend und die Kündigung unwirksam (BAG a.a.O., Rn. 16 mit weiteren Nachweisen der ständigen Rechtsprechung des Senats).

Die Beklagte hat in der Betriebsratsanhörung darauf abgestellt, dass der Kläger spätestens ab dem 17.06.2020 - als durch alle gängigen Medien bekannt geworden war, dass bei der Firma V über 1000 positive Corona-Befunde vorlagen - über seine Nebentätigkeit und die damit einhergehende Verbindung zur Firma V informieren müssen.

Damit hat die Beklagte den Betriebsrat suggeriert, dass ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit dafür bestand, dass sich der Kläger bei seiner Nebentätigkeit - ähnlich wie die bei der Firma V mit der Schlachtung und Zerlegung beschäftigten Arbeitnehmer - mit Corona infiziert hat . Da Frau L. aber am 23.06.2020 alle vier Arbeitnehmer der Beklagten, die über die Firma A bei V gereinigt haben und damit auch den Kläger zu den Arbeitsumständen befragt hat, war auch der Beklagten klar, dass aufgrund der konkreten Arbeitsumstände, so wie der Kläger diese im Schriftsatz vom 11.12.2020 geschildert hat, keine besondere Gefahr vom Kläger ausging, die das "gewöhnliche" Corona-Risiko in jener Zeit überstiegt.

Sie hat zudem den Zeitpunkt der Allgemeinverfügung des Kreises H falsch auf den 19.06.20 datiert und beim Betriebsrat damit den Eindruck erweckt, der Kläger habe noch nach Erlass der Allgemeinverfügung mit der Quarantäneanordnung noch im Betrieb der Beklagten gearbeitet. Tatsächlich stammt die Allgemeinverfügung sowohl des Kreises H als auch des Kreises C1 jedoch erst vom 20.06.2020, also zu einer Zeit nach dem letzten tatsächlichen Arbeitstag des Klägers für die Beklagte.

Nach Ansicht der Kammer hätte es auch zur ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats gehört, den Betriebsrat das am 24.06.2020 zugeleitete negative Corona-Testergebnis mitzuteilen. Denn die subjektive Überzeugung des Arbeitgebers von der Relevanz oder Irrelevanz bestimmter Umstände ist für den Umfang der Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG nicht maßgeblich, wenn dadurch der Zweck der Betriebsratsanhörung verfehlt würde. Der Arbeitgeber darf ihm bekannte Umstände, die sich bei objektiver Betrachtung zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können, den Betriebsrat nicht deshalb vorenthalten, weil sie für seinen eigenen Kündigungsentschluss nicht von Bedeutung waren (BAG a.a.O., Rn. 19 mit weiteren Nachweisen der Rechtsprechung des Senats). Auch wenn die Beklagte vorrangig auf den "Vertrauensbruch" seitens des Klägers abstellt, ergibt sich auch dieser aus dem Infektionsrisiko des Klägers aus seiner Tätigkeit bei V.

Damit scheitert die Betriebsratsanhörung schon an einer irreführenden Unterrichtung des Betriebsrats über den Kündigungssachverhalt, wobei es sich aus Sicht der Kammer um eine "bewusste" Irreführung handelt, weil die Beklagte die zugunsten des Klägers sprechenden Umstände (nämlich die Umstände, unter denen der Kläger bei V tatsächlich gearbeitet hat sowie das negative Corona-Testergebnis) ausgeblendet hat, um bei dem Betriebsrat eine bestimmte Wirkung zu erzeugen.

cc)

Die Betriebsratsanhörung scheitert im Übrigen aber auch daran, dass die Beklagte die dem Betriebsrat zur Stellungnahme eingeräumte Frist nicht abgewartet hat, sondern - ohne Not - vor Abschluss des Anhörungsverfahrens den Kläger gekündigt hat. Sowohl die außerordentliche als auch die hilfsweise ordentliche Kündigung sind bereits gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 und 3 BetrVG unwirksam. Denn sie wurden vor Ablauf der dem Betriebsrat nach dieser Vorschriften eingeräumten 3-Tages- bzw. -Wochen-Frist erklärt, ohne dass der Betriebsrat zuvor eine das Anhörungsverfahren abschließende Stellungnahme abgegeben hätte.

