LAG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 11.08.2020 - 5 SaGa 3/20
Fundstelle
openJur 2021, 4036
  • Rkr:

1. Nach § 3 Abs. 5 Satz 1 des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) ist der Arbeitgeber bei begründeter Veranlassung berechtigt, Beschäftigte zu verpflichten, durch ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, dass sie zur Leistung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit in der Lage sind.

2. Eine amtsärztliche Untersuchung kann nicht nur aus Gründen der Fürsorge für den betroffenen Arbeitnehmer geboten sein, sondern auch dem Schutz anderer Beschäftigter oder sonstiger Dritter dienen, beispielsweise bei Ansteckungskrankheiten.

3. Die amtsärztliche Untersuchung dient allerdings nicht dazu, die Berechtigung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu überprüfen oder eine Prognose über künftige Arbeitsunfähigkeitszeiten einzuholen. Ebenso wenig hat die amtsärztliche Untersuchung den Zweck, eine Grundlage für eine evtl. beabsichtigte personenbedingte Kündigung zu schaffen.

Tenor

1. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

A.

Mit der einstweiligen Verfügung strebte die Klägerin eine Befreiung von der Teilnahme an einer amtsärztlichen Untersuchung an.

Die im April 1968 geborene Klägerin ist seit Beginn ihrer Ausbildung am 01.09.1984 an der Universität A-Stadt beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft vertraglicher Bezugnahme der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) Anwendung. Die Klägerin ist in Vollzeit tätig und langjährig im Sekretariat der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät eingesetzt. Seit dem Jahr 2010 ist sie einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt; ihr wurde ein Grad der Behinderung von 40 zuerkannt.

Die Klägerin war in der Vergangenheit vermehrt arbeitsunfähig. In den Jahren 2011 bis 2019 (bis 06.11.2019) traten folgende Fehlzeiten auf:

Jahr    Entgeltfortzahlung (EFZ) Beginn Ende    Werktage Kalendertage                                                               Krankheit mit EFZ 28.02.2011 04.03.2011 5        5        Krankheit mit EFZ 26.04.2011 13.05.2011 14     18     Krankheit mit EFZ 27.06.2011 15.07.2011 15     19     Krankheit mit EFZ 08.08.2011 12.08.2011 5        5        Krankheit ohne EFZ 13.08.2011 09.09.2011 20     28     Krankheit ohne EFZ 12.09.2011 14.10.2011 25     33     Krankheit ohne EFZ 17.10.2011 21.10.2011 5        5        Krankheit ohne EFZ 24.10.2011 28.10.2011 5        5        2011    gesamt                   94     118                                                                     Krankheit mit EFZ 30.04.2012 11.05.2012 10     12              Krankheit mit EFZ 04.07.2012 06.07.2012 3        3                 Krankheit mit EFZ 12.11.2012 30.11.2012 15     19              Krankheit mit EFZ 17.12.2012 21.12.2012 5        5        2012    gesamt                   33     39                                                                    Krankheit mit EFZ 11.02.2013 08.03.2013 20     26              Krankheit mit EFZ 17.04.2013 19.04.2013 3        3                 Krankheit mit EFZ 24.05.2013 28.05.2013 3        5                 Krankheit mit EFZ 29.05.2013 14.06.2013 13     17              Krankheit mit EFZ 17.07.2013 02.08.2013 13     17              Krankheit mit EFZ 12.08.2013 23.08.2013 10     12              Krankheit mit EFZ 01.10.2013 04.10.2013 4        4                 Krankheit mit EFZ 14.10.2013 24.11.2013 30     42              Krankheit ohne EFZ 25.11.2013 31.12.2013 27     37     2013    gesamt                   123      163                                                                     Krankheit ohne EFZ 01.01.2014 30.06.2014 129      181               Krankheit ohne EFZ 01.07.2014 31.07.2014 23     31              Krankheit mit EFZ 13.08.2014 15.08.2014 3        3        2014    gesamt                   155      215                                                                     Krankheit mit EFZ 17.02.2015 20.02.2015 4        4                 Krankheit mit EFZ 17.03.2015 20.03.2015 4        4                 Krankheit mit EFZ 24.06.2015 26.06.2015 3        3                 Krankheit mit EFZ 07.09.2015 02.10.2015 20     26              Krankheit mit EFZ 05.10.2015 09.10.2015 5        5        2015    gesamt                   36     42                                                                    Krankheit mit EFZ 01.02.2016 12.02.2016 10     12              Krankheit mit EFZ 26.04.2016 20.05.2016 19     25              Krankheit mit EFZ 19.09.2016 23.09.2016 5        5                 Krankheit mit EFZ 13.10.2016 04.11.2016 17     23     2016    gesamt                   51     65                                                                    Krankheit mit EFZ 15.02.2017 17.02.2017 3        3                 Krankheit mit EFZ 15.03.2017 13.04.2017 22     30              Krankheit mit EFZ 07.06.2017 09.06.2017 3        3                 Krankheit mit EFZ 28.08.2017 15.09.2017 15     19              Krankheit mit EFZ 18.09.2017 19.09.2017 2        2                 Krankheit mit EFZ 12.10.2017 27.10.2017 12     16              Krankheit mit EFZ 06.12.2017 08.12.2017 3        3        2017    gesamt                   60     76                                                                    Krankheit mit EFZ 18.01.2018 26.01.2018 7        9                 Krankheit mit EFZ 06.03.2018 06.04.2018 22     32              Krankheit mit EFZ 19.04.2018 19.04.2018 1        1                 Krankheit mit EFZ 20.06.2018 29.06.2018 8        10              Krankheit mit EFZ 26.09.2018 12.10.2018 12     17              Krankheit mit EFZ 05.11.2018 16.11.2018 10     12              Krankheit mit EFZ 06.12.2018 21.12.2018 12     16     2018    gesamt                   72     97                                                                    Krankheit mit EFZ 04.03.2019 08.03.2019 5        5                 Krankheit mit EFZ 19.03.2019 22.03.2019 4        4                 Krankheit mit EFZ 25.03.2019 03.05.2019 30     40              Krankheit mit EFZ 24.05.2019 24.05.2019 1        1                 Krankheit mit EFZ 03.06.2019 12.07.2019 30     40              Krankheit mit EFZ 14.08.2019 30.08.2019 13     18              Krankheit mit EFZ 30.09.2019 02.10.2019 3        3                 Krankheit mit EFZ 18.10.2019 25.10.2019 6        8        2019    Stand 06.11.                   92     119     

