LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.09.2020 - 8 Sa 251/20
Fundstelle
openJur 2021, 3346
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2 Ca 2343/19

§ 4 II.1. des Bundesmanteltarifvertrages für die Süßwarenindustrie in der Fassung vom 14.05.2007 verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, soweit dort hinsichtlich der Höhe der Nachtzuschläge danach differenziert wird, ob Nachtarbeit im Rahmen einer Schichtarbeit oder außerhalb einer solchen erfolgt.

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 24.01.2020 Az.: 2 Ca 2343/19 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe von Nachtarbeitszuschlägen für im Rahmen von Nachtschichten geleistete Arbeitsstunden.

Die 54 Jahre alte Klägerin ist seit dem 11.02.1985 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Süßwarenindustrie, in deren Betrieb in H. tätig und erbringt dort in einem Schichtsystem regelmäßig Nachtschichten. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Bundesmanteltarifvertrag für die Süßwarenindustrie Anwendung. Der BMTV in der Fassung vom 14.05.2007 enthält u.a. folgende Bestimmungen:

"§ 3

Arbeitszeit

1.Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen 38 Stunden an in der Regel 5 Werktagen in der Woche.

2.Zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber werden in Betriebsvereinbarungen die regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeiten festgelegt. Dabei kann eine betriebliche Arbeitszeit von bis zu 48 Stunden in der Woche ohne Mehrarbeitszuschläge vereinbart werden. …

…

§ 4

Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-,

Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

I.Begriffsbestimmungen

1.Schichtarbeit ist die regelmäßige tägliche vereinbarte Arbeitszeit, unabhängig von der zeitlichen Lage.

Wechselschicht liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt, wobei dieser Rhythmus zusammenhängend mindestens eine volle Arbeitswoche dauert.

2.Mehrarbeit ist die über die jeweils betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, soweit es sich nicht um einen zulässigen Ausgleich für ausgefallene Arbeitszeit an einzelnen Werktagen handelt.

…

Mehrarbeit ist, soweit es nur irgendwie angängig ist, zum Beispiel durch zusätzliche Einstellung von Arbeitnehmern oder durch Einlegung von Schichten nach Maßgabe der betrieblichen und betriebstechnischen Möglichkeiten zu vermeiden. …

3.Nachtarbeit ist die Zeit zwischen 22 und 6 Uhr.

4.…

5.Bei Schichtarbeit kann eine Verschiebung der Zeiträume der Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit entsprechend den Schichtzeiten im Einverständnis mit dem Betriebsrat betrieblich festgelegt werden.

6.Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit ist ebenso wie Mehrarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie ist - außer bei üblicher Schichtarbeit - im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nur vorübergehend in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit im Einverständnis mit dem Betriebsrat zulässig. …

…

II.Vergütung

1.Für Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a)für Mehrarbeit, die in die Tageszeit von 6 bis 22 Uhr fällt 25 v.H.

ab der 3. Mehrarbeitsstunde täglich 40 v.H.

b)für Nachtarbeit

Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit, die in die Nacht-

zeit von 22 bis 6 Uhr fallen 15 v.H.

die regelmäßig länger als 14 Tage überwiegend

in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fallen 20 v.H.

sonstige Nachtarbeit 60 v.H.

…

2.… Für die Errechnung von Zuschlägen je Arbeitsstunde ist der Teilungsfaktor 1/165 zugrunde zu legen. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur ein Zuschlag, und zwar jeweils der höchste, zu zahlen.

…

III.Wechselschichtarbeit

1.Arbeitnehmer in Wechselschichten haben Anspruch auf Schichtfreizeiten nach Maßgabe folgender Bestimmungen:

Bei Arbeit

Ab … SchichtenFreischicht von … Arbeitstagen

in zweischichtigem Wechsel

(Früh- und Nachmittagsschicht)

40½

…

2002 ½

In dreischichtigem Wechsel

(Früh-, Nachmittags- und Nachtschicht)

401

…

2005

…

2.Unter Beachtung der Mitbestimmung des Betriebsrates können statt der Freizeiten Zuschläge gezahlt werden:

für Wechselschichtarbeit von 18 bis 22 Uhr (Nachmittagsschicht)

und

für Wechselschichtarbeit von 22 bis 6 Uhr (Nachtschicht)

Zuschlag von 5,0%.

