BGH, Urteil vom 20.01.2021 - 5 StR 390/20
Fundstelle
openJur 2021, 4756
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Lübeck vom 13. Mai 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den im Sicherungsverfahren gestellten Antrag auf Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt und angeordnet, dass der Beschuldigte für die Dauer der einstweiligen Unterbringung zu entschädigen ist. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Nachdem der Beschuldigte ab Mitte der 1970er Jahre Heroin, Kokain und LSD konsumiert und in erheblichem Umfang Alkohol zu sich genommen hatte, kehrte er 1978 in verwahrlostem Zustand in sein Elternhaus zurück. Nach einer Messerattacke auf seinen Vater wurde eine schizophrene Psychose diagnostiziert; das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. In den Folgejahren kam es wiederholt zu stationären Aufenthalten des Beschuldigten in der Psychiatrie, so unter anderem im Jahr 1980, nachdem er seine Großmutter mit einem Beil angegriffen und einen Hund mit einer Axt getötet hatte. Mitte 1983 wurde er wieder von der Großmutter aufgenommen.

Am 10. Mai 1984 tötete der Beschuldigte mit mehreren Axthieben seine Großmutter im Zustand der Schuldunfähigkeit aufgrund einer paranoiden Schizophrenie. Wegen dieses Geschehens ordnete das Landgericht Lübeck mit Urteil vom 8. März 1985 die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Mit Beschluss vom 6. Februar 2018 erklärte es die weitere Vollstreckung dieser Maßregel wegen Unverhältnismäßigkeit für erledigt. Der Beschuldigte hatte sich unter regelmäßiger Einnahme einer Depotmedikation psychisch stabilisiert und seit Juli 2017 ein Probewohnen in einer Eingliederungseinrichtung absolviert. Das Landgericht ordnete für die Dauer von drei Jahren Führungsaufsicht an, bestellte dem Beschuldigten einen Bewährungshelfer und wies ihn an, seinen Wohnsitz in der Einrichtung zu nehmen. Zudem sollte er sich ambulant psychiatrisch betreuen lassen und keine Suchtmittel konsumieren, was durch entsprechende Kontrollen beobachtet werden sollte.

Im Frühjahr 2019 musste der Beschuldigte die Einrichtung verlassen, weil sich Mitarbeiter von ihm bedroht fühlten. So hatte er im Januar 2019 an einen Mitarbeiter nach einer zufälligen Berührung bei der Essensausgabe die Worte gerichtet: "So etwas kann auch mal tödlich enden".

2. Das Landgericht hat zu den Anlasstaten unter anderem folgende Feststellungen getroffen:

a) Etwa einen Monat nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug konsumierte der Beschuldigte Cannabis. Die alle drei Monate notwendige Depotmedikation wurde ihm zuletzt am 29. Mai 2018 verabreicht; seither verweigerte er sie. Den im Rahmen der Führungsaufsicht angeordneten und im Zeitraum von April 2018 bis März 2019 vorgesehenen acht Atemalkohol- oder Urinkontrollen entzog er sich.

b) Am 23. August 2019 nahm der Beschuldigte in einem Supermarkt Batterien im Wert von ca. 10 Euro sowie Essigessenz im Wert von 0,69 Euro an sich und verließ ohne Bezahlung der Waren das Geschäft. Den am Tatort erschienenen Polizeibeamten gegenüber räumte er die Tat ein und gab an, er habe den Essig unverdünnt trinken wollen, weil ihn dies "reinige". Bei Durchsuchung seiner Person wurde ein eingeschränkt funktionsfähiges Springmesser gefunden.

3. Nach diesen Anlasstaten kam es zu weiteren Vorfällen. Am 26. August 2019 geriet der Beschuldigte in den Verdacht, in einem Einkaufsmarkt u.a. Batterien und Grillanzünder entwendet zu haben. Auf die Polizeibeamten machte er einen verwirrten Eindruck, weil er alle Menschen für "gechipt" und mit einem Laserstrahl überwacht hielt und "er eine Waffe bauen und alle erschießen wolle." Als er am 28. August 2019 zur zwangsweisen ärztlichen Behandlung einer Fußverletzung in ein Krankenhaus aufgenommen wurde, führte er ein Klappmesser und Skalpelle bei sich.

Am 9. September 2019 wurde seine Unterbringung nach landesrechtlichen Vorschriften mit der Begründung angeordnet, dass er "sich im Zuge eines akuten psychotischen Krankheitsschubes fremdaggressiv gezeigt und die notwendige Behandlung mit Psychopharmaka abgelehnt hatte."

4. Das Landgericht hat die Anlasstaten rechtlich als Verstoß gegen Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht (§ 145a StGB; Ablehnung von Atemalkohol- und Urinkontrollen) in acht Fällen sowie als Diebstahl mit Waffen (§ 242 Abs. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 1 StGB) bewertet. Es hat nicht ausschließen können, dass der Beschuldigte bei den Anlasstaten aufgrund seiner Erkrankung an einer paranoiden Schizophrenie im Zustand der Schuldunfähigkeit handelte.