Die Klägerin erhält seit 2015 die Vergütung der Entgeltgruppe 6 TV-L, was zuletzt einem monatlichen Bruttogehalt von € 3.047,03 entsprach.

Am 04.12.2019 führte der Beklagte mit der Klägerin ein Personalgespräch wegen der aufgetretenen Fehlzeiten. An dem Gespräch nahmen Herr Prof. Dr. B. als Dekan der Fakultät, Herr Prof. Dr. M. als Fachvorgesetzter der Klägerin, Frau R. als Referatsleiterin Personalservice, die Personalsachbearbeiterin G. als Protokollantin, Frau T. als Vertrauensfrau der Schwerbehinderten sowie die Klägerin mit ihrem Prozessbevollmächtigten teil. Die Referatsleiterin Personalservice sprach u. a. die Möglichkeit einer Erwerbsminderungsrente oder einer befristeten Teilzeitbeschäftigung an. Des Weiteren kündigte sie an, eine amtsärztliche Untersuchung zu veranlassen.

Mit Schreiben vom 18.12.2019 an das Gesundheitsamt A-Stadt ordnete der Beklagte eine amtsärztliche Untersuchung an

"zur künftigen gesundheitlichen Eignung von Frau A., insbesondere auch hinsichtlich der Frage, ob die Gesundheitsprognose weiterhin schlecht ist oder ob zu erwarten ist, dass die Fehlzeiten abnehmen und auf ein durchschnittliches Maß reguliert werden."

Die Klägerin erhielt dieses Schreiben am 19.12.2019 zur Kenntnis, verbunden mit der Aufforderung, einen Termin beim Amtsarzt zu vereinbaren.

Die Klägerin hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, dass der Beklagte nicht berechtigt sei, eine amtsärztliche Untersuchung anzuordnen, da es an einer begründeten Veranlassung im Sinne des Tarifvertrages fehle. Die Klägerin sei gesundheitlich in der Lage, ihre arbeitsvertraglich geschuldete Leistung zu erbringen. Daran gebe keinerlei Zweifel, zumal Herr Prof. Dr. M. in dem Personalgespräch am 04.12.2019 erklärt habe, dass die Klägerin, wenn sie anwesend sei, gute Arbeit leiste. Darüber hinaus habe der Beklagte den Personalrat nicht beteiligt.

