SG Darmstadt, Gerichtsbescheid vom 10.07.2020 - S 17 SO 85/20
Fundstelle
openJur 2021, 4422
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid vom 30. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 wird aufgehoben.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger zu Recht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) bewilligt worden sind.

Der 1966 geborene Kläger beantragte am 24. November 2015 die Weitergewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei dem Beklagten.

Mit Bescheid vom 30. November 2015 bewilligte der Beklagte dem Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 2015 bis 30. November 2016 Leistungen nach dem 3. Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).

Mit Bescheid vom 30. November 2015 änderte der Beklagte die Bescheide vom 27. August 2014, 1. Dezember 2014 und 30. November 2015 dahingehend ab, dass für die Zeit vom 1. September 2014 bis 31. Dezember 2015 die monatlich zum Empfang der Geldleistungen entstandenen Fahrtkosten in der Berechnung berücksichtigt werden und die Leistungen neu festgesetzt werden. Für die Zeit vom 1. September 2014 bis 31. Dezember 2015 ergebe sich eine Nachzahlung in Höhe von 76,80 €. Für die Zeit ab Januar 2016 werden zunächst monatlich die Kosten für eine Tageskarte in Höhe von 4,90 € bei der Hilfeberechnung als Bedarf berücksichtigt.

Am 9. Dezember 2015 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 30. November 2015 über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII Widerspruch ein. Die Fehler seien alle Jahre wieder die gleichen. Er verweise auf die bereits im Jahr 2014 wiederholt eingereichten Widersprüche zum gleichen Thema.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus:

"Die Bewilligung von Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII zugunsten des Widerspruchsführers ist nicht zu beanstanden. Der auf Leistungen nach dem SGB II gerichtete Antrag steht dem nicht entgegen. Der Antrag war unabhängig vom Wortlaut entsprechend § 133 BGB anhand des wirklichen Willens des Antragstellers auszulegen. Demnach war die fortlaufende Gewährung von Leistungen gewollt. Wie bereits im vorausgegangenen Widerspruchsverfahren begehrt der Widerspruchsführer jedoch hinsichtlich der Art der Leistungen solche nach dem SGB I, obwohl er im laufenden Bezug von Leistungen nach SGB XII stand. Da die Voraussetzungen für Leistungen nach dem SGB XII gegeben waren und die Ablehnung von Leistungen nach SGB II bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. 07.2014 erfolgte, war nach dem Meistbegünstigungsprinzip von einem Weitergewährungsantrag auf Leistungen nach dem SGB XII auszugehen.

Der Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe besteht gem. § 17 SGB XII, soweit bestimmt wird, dass eine Leistung zu erbringen ist. Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 SGB I, § 8 Nr. 1 SGB XII zählt die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel SGB XII zu den Leistungen der Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel erhält gem. §§ 19 Abs. 1, 27 Abs. 1 und 2 SGB XII, wer seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus seinem Einkommen und Vermögen, bestreiten können.

Der Widerspruchsführer hat unstreitig weder Einkommen nach §§ 82 ff. SGB XII noch Vermögen gem. § 90 SGB XII. Maßgeblich kommt es daher auf die Voraussetzung "eigene Kräfte und Mittel" an. Mit dieser weiteren Formulierung wird u.a. die Selbstverpflichtung des Hilfeempfängers angesprochen, den Lebensunterhalt durch Einsatz der Arbeitskraft zu beschaffen (vgl. Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl. 2014, § 19 Rn.11).

Zum Bestreiten des Lebensunterhalts durch Einsatz der Arbeitskraft ist der Widerspruchsführer vorliegend jedoch auf nicht absehbare Zeit nicht in der Lage, mithin ist er nicht erwerbsfähig. Zur Frage der Erwerbsfähigkeit ist auf § 8 Abs. 1 SGB II zurückzugreifen. Demnach ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 44a SGB II hat das Gesundheitsamt des Leistungsträgers in seiner gutachterlichen Äußerung vom 08.07.2014 mitgeteilt, dass der Widerspruchsführer nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt durch zumutbare Arbeit von mindestens 3 Std. täglich selbst zu bestreiten. Aufgrund einer gravierenden und lang andauernden Störung ist eine Integration in Arbeit aktuell nicht möglich. In der weiteren Stellungnahme vom 15.01.2015 führt das Gesundheitsamt aus, dass der Widerspruchsführer zweimal zur Begutachtung eingeladen wurde, diese Termine jedoch nicht wahrgenommen hat. Des Weiteren wird angegeben:

"Zusammenfassend gehen wir aufgrund unseres persönlichen Gesprächseindrucks vom 01.10.2020, der Reaktion von Herrn A. auf unser damaliges sozialpsychiatrisches Beratungsangebot, der Informationen aus dem Amt für Arbeit und Soziales über das weitere Verhalten von Herrn A., sowie uns zur Kenntnis gegebene Schriftlichkeiten, die Herr A. dort vorgelegt hat, davon aus, dass eine psychische Erkrankung vorliegt. Diese Störung führt offensichtlich zu erheblichen Problemen im Kontakt mit anderen Menschen sowie auch im Umgang mit Institutionen und Behörden." Weiter wird dann noch ausgeführt: "Wir gehen davon aus, dass die von uns beobachteten Verhaltensweisen auch willentlich nicht von Herrn A. zu steuern und zu bessern sind. Deshalb ist unseres Erachtens eine Erwerbstätigkeit für mehr als 3 Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zurzeit und bis auf weiteres nicht vorstellbar."

Da der Widerspruchsführer somit wegen festgestellter Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit nicht erwerbsfähig im Sinne des SGB II ist, besteht kein Leistungsanspruch nach SGB II. Das Amt für Arbeit und Soziales hat gesetzkonform Leistungen nach SGB XII bewilligt.

Die Stellungnahmen des Gesundheitsamtes vom 08.07.2014 und 15.01.2015 haben auch weiterhin Bestand. Es liegen keine Anhaltspunkte dahingehend vor, dass sich die Grundlagen dieser Einschätzung geändert haben. Geänderte Tatsachen in diesem Sinne wurden auch nicht vorgetragen, vielmehr wurde auf die Begründung der Widersprüche aus 2014 verwiesen. Dementsprechend war auch für die vorliegende Entscheidung von den gleichen tatsächlichen Grundlagen auszugehen.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Widerspruchsführer nach den §§ 60 ff. SGB I verpflichtet ist, bei der Leistungsgewährung im Rahmen seiner Möglichkeiten mitzuwirken hat. Insbesondere ist er nach § 62 SGB I verpflichtet, sich auf Verlangen des Leistungsträgers ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsmaßnahmen zu unterziehen, soweit diese erforderlich sind. Außerdem ist er nach § 63 SGB I verpflichtet, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung zu unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass sie eine Besserung seines Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern.

Der Widerspruchsführer hat keinerlei Angebot des Leistungsträgers angenommen, sodass diesem nur eine Entscheidung nach Aktenlage möglich war. Aufgrund dessen sowie des sonstigen bekannten Verhaltens des Widerspruchsführers kam der Leistungsträger und das von ihm beauftrage Gesundheitsamt nach pflichtgemäßer Würdigung aller Umstände ermessensfehlerfrei zu der begründeten Überzeugung, dass der Widerspruchsführer nicht erwerbsfähig ist und somit nur Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII erhalten kann.

Insbesondere ist festzuhalten, dass der Widerspruchsführer in keinster Weise seinen Mitwirkungsverpflichtungen nachgekommen ist und auch nichts dafür getan hat, dass etwa durch eine ärztliche oder psychologische Untersuchung eine andere gegenteilige Einschätzung und Entscheidung hätte erfolgen können. Diese, auf seinem Verhalten beruhenden Entscheidungen, hat der Widerspruchsführer selbst zu vertreten und muss dies solange gegen sich wirken lassen, wie nicht festgestellt werden kann, ob er nicht doch erwerbsfähig ist. Dies ist jedoch nur durch sein Mitwirken möglich. Die Handhabung des Widerspruchsführers betreffend der erforderlichen Nachuntersuchung im Lauf dieses Jahres bleibt abzuwarten."

Der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 wurde dem Kläger am 11. März 2016 an seinem damaligen Aufenthaltsort, der JVA B-Stadt, zugestellt.