Die Zuschlagsregelung von Schicht- und Wechselschichtarbeit gem. II. 1. b bleibt von dieser Regelung unberührt.

…

§ 8

Entgeltzahlung

1.Die monatliche Entgeltzahlung erfolgt bargeldlos in der Regel am Monatsende. In besonderen Einzelfällen, bei denen erfahrungsgemäß mit häufigeren Überzahlungen gerechnet werden muss, kann im Einverständnis mit dem Betriebsrat die Entgeltzahlung bis spätestens zum 10. Arbeitstag des Folgemonats erfolgen.

…

§ 14

Ausschlussfrist

Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Arbeitsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten seit Fälligkeit schriftlich geltend zu machen. Der Lauf der Ausschlussfrist ist in Fällen der Erkrankung des Arbeitnehmers gehemmt bis zum Tage der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.

…"

Der BMTV Süßwarenindustrie enthielt ursprünglich in der Fassung vom 23.03.1979 unter § 4 II. folgende Regelung:

"Für Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a)für Mehrarbeit,

die in die Tageszeit von 6 bis 20 Uhr fällt25 v.H.

ab der 3. Mehrarbeitsstunde40 v.H.

die in die Nachtzeit von 20 bis 6 Uhr fällt60 v.H.

b)für Schichtarbeit

die in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fällt15 v.H.

die regelmäßig länger als 14 Tage überwiegend

in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fällt20 v.H.

c)für Nachtarbeit in der Zeit von 20 bis 6 Uhr, die weder

Mehrarbeit (a) noch Schichtarbeit (b) ist50 v.H."

Diese Bestimmungen wurden mit Inkrafttreten des BMTV v. 20.06.1983 rückwirkend zum 01.01.1983 in Form der bis heute gültigen Regelung geändert, dass statt des Nachtmehrarbeitszuschlag sowie des Zuschlags gem. lit. c) ein Zuschlag von 60% für sonstige Nachtarbeit vereinbart wurde.

Diese Änderung erläuterte der Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie e.V. in einem Rundschreiben vom 29.06.1983 wie folgt:

"Eine inhaltliche Veränderung der zuschlagspflichtigen Arbeiten ist mit dieser Neuordnung nicht verbunden. Auch die prozentuale Dotierung der zuschlagspflichtigen Arbeiten ist unverändert geblieben. Die Neuordnung wirkt sich jedoch dahingehend aus, daß bei Mehrarbeit in der Nacht nicht mehr die Mehrarbeit dotiert wird, sondern allein ein Nachtarbeitszuschlag (wie bisher in Höhe von 60%) zu zahlen ist. Dieser Nachtarbeitszuschlag ist nunmehr in vollem Umfang steuerfrei."

Die Klägerin bezog bis Mai 2019 einen Stundenlohn von 19,18 € brutto, danach betrug er 19,73 € brutto. Die Beklagte vergütete ihr - jeweils auf Basis eines Zuschlags von 20% - für 53,78 Nachtarbeitsstunden (46,28 + 7,50) im März 2019 206,30 € netto, für 52,50 Nachtarbeitsstunden im Mai 2019 201,39 € netto, für 88,85 Stunden Nachtarbeit (73,85 + 15,00) im Juli 2019 350,60 € netto, für 97,50 Stunden Nachtarbeit (45,00 + 52,50) im Monat August 2019 384,74 € netto und für 37,50 Nachtarbeitsstunden im September 2019 147,98 € netto. Wegen der abgerechneten Arbeitsstunden und Lohnbeträge im Einzelnen wird auf die zur Akte gereichten Entgeltabrechnungen Bezug genommen. Die Klägerin machte mit vorgerichtlichen Schreiben vom 27.06.2019, 28.08.2019, 26.09.2019 und 28.10.2019 (Blatt 22 ff., 47 f. der Akte) gegenüber der Beklagten eine Aufstockung dieser Zuschläge auf 60% geltend. Die Beklagte leistete keine weiteren Zahlungen.