Warum die Beklagte eine Woche braucht, um das Anhörungsverfahren beim Betriebsrat überhaupt erst einzuleiten, dann aber nicht willens ist, zumindest die 3-Tages-Frist des § 102 Abs. 2 Satz 3 BetrVG einzuhalten, bleibt der Kammer unerfindlich. Dabei könnte man zunächst der Auffassung sein, dem Betriebsrat stünde jedenfalls im Rahmen der Anhörung zur außerordentlichen Kündigung keine starre 3-Tages-Frist zu, weil er nach dem Gesetzeswortlaut "unverzüglich" zur beabsichtigten Kündigung Stellung nehmen soll. Allerdings ist die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit der Entscheidung vom 25.05.2016 - 2 AZR 345/15 - in diesem Punkt eindeutig. Erklärt der Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung vor Ablauf von drei Tagen nach Unterrichtung des Betriebsrats bzw. bevor diese abschließend Stellung genommen hat, ist keine ordnungsgemäße Anhörung gegeben. Dies führt zur Unwirksamkeit der Kündigung (vgl. nur Rinck in: Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz § 102 BetrVG Rdn. 131).

Einer Äußerung des Betriebsrats während des Anhörungsverfahrens nach dem § 102 BetrVG kommt nur fristverkürzende Wirkung zu, wenn ihr der Arbeitgeber unzweifelhaft entnehmen kann, dass es sich um eine abschließende Stellungnahme handelt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn es sich um ein Formular des Arbeitgebers handelt, aufgrund dessen der Betriebsrat eine "abschließende" Stellungnahme durch Ankreuzen des entsprechenden Kästchens abgibt. Erklärt der Betriebsrat dies - wie im vorliegenden Fall - nicht ausdrücklich, ist der Inhalt seiner Mitteilung durch Auslegung entsprechend den §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Diese Auslegung muss eindeutig ergeben, dass der Betriebsrat sich bis zum Ablauf der Anhörungsfrist nicht noch einmal - und sei es "nur" zur Ergänzung der Begründung seiner bereits eröffneten Entschließung - äußern möchte. Der Arbeitgeber muss aufgrund der bisherigen Äußerungen des Betriebsrats davon ausgehen können, dieser werde unter keinen Umständen mehr tun als bereits geschehen (vgl. zum Vorstehenden nur wie bereits in der mündlichen Verhandlung und im Hinweisbeschluss angesprochene Entscheidung des BAG vom 25.05.2016 - 2 AZR 345/15, Rdn. 24 mit weiteren Zitaten der ständigen Rechtsprechung des Senats). Die Annahme einer vorfristig abgegebenen verfahrensbeendenden Äußerung bedarf nach diesen Ausführungen "besonderer Anhaltspunkte". Derartige besondere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Stellungnahme des Betriebsrats nicht. Derartige besondere Anhaltspunkte für eine abschließende Stellungnahme liegen regelmäßig vor, wenn der Betriebsrat dem Arbeitgeber mitteilt, er stimme der beabsichtigten Kündigung ausdrücklich und vorbehaltslos zu (dies ist hier nicht der Fall) oder erklärt, von einer Äußerung zur Kündigungsabsicht abzusehen (dies ist hier ebenfalls nicht der Fall).

In anderen Fällen - wie hier - wird der Arbeitgeber nur von einer abschließenden Stellungnahme ausgehen können, wenn aus seiner Sicht eine weitere Äußerung des Betriebsrats die Kündigungsabsicht ausgeschlossen ist. Dazu ist es nicht ausreichend, dass der Betriebsratsvorsitzende - wie hier - dem Arbeitgeber das Ergebnis der Beschlussfassung des Gremiums mitgeteilt hat. Denn dies schließt für sich allein genommen eine erneute Beschlussfassung des Betriebsrats oder eine Ergänzung der mitgeteilten Beschlussgründe durch den Vorsitzenden nicht aus. In diesem Zusammenhang reicht es nicht aus, dass die Beklagte im letzten Schriftsatz vom 14.12.2020 nunmehr vorträgt, Herr U. habe auf die Aussage von Frau L., dass die Kündigungen an einem selben Tag ausgesprochen werden sollten, "sinngemäß" geäußert, dass die Beklagte dies "ja dann nun tun könne", wobei eingeräumt wird, an einen exakten Wortlaut könnten sich beide Zeugen nicht mehr erinnern. Eine derartige "sinngemäße" Äußerung trifft keinen der Fälle, die das Bundesarbeitsgericht in seiner vorstehend zitierten Entscheidung unter Rdn. 26 angeführt hat.

