VG Köln, Beschluss vom 01.07.2020 - 20 L 1149/20
Fundstelle
openJur 2021, 13678
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • nachfolgend: Az. 15 B 950/20
Tenor

1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, Videoaufnahmen und Videoaufzeichnungen am Roncallliplatz in Köln-Innenstadt am 02.07.2020 zwischen 18.00 Uhr bis 20.00 Uhr durch die dort befindliche stationäre polizeiliche Videoanlage (5 Videokameras) an einem Kamerastandort am Roncalliplatz selbst und dem Standort "Domforum" (4 Videokameras) nach außen erkennbar mittels mechanischer/physischer Sperren an oder um die Videokameras unmöglich zu machen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.

2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Entsprechend dem Hauptantrag der Antragstellerin war die aus dem Tenor ersichtliche einstweilige Anordnung zu erlassen.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nach § 123 Abs. 1 Satz VwGO darf nur ergehen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dies setzt das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs sowie eines Anordnungsgrundes voraus, wobei die dem Anordnungsanspruch und -grund zugrunde liegenden Tatsachen vom Antragsteller glaubhaft zu machen sind (§ 123 VwGO i.V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht nach § 123 VwGO grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen. Dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt allerdings im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG dann nicht, wenn die gerichtliche Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist, weil dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Verletzung in seinen Grundrechten droht, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.10.1998 - 2 BvR 745/88 - juris Rn 17 f.

Ein Anordnungsgrund ist in einem solchen Fall nur dann glaubhaft gemacht, wenn es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten und der Anspruch in der Hauptsache schon aufgrund der im vorläufigen Rechtschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten mit hoher Wahrscheinlichkeit besteht.

Die von der Antragstellerin begehrte Anordnung läuft auf die Vorwegnahme der Hauptsache hinaus. Die danach erforderlichen qualifizierten Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs sind in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang erfüllt. Denn nach der hier alleine möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Antragstellerin einen aus Art. 8 Abs. 1 GG folgenden Anspruch gegen den Antragsgegner mit dem Inhalt hat, dass dieser Videoaufnahmen und Videoaufzeichnungen während der Versammlung der Antragstellerin nach außen erkennbar mittels mechanischer/physischer Sperren an oder um den Videokameras unmöglich macht.

Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen. Dabei ist der Schutzbereich nicht nur dann betroffen, wenn eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, sondern auch dann, wenn die Art und Weise ihrer Durchführung durch staatliche Maßnahmen beschränkt wird. Auch durch faktische Maßnahmen kann das Grundrecht der Versammlungsfreiheit beeinträchtigt werden, wenn diese in ihrer Intensität imperativen Maßnahmen gleichstehen und eine abschreckende oder einschüchternde Wirkung entfalten bzw. geeignet sind, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit derjenigen Personen zu beeinflussen, die an Versammlungen teilnehmen wollen.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 07.11.2015 - 2 BvQ 39/15 - und vom 11.06.1991 - 1 BvR 772/90 -; BVerwG, Urteil vom 25.10.2017 - 6 C 46.16; OVG NRW, Urteil vom 17.09.2019 - 15 A 4753/18 -.

Für den Fall der Videoüberwachung bzw. der polizeilichen Erstellung von Übersichtsaufzeichnungen ist anerkannt, dass diese zu gewichtigen Nachteilen führt und Einschüchterungswirkungen haben kann, die auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken und potentielle Versammlungsteilnehmer möglicherweise zu einem Verzicht auf die Ausübung ihres Grundrechts veranlassen. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig und hat den Antragsgegner zur Erteilung seiner schriftlichen Zusage mit Bescheid vom 24.06.2020 veranlasst, wonach während des Versammlungszeitraums in dem fraglichen räumlichen Bereich keine Videoaufnahmen und keine Videobeobachtung stattfinden werden.

In die Versammlungsfreiheit wird aber bereits durch die Präsenz der äußerlich funktionsfähig erscheinenden Kameras eingegriffen, da auch dadurch objektiv eine Einschüchterungs- und Abschreckungswirkung eintritt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Versammlungsteilnehmer nicht bzw. nicht hinreichend verlässlich erkennen können, ob die Kameras während der Versammlung in Betrieb sind oder nicht. Die Anbringung nach außen erkennbarer mechanischer/physischer Sperren - wie hier beantragt - stellt in diesen Fällen jedoch ein wirksames Mittel zur Beseitigung einer potentiellen Einschüchterungs- und Abschreckungswirkung und damit zur Verhinderung eines Grundrechtseingriffs dar.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13.03.2020 - 15 B 332/20 -; VG Köln, Beschuss vom 12.03.2020 - 20 L 453/20 -.

Vergleichbar wirksame Mittel zur Verhinderung eines Grundrechtseingriffs hat der Antragsgegner der Antragstellerin weder in der schriftlich erteilten Zusage vom 24.06.2020 noch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens zugesichert.