Mit der vorliegenden, am 17.10.2019 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 22.10.2019 zugestellten Klage hat die Klägerin die oben bezeichneten Entgeltdifferenzen gerichtlich geltend gemacht. Sie hat die Auffassung vertreten, die unterschiedliche Höhe der Nachtzuschläge für Schichtarbeit und sonstige Nachtarbeit verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG und sich zur Begründung auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts zum Manteltarifvertrag der nordrheinischen Textilindustrie vom 10.05.1987 berufen (BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 -). Die Regelungen zu den Nachtzuschlägen im BMTV Süßwarenindustrie seien mit den vom Bundesarbeitsgericht im o.g. Urteil beanstandeten Normen vergleichbar. Ein Grund für die unterschiedliche Behandlung von Nachtarbeit innerhalb und außerhalb des Schichtdienstes sei nicht erkennbar. Nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen sei Nachtarbeit für jeden Menschen schädlich, ohne dass es eine Rolle spiele, ob sie innerhalb oder außerhalb von Schichtarbeit erbracht werde. Ebenso wenig könne der Gedanke der Planbarkeit von Nachtarbeit eine Differenzierung in der Höhe der Zuschläge rechtfertigen. Eine Kompensation des geringeren Nachtschichtzuschlags über die Gewährung von Freischichten scheide aus grundsätzlichen Erwägungen aus und erreiche zudem nicht den gebotenen Umfang.

Die Klägerin hat beantragt,

1.die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.824,91 € brutto abzüglich bereits gezahlter 935,86 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.10.2019 zu zahlen,

2.die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 621,50 € brutto abzüglich bereits gezahlter 207,17 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2019 zu zahlen und

3.die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 443,93 € brutto abzüglich bereits gezahlter 147,98 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich darauf berufen, der BMTV Süßwarenindustrie differenziere in zulässiger Weise zwischen Nachtarbeit in der Schicht und sonstiger Nachtarbeit. Anders als in der Nachtschicht könnten sich die Arbeitnehmer bei sonstiger Nachtarbeit nicht auf diese einstellen und ihr Leben bzw. ihre sonstigen sozialen Aktivitäten danach planen, sondern müssten gegebenenfalls sehr kurzfristig zusätzlich Arbeiten verrichten. Diese Unplanbarkeit stelle bereits für sich betrachtet eine im Vergleich zur regelmäßig planbaren Schichtarbeit zusätzliche Belastung dar. Darüber hinaus sei maßgebend, dass bei den üblichen Fallkonstellationen die Arbeitszeiten der mit dem Zuschlag von 60% vergüteten Nachtarbeit zugleich Mehrarbeit sei. Diese Arbeitszeiten würden über die normal geplante Schicht hinausgehen und somit Mehrarbeit im Sinne der tariflichen Vorschriften darstellen. Dementsprechend sei der ursprünglich explizit für Nachtarbeit mit Mehrarbeit vorgesehene Zuschlag durch die tarifliche Neuregelung mit dem Zuschlag für sonstige Nachtarbeit ersetzt worden, ohne dass eine inhaltliche Änderung damit habe verbunden sein sollen. Der sachliche Differenzierungsgrund liege darin, dass zwei Sonderbelastungen aufeinanderträfen. Außerdem sei unter Einbeziehung des Mehrarbeitszuschlags und der Freischichten für Schichtarbeiter die effektive Differenz nur minimal, je nach Konstellation sogar überhaupt nicht vorhanden. Zudem sei es legitim, wenn die Tarifvertragsparteien die Kombination aus Nachtarbeit und Mehrarbeit, die sie als besonders schädlich erachtet hätten, durch einen höheren Zuschlag so verteuert hätten, dass diese Art von Arbeitseinsatz von den Arbeitgebern nur zurückhaltend genutzt wird. Die Tarifvertragsparteien hätten die "wertende Grundentscheidung" getroffen, dass Nachtarbeit als solche mit einem Zuschlag von 20% angemessen abgegolten sei.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 24.01.2020 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die im BMTV Süßwarenindustrie enthaltene Differenzierung zwischen den Zuschlägen für sonstige Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit stellten keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar, sondern seien noch von der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien gedeckt. Bei der sonstigen Nachtarbeit handele es sich regelmäßig um Mehrarbeit, die - fiele sie während der Tagzeit an - gesondert durch die Gewährung eines Zuschlags auszugleichen wäre. Die dafür gewährten 60% Zuschlag gölten kumulativ Nacht- und Mehrarbeit ab. Bei reiner Nachtarbeit hingegen sei ein 20%iger Zuschlag, wie er für die Ableistung von Nachtschichtarbeit gewährt würde, die Regel. Zu berücksichtigen sei zudem, dass eine zusätzliche Kompensation über die Gewährung von Schichtfreizeiten bewirkt werde.