Fehlt es an sicheren Anhaltspunkten dafür, dass sich der Betriebsrat in keinem Fall mehr zur Kündigungsabsicht äußern wird, muss der Arbeitgeber, sofern er die Kündigung vor Ablauf der Frist erklären will, beim Betriebsratsvorsitzenden nachfragen und um entsprechende Klarstellung bitten. Auf dessen Erklärung darf er sich verlassen. Es hätte also nichts näher gelegen, als dass Frau L. Herrn U. gefragt hätte, ob mit dieser "sinngemäßen" Äußerung für den Betriebsrat das Anhörungsverfahren bezüglich der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war. Dies hat Frau L. unterlassen. Deswegen hat die Kammer über den Vortrag der Beklagten aus dem Schriftsatz vom 14.12.2020, zu dem der Kläger behauptet hatte, der Betriebsratsvorsitzende habe weder sinngemäß noch ansonsten zur Kündigungsabsicht der Beklagten im Hinblick auf die Äußerung von Frau L. eine Stellungnahme abgegeben, keine Beweisaufnahme durchgeführt. Denn die Beweisaufnahme dient nicht der Ausforschung eines Geschehensablaufs, der nicht substantiiert vorgetragen worden ist.

2.)

Die streitbefangene Kündigung scheitert im Übrigen hinsichtlich der fristlosen Kündigung an § 626 Abs. 1 BGB.

Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass zunächst ein Kündigungssachverhalt vorliegen muss, der "an sich" geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Die Beklagte hat vorliegend auf § 241 Abs. 2 BGB abgestellt. Danach kann das Schuldverhältnis nach seinem Inhalt zur gegenseitigen Rücksichtnahme auch auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten. Die Beklagte hat aber zutreffend auch darauf hingewiesen, dass es sich bei der Verletzung der Rücksichtnahmepflicht durch den Kläger dadurch, dass dieser die Beklagte nicht über seine sonntäglichen Nebentätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V unterrichtet hat, um eine Nebenpflichtverletzung aus dem Arbeitsverhältnis handelt. Die Kammer ist sich nicht schlüssig darüber, ob die Ausübung dieser Nebentätigkeit auf dem Betriebsgelände der Firma V unter den Bedingungen, wie der Kläger diese im Schriftsatz vom 11.12.2020 unter Beifügung von Fotos des Arbeitskollegen Z. dargestellt hat, eine Offenbarungs- oder Rücksichtnahmepflicht auslöst, da jedenfalls für einen medizinischen Laien nicht ersichtlich ist, dass der Kläger als potentiell Coronainfizierter eine Gefahr für Leib und Leben seiner Arbeitskollegen im Betrieb der Beklagten darstellt. Dabei ist nicht die Frage, ob es sich um eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung handelt. Dies ist zwischen den Parteien des vorliegenden Rechtsstreites unstreitig. Auch der Kläger hat im Schriftsatz vom 11.12.2020 außerordentlich bedauert, dass sein Verhalten auf Seiten der Beklagten zur heftigen Irritationen geführt hat und erklärt, dass ein Fehler dieser Art dem Kläger definitiv nicht mehr unterlaufen wird. Fraglich ist allein, ob die unstreitige arbeitsvertragliche Pflichtverletzung das Gewicht eines Kündigungsgrundes für eine ordentliche oder gar eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses hat.

Die Kammer steht - entgegen der Ansicht der Beklagten - jedenfalls auf dem Standpunkt, dass es sich um ein abmahnfähiges Verhalten handelt. Hierauf hat der Betriebsrat zutreffend hingewiesen. Eine Kündigung ist nicht möglich, solange ein milderes Mittel möglich ist. Eine Abmahnung ist vor jeder Kündigung wegen steuerbaren Verhaltens des Arbeitnehmers, dass dieser in Zukunft beseitigen kann, erforderlich, wenn eine Wiederherstellung der Vertragstreue wahrscheinlich ist.