In der schriftlichen Zusage heißt es zwar, dass eine deutlich sichtbare und auch für hinzutretende Versammlungsteilnehmer und sonstige Interessierte erkennbare Beschilderung an der Örtlichkeit angebracht wurde, welche auf die Abschaltung der Anlage hinweise. Die damit in Bezug genommene Ausweitung und Veränderung der Beschilderung genügt den zu stellenden verfassungsrechtlichen Anforderungen jedoch voraussichtlich nicht. Dies gilt zum einen wegen ihrer zu geringen Wahrnehmbarkeit. In dem hier streitgegenständlichen Bereich Roncalliplatz und Domforum, der der erkennenden Kammer aus eigener Anschauung bekannt ist, sind die Schilder im oberen Bereich der vorhandenen Straßen-/Platzbeleuchtung angebracht und fallen aus diesem Grunde angesichts ihrer relativ geringen Größe eines ca. DIN A 4-Formats nicht ohne Weiteres ins Auge. Sie weisen zudem keinen unmittelbaren Zusammenhang zu den Kamerainstallationen auf, so dass sie nach Auffassung der Kammer bei Wahrnehmung der Videoanlagen entgegen der Ansicht des Antragsgegners gerade nicht unvermeidbar zur Kenntnis genommen werden. Zum anderen erschließt sich aber anhand dieser Schilder für einen verständigen Dritten ungeachtet des ergänzten Piktogramms einer Versammlung nicht, dass und auf welche Weise trotz der augenscheinlich funktionsbereiten Kameras tatsächlich keine Videobeobachtung erfolgt, da er die zugrunde liegenden technischen und verfahrensmäßigen Abläufe nicht notwendig kennt und diese - wie sich aus dem bei der Kammer anhängigen und den Beteiligten bekannten Verfahren 20 L 2340/19 ergibt - zudem fehlerbehaftet und nicht vollständig zuverlässig sind. Informationen auf der Internetpräsenz des Antragsgegners haben im Übrigen nach Auffassung der Kammer unabhängig davon, ob sie leicht oder schwierig zu finden sind, keinen maßgeblichen Einfluss auf die hier vorzunehmende Bewertung, da sie Versammlungsteilnehmern und Teilnahmeinteressierten ebenfalls nicht notwendig bekannt sind oder bekannt sein müssten.

Soweit der Antragsgegner sich auf die fehlende praktische Umsetzbarkeit der aufgegebenen Maßnahmen beruft, folgt die Kammer dem weiterhin nicht.

Hinsichtlich der hier konkret in Rede stehenden Kamerainstallation am Domforum gilt dies schon deshalb, weil diese sich aktuell hinter einem mit Planen versehenen Baustellengerüst befindet, bei dem die eigens für die Videobeobachtung gelassene Lücke in der Plane mit einfachsten Mitteln geschlossen werden könnte. Die Kameras müssten dabei nicht einmal berührt werden.

Aber auch hinsichtlich der Kamerainstallation auf dem Roncalliplatz erscheinen Lösungen praktikabel, sei es unter Verwendung einer Arbeitsbühne bzw. Hubarbeitsbühne,

vgl. Beschluss der Kammer vom 29.05.2020 - 20 L 968/20 -,

sei es unter Verwendung anderer Formen der Verdeckung oder Abdeckung der Anlage, gegebenenfalls ohne mit den Kameras in Berührung zu kommen. Eine übergangsweise Lösung durch den Hersteller wäre im vorliegenden Fall aber selbst nach den Angaben des Antragsgegners in seiner Antragserwiderung möglich gewesen. Die dargelegte notwendige Vorlaufzeit von 48 Stunden wäre vorhanden, der finanzielle Aufwand von knapp 2000,00 € hinzunehmen gewesen. Unabhängig davon aber liegen der Kammer konkrete Angaben des Herstellers zu der vorgetragenen faktischen Unmöglichkeit der Anbringung der hier in Rede stehenden Sperren nicht vor. Im Verwaltungsvorgang befindet sich lediglich ein Vermerk vom 04.06.2020 über ein Gespräch mit der Herstellerfirma über eine Verhüllung der Kameras, der zahlreiche Fragen offen lässt. Darüber hinausgehende Erkenntnisse oder Unterlagen gibt es nicht, wie der Antragsgegner auf telefonische Nachfrage der Kammer ausdrücklich bestätigt hat. Immerhin wurde die Firma nach dem Inhalt des Vermerks aufgefordert, interimsweise ein geeignetes Verfahren zur Verhüllung bis zur Bereitstellung einer dauerhaften Lösung zu entwickeln. Angesichts des seitdem vergangenen Zeitraums ist nicht auszuschließen, dass diese Bemühungen inzwischen erfolgreich waren. Eine weitere Rücksprache mit der Firma hat nach Aktenlage jedenfalls bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht stattgefunden.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da die einstweilige Regelung mit Blick auf die am 02.07.2020 stattfindende Versammlung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies gilt unabhängig davon, ob nachträglich Protokolldateien reproduziert und daraus Daten mit Einzelheiten über den Zeitpunkt der Aufzeichnung der Videoaufnahmen bzw. zur Auf- und Abschaltung oder zur Beobachtung generiert werden können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen Ziffer 1 dieses Beschlusses kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, Beschwerde eingelegt werden.

Statt in Schriftform kann die Einlegung der Beschwerde auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) erfolgen.

Die Beschwerdefrist wird auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, eingeht.

Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht schriftlich oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen.

Die Beteiligten müssen sich bei der Einlegung und der Begründung der Beschwerde durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.

Gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses kann innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde eingelegt werden. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann sie noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

Die Beschwerde ist schriftlich, zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, einzulegen.

Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.

Die Beschwerdeschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.

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