Gegen das ihr am 04.03.2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin mit einem 01.04.2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt und diese mit einem weiteren, am 28.04.2020 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz auch begründet.

Die Klägerin rügt die Rechtsfehlerhaftigkeit des angefochtenen Urteils. Die differenzierenden Regelungen des BMTV Süßwarenindustrie zu den Nachtarbeitszuschlägen verletzten sehr wohl den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Zu Unrecht gehen die Tarifvertragsparteien von einem biologischen Gewöhnungseffekt von Nachtschichtarbeitern an Nachtarbeit aus. Dies überschreite die Grenzen der ihnen von Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumten Einschätzungsprärogative. Die grundrechtlich verankerte Tarifautonomie sei vorliegend nämlich dadurch eingeschränkt, dass die Regelungen zur Nachtarbeit die staatlich normierte Schutzpflicht gemäß § 6 Abs. 1 und 5 ArbZG umsetzten. Die tarifvertraglichen Normen zur Nachtarbeit müssten vor dem Hintergrund des Europarechts und des Arbeitszeitgesetzes den Gesundheitsschutz bezwecken. Das habe dann auch für den 60%igen Zuschlag für sonstige Nachtarbeit zu gelten. Unerheblich sei, wie hoch die Zahl der Arbeitnehmer sei, die bei der Beklagten sonstige Nachtarbeit im Sinne des Tarifvertrages verrichte. Bei einem Branchentarifvertrag komme es nicht darauf an, ob es eine konkrete Vergleichsgruppe bei der Beklagten gebe, sondern ob eine vorhanden sein könne. Überdies sei die Annahme des Arbeitsgerichts falsch, sonstige Nachtarbeit sei regelmäßig mit Mehrarbeit verbunden. Dabei handele es sich um eine "frei erfundene These". Auch von einer möglichen Kompensation durch Schichtfreizeiten könne keine Rede sein; anderslautende Einschätzungen durch die Gerichte für Arbeitssachen liefen auf eine unzulässige gerichtliche Angemessenheitskontrolle tariflicher Regelungen hinaus. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz sei nur durch eine Angleichung nach oben zu beseitigen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Mönchengladbach vom 24.01.2020 - Az. 2 Ca 2343/19 - abzuändern und

1.die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.824,91 € brutto abzüglich bereits gezahlter 935,86 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.10.2019 zu zahlen,

2.die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 621,50 € brutto abzüglich bereits geleisteter 207,17 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2019 zu zahlen,

3.die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 443,93 € brutto abzüglich bereits geleisteter 147,98 € netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 16.11.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Sach- und Rechtsvorbringens. Sie hält die Berufung der Klägerin bereits für unzulässig, weil es deren Begründung an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den tragenden Entscheidungserwägungen des angefochtenen Urteils mangele. Abgesehen davon habe das Arbeitsgericht richtig entschieden. Die Beklagte meint, die tarifvertragliche Differenzierung bei der Bezuschlagung von Nachtschicht- und sonstiger Nachtarbeit sei sachlich gerechtfertigt, weil mit letzterer immer Mehrarbeit einhergehe. Das lasse sich eindeutig der Entstehungsgeschichte des § 4 BMTV Süßwarenindustrie entnehmen. Sei indes der Zuschlag für Mehrarbeit in den Zuschlag für sonstige Nachtarbeit eingepreist, ergäben sich keine nennenswerten Unterschiede gegenüber der ansonsten vorzunehmenden Kumulation der Zuschläge. Das gelte erst Recht, wenn man - wie geboten - die vorgesehenen Schichtfreizeiten für Nachtschichten berücksichtigte. Im Ergebnis bezweckte der erhöhte Zuschlag für sonstige Nachtarbeit die Vermeidung nicht notwendiger Nacht- und Mehrarbeit außerhalb des Schichtsystems und trage gerade deshalb dem Gedanken des Gesundheitsschutzes aus § 6 ArbZG in besonderem Maße Rechnung.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Sitzungsniederschriften sowie sämtliche Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