Der Erlass einer einstweiligen Verfügung sei erforderlich, da sich die Klägerin bei Nichtbefolgung der Anweisung zur amtsärztlichen Untersuchung arbeitsrechtlichen Sanktionen aussetze. Mit der Anweisung greife die Arbeitgeberin in das grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsrecht der Klägerin sowie in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Das sei bei der Auslegung des § 3 Abs. 5 TV-L zu beachten, sofern diese Vorschrift überhaupt eine ausreichende Rechtsgrundlage für Eingriffe in Grundrechte und Menschenrechte der Klägerin bieten könne.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

die Verfügungsklägerin im Wege einer einstweiligen Verfügung von der Vorstellung zur amtsärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt, Amtsärztlicher Dienst, P.straße, A-Stadt, zu entbinden,

hilfsweise bis zum rechtskräftigen Abschluss eines sich gegebenenfalls anschließenden Hauptsacheverfahrens zu entbinden.

Der Beklagte hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er sei angesichts der wiederholten Erkrankungen nach dem Tarifvertrag berechtigt gewesen, eine amtsärztliche Untersuchung der Klägerin anzuordnen. Die Universität habe seit dem Jahr 2006 verschiedene Anstrengungen unternommen, um den Fehlzeiten der Klägerin entgegenzuwirken. So sei ihr Arbeitsplatz ergonomisch ausgestattet worden. Des Weiteren habe sie einen helleren Raum erhalten. Der Beklagte habe ihr höherwertige Aufgaben übertragen und damit eine Gehaltserhöhung ermöglicht, nachdem die Klägerin einen Mangel an Wertschätzung beklagt habe. Dennoch seien wiederum erhebliche Fehlzeiten aufgetreten. Ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats bestehe nicht, da die Anordnung der amtsärztlichen Untersuchung gegenüber einem einzelnen Beschäftigten dem individualrechtlichen Bereich zuzuordnen sei.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag zunächst ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss vom 30.12.2019 zurückgewiesen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Klägerin hat es mit Urteil vom 12.02.2020 zurückgewiesen. Das Arbeitsgericht hat zwar Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Untersuchungsauftrags geäußert, diese Frage aber letztlich offengelassen. Jedenfalls fehle es an einem Verfügungsgrund. Ein offensichtlicher Verstoß gegen § 3 Abs. 5 TV-L liege nicht vor. Zudem habe es keine zeitliche Vorgabe für die amtsärztliche Untersuchung gegeben, weshalb die Klägerin durch Hinausschieben des Untersuchungstermins ihre Rechte selbst wahren könne. Im Übrigen habe sie noch immer kein Hauptsacheverfahren eingeleitet.

Hiergegen hat sich die Klägerin mit ihrer frist- und formgerecht eingelegten Berufung gewandt. Das Arbeitsgericht habe die Reichweite des grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechts der Klägerin und ihres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verkannt. Die Klägerin habe einer Verarbeitung ihrer Gesundheitsdaten nicht zugestimmt. Vorsorglich widerrufe sie eine ggf. erteilte Einwilligung. Zudem setze der Beklagte die Klägerin mit der Aufforderung, das Gesundheitsamt aufzusuchen, konkreten Gefahren aus, da die Gesundheitsämter derzeit mit der Abklärung von Coronavirus-Fällen befasst seien. Das Gesundheitsamt habe unmittelbaren Kontakt zu erkrankten Personen. Das Virus sei hochansteckend.

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts entfalle die Eilbedürftigkeit nicht deshalb, weil die Klägerin nicht umgehend ein Hauptsacheverfahren eingeleitet habe. Das ergebe sich schon aus § 926 Abs. 1 ZPO. Danach müsse ein Hauptsacheverfahren erst nach einem entsprechenden Antrag der gegnerischen Partei eingeleitet werden. Zudem könne die Klägerin die amtsärztliche Untersuchung nicht ohne weiteres hinauszögern, ohne mit arbeitsrechtlichen Sanktionen rechnen zu müssen. Im Übrigen werde auf das erstinstanzliches Vorbringen Bezug genommen und für den Fall des Unterliegens angeregt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen.