Die Kammer teilt nicht die Auffassung, der Kläger habe vorwerfbar die Vertrauensbasis zwischen den Parteien zerstört. Mit dieser Argumentation wäre das "Ultima ratio-Prinzip" entwertet. Die Behauptung der Beklagten, das Verhalten des Klägers habe gezeigt, dass er auch künftig seinen Pflichten nicht nachkommen wird, sondern letztlich selbst entscheidet, ob er informiert oder nicht, vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen und nicht zu teilen. Der Kläger hat auch in der mündlichen Verhandlung ein Fehlverhalten eingeräumt. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum sich der Kläger eine Abmahnung nicht zur Warnung dienen lassen sollte. Für die Kammer ist nicht ersichtlich, dass das Verhalten des Klägers durch grobe Rücksichtslosigkeit geprägt ist, der Gestalt, dass er seine Interessen einseitig über die Interessen der Beklagten setzt. Der Kläger hatte vielmehr in einer "Grauzone" agiert und vor dem Hintergrund der medialen Ereignisse nicht den Mut gehabt, sich der Beklagten zu offenbaren.

Die Kammer ist durchaus befremdet darüber, dass der Kläger nach dem Corona-Test am 19.06.2020 noch bis zum Schichtende im Betrieb der Beklagten gearbeitet hat, auch wenn der Kläger mündlich vorgetragen hat, er habe nur noch seine Unterlagen zusammengeräumt und dann den Betrieb der Beklagten verlassen. Aufgrund der von ihm geschilderten Unruhe und seinem Bestreben, über Herrn Z. und Herrn M. einen Corona-Test zu bekommen und dem am 19.06.2020 offenen Ausgang des Corona-Tests wäre der Kläger nach Ansicht der Kammer schon dazu verpflichtet gewesen, etwaige Risiken - und seien sie auch noch so gering - zu minimieren.

Insgesamt vermag die Kammer aber nicht zu erkennen, dass der Kläger nach Ausspruch einer Abmahnung ein derartiges Fehlverhalten im Betrieb der Beklagten fortsetzen würde.

3.

Damit ist nach dem "ultimaratio" Grundsatz auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung nicht sozial gerechtfertigt.

Damit besteht das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien fort.

II.

Da der Kläger mit seinem Feststellungsantrag in vollem Umfang obsiegt hat, war über den für diesen Fall hilfsweise gestellten Weiterbeschäftigungsantrag zu entscheiden. Der Kläger obsiegt auch mit dem für diesen Fall hilfsweise gestellten Antrag auf Weiterbeschäftigung. Der große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in seiner Entscheidung vom 27.02.1985 - GS 1/84 - darauf erkannt, dass das Interesse des Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers im Allgemeinen bis zum Zeitpunkt überwiegt, bis das Arbeitsgericht (d. h. die erste Instanz) die Kündigung für unwirksam erklärt hat, wie hier. Hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben, überwiegt im Allgemeinen das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers gegenüber dem Interesse des Arbeitgebers an einer Nichtbeschäftigung.

Die Beklagte hat im konkreten Fall keinerlei Gründe dafür vorgetragen, warum - ausnahmsweise - das Interesse einer Nichtbeschäftigung des Klägers im vorliegenden Fall das Interesse des Klägers an einer Weiterbeschäftigung überwiegen könnte.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 46 Abs. 2 AGG i. V. m. §§ 495 und 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Nach der letztgenannten Vorschrift trägt derjenige die Kosten des Rechtsstreites, der unterlegen ist. Dies ist hier die Beklagte.

Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß § 61 Abs. 1 AGG im Urteil festzusetzen. Die Höhe des Streitwertes ergibt sich im vorliegenden Fall für den Klageantrag zu Ziffer 1) aus § 42 Abs. 2 GKG. Danach ist für die Wertberechnung bei Rechtsstreitigkeiten vor den Gerichten für Arbeitsrechtssachen über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses höchstens der Betrag des für die Dauer eines Vierteljahres zu leistenden Arbeitsentgelts maßgeblich. Den Streitwert für den Weiterbeschäftigungsantrag hat die Kammer mit einem weiteren Bruttomonatsgehalt gewertet (vgl. dazu nur den Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichtsbarkeit in der aktualisierten Fassung vom 09.02.2018 Ziffer I.1).

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei Berufung eingelegt werden. Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.

Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim

Landesarbeitsgericht Hamm

Marker Allee 94

59071 Hamm

Fax: 02381 891-283

eingegangen sein.

Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite www.justiz.de.

Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.

Die Berufungsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:

1. Rechtsanwälte,

2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,

3. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

Eine Partei, die als Bevollmächtigte zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.

* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.

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