Gründe

A.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist gemäß § 64 Abs. 1, 2 lit. a) ArbGG an sich statthaft und nach Maßgabe der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. § 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Der Zulässigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung fehlt, wie § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2, 3 ZPO sie fordert (vgl. hierzu etwa BAG v. 19.10.2010 - 6 AZR 118/10, NZA 2011, 62). Die Klägerin hat im Rahmen ihrer Berufungsbegründung detailliert erklärt, warum und in welchen Punkten sie das arbeitsgerichtliche Urteil für rechtsfehlerhaft hält. Die Berufungsbegründung lässt erkennen, dass die Klägerin den Inhalt der Entscheidung erfasst und sich mit ihm auseinander gesetzt hat. Dass es bei einem Rechtsstreit, der sich im Wesentlichen um die Beantwortung von Rechtsfragen dreht, zu Wiederholungen im Vortrag desjenigen kommt, der sich in erster Instanz mit seiner Rechtsauffassung nicht durchsetzen konnte, liegt dabei in der Natur der Sache. Würde man das für unzulässig halten, liefe es auf eine Verpflichtung hinaus, sich noch ein oder mehrere Argumente für die Berufung "in der Hinterhand" zu halten. Damit würde die effektive Rechtsverfolgung in erster Instanz unzulässig erschwert.

B.

In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Zahlungsklage zu Recht als unbegründet abgewiesen.

I.

Die Klage ist zulässig. § 16 BMTV Süßwarenindustrie steht ihrer Erhebung nicht entgegen. Die dort vorgesehene Anrufung des Tarifschiedsgerichts ist den Tarifvertragsparteien auferlegt, nicht den Normunterworfenen. Demzufolge bestimmt Abs. 3 Satz 2 - in Einklang mit § 101 ArbGG - ausdrücklich, dass die Geltendmachung von Ansprüchen aus dem einzelnen Arbeitsverhältnis der arbeitsgerichtlichen Zuständigkeit vorbehalten bleibt.

II.

Die Beklagte hat die Nachtarbeit in den streitgegenständlichen Monaten ordnungsgemäß vergütet. Der Klägerin stehen für Nachtarbeit im Rahmen von Schichtdiensten keine Zuschläge in Höhe von 60% zu.

1.

Die Klage ist nicht schon deshalb unbegründet, weil die Klägerin die gemäß § 14 des - unstreitig anwendbaren - BMTV Süßwarenindustrie in der Fassung vom 14.05.2007 zu beachtende Ausschlussfrist von drei Monaten nach Fälligkeit nicht durch schriftliche Geltendmachung gewahrt hätte. Bei den zur Gerichtsakte gereichten Schreiben der Gewerkschaft NGG vom 27.06.2019, 28.08.2019, 26.09.2019 und 28.10.2019 handelt es sich vielmehr um jeweils rechtzeitig platzierte Geltendmachungen, die Grund und Höhe der von der Klägerin reklamierten Differenzzahlungsansprüche nachvollziehbar machen. Dass sie ein oder mehrere dieser Schreiben nicht oder nicht fristgerecht erhalten hat, hat die Beklagte nicht behauptet.

Unbegründet in Höhe von 17,33 € brutto ist die Klage für die Zuschläge des Monats Mai 2019. Insoweit hat die Klägerin irrtümlich mit einem Stundensatz von 19,73 € und nicht mit dem seinerzeit noch zutreffenden Stundenlohn von 19,18 € brutto gerechnet. Ein 60%iger Nachtarbeitszuschlag betrüge daher bei 52,50 Stunden 604,17 € brutto und nicht 621,50 € brutto.

2.

Die Klage ist insgesamt unbegründet, weil der Klägerin für die von ihr geleisteten Nachtschichten keine höhere Zuschläge zustehen, als die von der Beklagten gemäß § 4 II.1.b) zweite Alternative BMTV Süßwarenindustrie unstreitig geleisteten 20%. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, für Nachtschichtstunden einen Zuschlag von 60% zu zahlen. § 4 II.1.b) BMTV Süßwarenindustrie, der hinsichtlich der Höhe der Nachtzuschläge zwischen Schichtarbeit und sonstiger Nachtarbeit differenziert, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Als selbständigen Grundrechtsträgern kommt den Tarifvertragsparteien aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 43). Sie haben eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen. Bei der Lösung tarifpolitischer Konflikte sind sie nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 Rn. 43; BAG v. 26.04.2017 - 10 AZR 856/15 - Rn. 28).