Die Klägerin hat im Berufungsverfahren den Antrag angekündigt,

unter Abänderung des arbeitsgerichtlichen Beschlusses vom 30.12.2019 und des Urteils vom 12.02.2020 – 4 Ga 31/19 – die Verfügungsklägerin von der Vorstellung zur amtsärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt, Amtsärztlicher Dienst, P.straße, A-Stadt, zu entbinden,

hilfsweise bis zum rechtskräftigen Abschluss eines sich gegebenenfalls anschließenden Hauptsacheverfahrens zu entbinden.

Der Beklagte hat die Zurückweisung der Berufung verlangt. Er hat die Entscheidung des Arbeitsgerichts verteidigt. Der Tarifvertrag biete eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Anordnung der amtsärztlichen Untersuchung. Datenschutzrechtlich sei diese nach § 10 des Datenschutzgesetzes für das Land Mecklenburg-Vorpommern (DSG M-V) zulässig.

Die Parteien haben das Verfahren auf Erlass der einstweiligen Verfügung in der mündlichen Verhandlung am 11.08.2020 für erledigt erklärt und eine Kostenentscheidung nach § 91a ZPO beantragt. Die Arbeitgeberin hält eine amtsärztliche Untersuchung derzeit für nicht mehr erforderlich, da sich die die Fehlzeiten der Klägerin seit Anfang 2020 deutlich verringert haben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie die angegriffenen arbeitsgerichtlichen Entscheidungen verwiesen.

B.

Haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, so entscheidet das Gericht über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen durch Beschluss (§ 91a Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Ermessensentscheidung ist regelmäßig daran auszurichten, wer die Kosten zu tragen gehabt hätte, wenn die Erledigung nicht eingetreten wäre. Die Kosten sind den Parteien ganz oder teilweise in demjenigen Umfang aufzuerlegen, in dem sie das Verfahren voraussichtlich verloren hätten (z. B. BAG, Beschluss vom 02. Januar 2018 – 6 AZR 235/17 – Rn. 18 = NZA 2018, 325; BAG, Beschluss vom 22. Januar 2004 – 1 AZR 495/01 – Rn. 12, juris = ZTR 2004, 268; Zöller/Althammer, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 91a, Rn. 24).

Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand hätten beide Parteien den Rechtsstreit zu etwa gleichen Teilen verloren und gewonnen. Es entspricht daher billigem Ermessen, die Kostenlast auf beide Parteien gleichmäßig zu verteilen.

Nach § 940 ZPO, § 62 Abs. 2 Satz 1, § 64 Abs. 7 ArbGG kann das Gericht eine einstweilige Verfügung zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Verfügungsanspruch und der Verfügungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2, § 936 ZPO).

Die Klägerin war nach dem bisherigen Sach- und Streitstand berechtigt, der Anordnung vom 18.12.2019 nicht Folge zu leisten. Diese Anordnung entsprach nicht den Vorgaben des § 3 Abs. 5 TV-L. Daraus ergibt sich aber noch kein Anspruch der Klägerin auf eine dauerhafte Entbindung von der Vorstellung zur amtsärztlichen Untersuchung bzw. einer Entbindung hiervon bis zum rechtskräftigen Abschluss eines evtl. Hauptsacheverfahrens, wie sie es beantragt hat. Um die Rechte der Klägerin vorläufig zu wahren und sie vor wesentlichen Nachteilen zu schützen, hätte es genügt, dem Beklagten eine Durchsetzung der Anordnung vom 18.12.2019 untersagen zu lassen.

I.

Nach § 3 Abs. 5 Satz 1 TV-L ist der Arbeitgeber bei begründeter Veranlassung berechtigt, Beschäftigte zu verpflichten, durch ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, dass sie zur Leistung der arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeit in der Lage sind.

Von einer "begründeten Veranlassung" ist auszugehen, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zweifelhaft ist, ob der Arbeitnehmer seine vertraglich geschuldete Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen noch erbringen kann (vgl. BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17 – Rn. 29, juris = NZA 2018, 845). Solche Zweifel können sich auch aus hohen Krankheitszeiten ergeben (BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17 – Rn. 29, juris = NZA 2018, 845; LAG Nürnberg, Urteil vom 19. Mai 2020 – 7 Sa 304/19 – Rn. 25, juris).