Mit Klageschrift vom 6. April 2016, beim Sozialgericht Wiesbaden eingegangen am 14. April 2016, hat der Kläger Klage erhoben.

Mit Beschluss vom 9. Mai 2016 hat das Sozialgericht Wiesbaden die Klage an das Sozialgericht Darmstadt verwiesen.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger vor, dass er Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII niemals beantragt habe und einen Leistungsbezug nach dem SGB XII grundsätzlich ablehne. Einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII weigere er sich, trotz ausdrücklicher Aufforderung, zu stellen, weil er die Leistungsvoraussetzungen nicht für gegeben halte und Leistungen nach dem SGB XII grundsätzlich (!) ablehne. Mit Leistungen nach dem SGB XII würde er sich selber schaden und seinen Leistungsbezug zementieren.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 30. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er darauf, dass der Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2015, mit dem Leistungen nach dem SGB II aufgehoben wurden, dem Kläger zugestellt worden sei und bestandskräftig sei.

Ausweislich des von der JVA an das Gericht übersandten Ausschnitts aus dem Zustellungsbuch der JVA B-Stadt wurde dem Kläger am 11. März 2016 eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts in dem Verfahren L 6 AS 640/13, L 6 AS 242/13, L 6 AS 495/13, L 6 AS 637/13 ausgehändigt. Angaben dazu, wann der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 dem Kläger in der JVA übergeben wurde, wurden nicht gemacht.

Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

II.

Das Gericht konnte nach § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Der Sachverhalt ist geklärt und weist keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf. Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden.

Das Sozialgericht Darmstadt ist aufgrund des Verweisungsbeschlusses des Sozialgerichts Wiesbaden zuständig. Nach § 98 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ist der Beschluss für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend.

Die Klage betrifft eine Streitsache in Angelegenheiten der Sozialhilfe (SGB XII). Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Sozialgerichts Darmstadt ist die 17. Kammer des Sozialgerichts Darmstadt für Streitsachen in Angelegenheiten der Sozialhilfe (SGB XII) für den gesamten Gerichtsbezirk zuständig.

Die Klage ist zulässig. Zwar hat der Kläger nicht innerhalb der Klagefrist von einem Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 Klage erhoben. Der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 11. März 2016 an diesem Tag dem zum Empfang berechtigten Vertreter des Leiters der Einrichtung übergeben. Grundsätzlich wäre die Klagefrist damit am Montag, 11. April 2016, abgelaufen gewesen. Die Klageschrift vom 6. April 2016 ging erst am 14. April 2016 bei dem Sozialgericht Wiesbaden ein. Dem Kläger ist allerdings von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG zu gewähren. Denn aufgrund der Ermittlungen des Gerichts lässt sich nicht feststellen, an welchem Tag dem Kläger der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 übergeben wurde. Nach dem vorgelegten Auszug aus dem Zustellungsbuch der JVA B-Stadt wurde dem Kläger am 11. März 2016 eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts ausgehändigt. Dass keine weiteren Eintragungen im Zustellungsbuch vorgelegt wurden, spricht dafür, dass es dort keine weiteren Eintragungen gibt, mithin nicht festgestellt werden kann, dass dem Kläger tatsächlich am 11. März 2016 der Widerspruchsbescheid vom 8. März 2016 ausgehändigt wurde.

Die Klage ist begründet.

Der Kläger ist inzwischen durch den Bescheid vom 30. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 2016 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG. Jedenfalls mit der Klageschrift ist der streitige Bescheid rechtswidrig geworden. Der Kläger hat im Rahmen der Klageschrift auf diese Leistungen nach dem SGB XII verzichtet (§ 46 SGB I). Nach § 46 Abs. 1 SGB I kann auf Ansprüche auf Sozialleistungen durch schriftlich Erklärung gegenüber dem Leistungsträger verzichtet werden. Der Verzicht bewirkt das Erlöschen des Sozialleistungsanspruchs, so dass die Bewilligung von Leistungen aufzuheben ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass erst mit der Verzichtserklärung im Rahmen der Klageschrift die Rechtswidrigkeit des streitigen Bescheides eingetreten ist, der Beklagte mithin keinen Anlass zur Klageerhebung gegeben hat.

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