Die Strafkammer hat sich - ohne dies ausdrücklich zu benennen - aus rechtlichen Gründen gehindert gesehen, nach § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Sie hat insoweit im Wesentlichen angeführt, es sei schon zweifelhaft, ob der Beschuldigte bei den Anlasstaten psychisch so beeinträchtigt gewesen sei, dass ein Zustand einer auch nur erheblich verminderten Schuldfähigkeit vorgelegen habe. Diese Frage könne aber letztlich offenbleiben, weil entgegen der Auffassung des angehörten Sachverständigen nicht festgestellt werden könne, dass der Beschuldigte infolge seines Zustands für die Allgemeinheit gefährlich sei. Die Anlasstaten seien unterhalb des Bereichs der mittleren Kriminalität einzuordnen und besondere Umstände nach § 63 Satz 2 StGB lägen nicht vor. Der vom Sachverständigen für den Fall der Nichtbehandlung des Beschuldigten erwarteten Exazerbation der Psychose und einer damit einhergehenden erheblichen Eigen- oder Fremdgefährdung müsse gegebenenfalls mit einer rechtzeitigen Unterbringung nach Landesrecht begegnet werden.

II.

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils. Die Ablehnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand, weil die Verneinung der für die Maßregel notwendigen Gefahrenprognose auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht.

1. Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB ist anzuordnen, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18; vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41, 42; jeweils mwN).

Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, aaO, mwN). Dabei sind etwaige Vortaten von besonderer Bedeutung (vgl. BGH, Urteil vom 23. November 2016 - 2 StR 108/16; Beschlüsse vom 18. August 2020 - 5 StR 318/20; vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306, 307); auch lange zurückliegenden Taten kann eine indizielle Bedeutung zukommen, wenn sie in einem inneren Zusammenhang zu der festgestellten Erkrankung gestanden haben und ihre Ursache nicht in anderen Umständen zu finden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306). Maßgeblich sind insofern insbesondere die individuell bedeutsamen Bedingungsfaktoren für die bisherige Delinquenz, deren Fortbestand, ihre fehlende Kompensation durch protektive Umstände und das Gewicht dieser Faktoren in zukünftigen Risikosituationen (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2009 - 5 StR 296/09, NJW 2010, 245).

2. Nach diesen Maßstäben begegnen die Erwägungen der Strafkammer zur Gefährlichkeitsprognose durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) So bleibt bereits der Maßstab, den das Landgericht zur Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschuldigten herangezogen hat, unklar. Denn es hat einerseits die Anordnung der Unterbringung abgelehnt, weil keine "konkrete Gefahr" bestehe, dass der Beschuldigte weitere erhebliche Taten begehen werde. Andererseits hat es die Einschätzung des Sachverständigen referiert, nach der "auch wieder erneute Tötungsdelikte möglich" seien. Beide Formulierungen verfehlen den rechtlichen Maßstab, der, wie dargelegt, eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades erfordert, aber auch ausreichen lässt. Diese Unklarheit entzieht der gesamten Gefahrenprognose die Grundlage.

b) Dessen ungeachtet erweist sich die Ablehnung der Unterbringung auch nicht aus anderen Gründen als tragfähig.

Nach den Feststellungen des Landgerichts ist der Beschuldigte bereits in der Vergangenheit krankheitsbedingt strafrechtlich in Erscheinung getreten und war von 1985 bis Februar 2018 wegen eines Tötungsdelikts im Maßregelvollzug untergebracht. Der damaligen Anlasstat lag das auch heute unverändert vorliegende Krankheitsbild der paranoiden Schizophrenie zugrunde. Die Begehung von Straftaten verhindernde protektive Umstände sind nicht ersichtlich, weil der Beschuldigte, wie die Anlasstaten zeigen, den im Rahmen der Führungsaufsicht erteilten Weisungen, die die Gefahr weiterer Straftaten verringern sollten, keine Folge leistete. Insbesondere nahm er das Depotmedikament nicht, konsumierte illegale Betäubungsmittel und musste aus der Wohneinrichtung ausziehen.

Gerade der Abbruch der regelmäßigen Medikation führt nach den Ausführungen des Sachverständigen bei dem Beschuldigten zu einer deutlich erhöhten Gefährlichkeit. Auch bei den schweren Gewalttaten zum Nachteil des Vaters und der Großmutter habe sich eine solche Gefahr realisiert. Im Falle einer Exazerbation der Psychose seien erneute Tötungsdelikte möglich.

Soweit die Strafkammer insoweit gemeint hat, der sich daraus resultierenden Gefahr müsse "durch rechtzeitige Unterbringung nach PsychKG" begegnet werden, ist dies im Rahmen der Gefahrenprognose nicht berücksichtigungsfähig und steht auch im Übrigen einer Anordnung nicht entgegen. Denn die Möglichkeit von weniger einschneidenden außerstrafrechtlichen Maßnahmen lässt bei angenommener Gefährlichkeit des Täters die Notwendigkeit einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht entfallen (BGH, Urteile vom 11. Dezember 2008 - 3 StR 469/08; vom 12. April 2017 - 2 StR 454/16, NStZ 2017, 579, 580).

3. Die Sache bedarf deshalb erneuter Prüfung und Entscheidung. Die Feststellungen waren aufzuheben, weil der Beschuldigte deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen im Rechtsmittelverfahren mangels Beschwer nicht überprüfen lassen konnte (Gericke in KK-StPO, 8. Aufl., § 353 Rn. 23).

4. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass das neue Tatgericht zur Schuldfähigkeit widerspruchsfreie Feststellungen zu treffen haben wird. Zur Strafbarkeit nach § 145a StGB ist im Urteil das Vorliegen einer rechtsfehlerfreien und strafbewehrten Weisung darzulegen (BGH, Beschluss vom 25. Februar 2020 - 4 StR 590/19, NStZ 2020, 480).

Gericke Berger Köhler Resch von Häfen Vorinstanz:

Lübeck, LG, 13.05.2020 - 772 Js 29231/19 (2) 1 KLs 004 Ss 66/20