Die Pflicht des Arbeitnehmers, eine ärztliche Untersuchung zu dulden und an ihr mitzuwirken, verstößt nicht generell gegen höherrangiges Recht. Zwar führen eine ärztliche Untersuchung und die daran anschließende Offenbarung personenbezogener Daten durch den Arzt gegenüber dem Arbeitgeber regelmäßig zu einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Die Pflicht des Arbeitnehmers zur Mitwirkung an einer vom Arbeitgeber verlangten ärztlichen Untersuchung beeinträchtigt dieses Recht jedoch nicht übermäßig. Der Arbeitgeber kann die Mitwirkung des Arbeitnehmers nicht willkürlich, sondern nur bei begründeter Veranlassung, also nur bei berechtigten Zweifeln an der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten verlangen. Daran hat er ein berechtigtes Interesse, da ein arbeitsunfähiger Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die Mitwirkungspflicht des Arbeitnehmers ist die Kehrseite der Pflicht des Arbeitgebers zur Rücksichtnahme auf die Belange des Arbeitnehmers, die es gebietet, eine Überforderung des Arbeitnehmers zu vermeiden. In Abwägung hiermit sind die gegenläufigen Interessen des Arbeitnehmers, selbst über die Vornahme einer ärztlichen Untersuchung und die Offenlegung von Befunden über seinen Gesundheitszustand zu entscheiden, ausreichend durch die dem untersuchenden Arzt obliegende Schweigepflicht geschützt (BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17 – Rn. 37, juris = NZA 2018, 845; LAG Nürnberg, Urteil vom 19. Mai 2020 – 7 Sa 304/19 – Rn. 25, juris).

Eine amtsärztliche Untersuchung kann nicht nur aus Gründen der Fürsorge für den betroffenen Arbeitnehmer geboten sein, sondern auch dem Schutz anderer Beschäftigter oder sonstiger Dritter dienen (BAG, Urteil vom 15. Juli 1993 – 6 AZR 512/92 – Rn. 24, juris = NZA 1994, 851), beispielsweise bei Ansteckungskrankheiten. Die amtsärztliche Untersuchung nach § 3 Abs. 5 TV-L dient aber nicht dazu, die Berechtigung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu überprüfen oder eine Prognose über künftige Arbeitsunfähigkeitszeiten einzuholen. Ebenso wenig hat die amtsärztliche Untersuchung den Zweck, eine Grundlage für eine evtl. beabsichtigte personenbedingte Kündigung zu schaffen. Maßgeblich ist allein die Fürsorge gegenüber dem betroffenen Arbeitnehmer oder anderen Beschäftigten bzw. Dritten. Die Fürsorgepflicht kann es gebieten, den Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auf dem bisherigen Arbeitsplatz zu beschäftigen oder ihn nur noch in Teilzeit zu beschäftigen. Das gilt erst recht, wenn sich bei einer unveränderten Fortbeschäftigung der Gesundheitszustand verschlechtern würde oder hierdurch eine Genesung verhindert wird.

Verweigert ein Arbeitnehmer unberechtigt die vom Arbeitgeber angeordnete amtsärztliche Untersuchung, verletzt er eine (Neben-)Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis. Diese Pflichtverletzung kann den Arbeitgeber zu einer Abmahnung (vgl. LAG Nürnberg, Urteil vom 19. Mai 2020 – 7 Sa 304/19 – Rn. 24, juris) oder je nach Umständen des Einzelfalls auch zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigen (BAG, Urteil vom 25. Januar 2018 – 2 AZR 382/17 – Rn. 27, juris = NZA 2018, 845; BAG, Urteil vom 06. November 1997 – 2 AZR 801/96 – Rn. 23, juris = NZA 1998, 326; LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 12. Mai 2009 – 5 Sa 458/08 – Rn. 41, juris = ZMV 2009, 334). Der Arbeitnehmer kann die angeordnete amtsärztliche Untersuchung aber verweigern, wenn der Arbeitgeber in seinem Schreiben an den amtsärztlichen Dienst überschießende Angaben zu Problemen des Arbeitnehmers bei der Arbeit macht oder Fragen stellt, die über eine Beurteilung der Leistungsfähigkeit hinausgehen (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. August 2012 – 6 Sa 568/12 – Rn. 32, juris = EzTöD 100 § 3 TVöD-AT Ärztliche Untersuchung Nr. 1).

Die Klägerin musste der Anordnung zur amtsärztlichen Untersuchung vom 18.12.2019 nicht nachkommen, da die Fragestellung des Beklagten nicht, jedenfalls nicht allein, auf die Feststellung der Arbeitsfähigkeit bezogen war. Der Untersuchungsauftrag diente nicht dazu, im Sinne der Fürsorge für die Klägerin ärztlich feststellen zu lassen, ob sie ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen noch vollumfänglich erbringen kann. Vielmehr richtete sich der Untersuchungsauftrag im Schwerpunkt ("insbesondere") auf eine Prognose zum Umfang der zukünftig zu erwartenden Fehlzeiten.

Daraus folgt aber nicht, dass eine erneute Anordnung der amtsärztlichen Untersuchung nicht berechtigt sein kann, wenn eine begründete Veranlassung im Sinne des § 3 Abs. 5 TV-L besteht. Der klägerische Antrag ist auf eine Entbindung von der Vorstellung zur amtsärztlichen Untersuchung beim Gesundheitsamt gerichtet. Eine anlassbezogene oder zeitliche Einschränkung enthält der Antrag nicht. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, sich dauerhaft einer amtsärztlichen Untersuchung zu entziehen. Ebenso wenig kann sie verlangen, dass eine amtsärztliche Untersuchung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines evtl. Hauptsacheverfahrens ausgesetzt wird. Wenn in dieser Zeit begründete Zweifel an ihrer Arbeitsfähigkeit auftreten sollten, bleibt der Beklagte berechtigt, von seinem Recht aus § 3 Abs. 5 TV-L Gebrauch zu machen.

II.

Soweit ein Verfügungsanspruch bestand, erschien die Regelung eines einstweiligen Zustandes zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig. Das schutzwürdige Interesse an der Wahrung des Persönlichkeitsrechts der Klägerin überwog das Interesse des Beklagten an der Durchsetzung einer voraussichtlich nicht rechtmäßigen Weisung. Dem Beklagten oder anderen Beschäftigten bzw. sonstigen Dritten drohten im Falle einer vorläufigen Aussetzung der Anordnung vom 18.12.2019 keine schwerwiegenden Nachteile.

Die Klägerin hat die Eilbedürftigkeit nicht selbst herbeigeführt. Zwar kann es dem Erlass einer einstweiligen Verfügung entgegenstehen, wenn der Antragsteller durch langes Zuwarten die nach §§ 935, 940 ZPO erforderliche Dringlichkeit selbst widerlegt, indem er in Kenntnis der Rechtsbeeinträchtigung längere Zeit untätig bleibt und seinen Anspruch nicht (gerichtlich) geltend macht (LAG Hessen, Beschluss vom 26. März 2018 – 16 TaBVGa 57/18 – Rn. 23, juris). Das trifft auf die Klägerin aber nicht zu. Sie hat sich nach Zugang der Anordnung vom 18.12.2019 umgehend an das Arbeitsgericht gewandt.

Die Klägerin konnte ihre Rechte weder durch ein Hauptsacheverfahren noch durch eine Verweigerung der amtsärztlichen Untersuchung wahren. Es war ihr nicht zuzumuten, ihr Arbeitsverhältnis durch die Nichtbefolgung der Anweisung nachhaltig zu gefährden.

Die Klägerin war nicht gehalten, zeitgleich zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ein Hauptsacheverfahren einzuleiten. Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil noch kein Hauptsacheverfahren anhängig ist (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. September 2009 – 10 SaGa 9/09 – Rn. 36, juris; LAG Baden-Württemberg, Beschluss vom 05. August 2005 – 5 TaBV 5/05 – Rn. 9, juris = AiB 2006, 381). Das folgt aus § 926 Abs. 1 ZPO. Danach ist die Hauptsache erst dann einzuleiten, wenn die einstweilige Verfügung erlassen wurde und die gegnerische Partei einen entsprechenden Antrag stellt.

C.

Gegen diesen Beschluss ist gemäß § 72 Abs. 4 ArbGG, § 99 Abs. 1 ZPO kein Rechtsmittel gegeben (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 78, Rn. 48; vgl. BGH, Beschluss vom 08. Mai 2003 - I ZB 40/02 - Rn. 15, juris = NJW-RR 2003, 1075). Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde kommt von vornherein nicht in Betracht, da gegen eine Entscheidung in der Hauptsache kein Rechtsmittel eingelegt werden kann.