Die Schutzfunktion der Grundrechte verpflichtet die Arbeitsgerichte jedoch, solchen Tarifregelungen die Durchsetzung zu verweigern, die zu einer Gruppenbildung führen, mit der Art. 3 GG verletzt wird (BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 44; BAG v. 29.06.2017 - 6 AZR 364/16 - Rn. 22). Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfG v. 13.12.2016 - 1 BvR 713/13 - Rn. 18 mwN; BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 44; BAG v. 25.01.2018 - 6 AZR 791/16 - Rn. 26). Dabei ist es grundsätzlich dem Normgeber überlassen, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfG v. 07.05.2013 - 2 BvR 909/06, 2 BvR 1981/06, 2 BvR 288/07 - Rn. 76, BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 44).

b) Gemessen daran ist die Regelung in § 4 II.1.b) BMTV Süßwarenindustrie nicht gleichheitswidrig.

Insoweit kann es dahingestellt bleiben, ob die Gruppe der Arbeitnehmer, die im Schichtdienst Nachtarbeit leisten mit derjenigen Gruppe, die außerhalb einer Schicht in der Nachtzeit tätig ist, überhaupt vergleichbar ist. Dies könnte zweifelhaft sein, soweit die Erschwernis - etwa weil die zweite Gruppe zusätzlich Mehrarbeit leistet - nicht identisch ist. Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben. Selbst wenn man eine Vergleichbarkeit unterstellt, so haben die Tarifvertragsparteien ihre Einschätzungsprärogative nicht überschritten und aus sachlich vertretbaren Gründen eine Differenzierung vorgenommen.

aa) Allerdings kann die Differenzierung nicht darauf gestützt werden, dass die Nachtarbeit selbst die Mitarbeitergruppen unterschiedlich belaste.

Nachtarbeit ist nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative gesundheitliche Auswirkungen (BAG v. 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - Rn. 49; vgl. auch BAG v. 18.10.2017 - 10 AZR 47/17 - Rn. 39). Keineswegs tritt ein Gewöhnungseffekt bei regelmäßig wiederkehrender Nachtarbeit ein.

bb) Anders als in dem Tarifvertrag, der dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - zugrunde lag, gibt es für die Differenzierung hinsichtlich der Höhe der Nachtzuschläge im BMTV Süßwarenindustrie andere Gründe. Zum einen wird mit dem Nachtzuschlag außerhalb von Schichten zugleich Mehrarbeit abgegolten. Zum anderen ist es der Wille der Tarifvertragsparteien, nicht notwendige Nachtarbeit zu vermeiden. Dabei gehen sie davon aus, dass Nachtarbeit in der Schicht sich nicht vermeiden lässt, sonstige Nachtarbeit hingegen schon. Beide Gründe sind im Tarifvertrag angelegt, wie die Auslegung desselben ergibt.

(1) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln (vgl. nur BAG v. 20.06.2018 - 4 AZR 339/17 - Rn. 19). Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG v. 20.06.2018 - 4 AZR 339/17 - Rn. 19; BAG v. 27.07.2017 - 6 AZR 701/16 - Rn. 19; BAG v. 26.04.2017 - 10 AZR 589/15 - Rn. 14; BAG v. 19.09.2007 - 4 AZR 670/06 - Rn. 30).

(2) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ergibt sich, dass die Tarifvertragsparteien mit der Nachtzulage außerhalb von Schichten zugleich Belastungen durch Mehrarbeit abgelten wollten.

Allerdings ist der Wortlaut insoweit nicht ergiebig. Der Begriff "Mehrarbeit" wird in § 4 II.1.b) nicht erwähnt. Umgekehrt lässt sich aber aus dem Begriff "sonstige Nachtarbeit" auch nicht schließen, dass diese keine Mehrarbeit umfasst.

Aus der Systematik des Tarifvertrages lässt sich der Wille zur gleichzeitigen Abgeltung von Mehrarbeit zweifelsfrei erkennen. Die Tarifvertragsparteien haben in § 4 II.1.a) BMTV Süßwarenindustrie Mehrarbeitszuschläge explizit nur für Arbeiten in der Zeit von 6.00 bis 22.00 Uhr geregelt. Daraus lässt sich folgern, dass die Tarifvertragsparteien davon ausgingen, dass Mehrarbeit außerhalb dieser Zeiten - also in der Nacht - anderweitig abgegolten wird. Insoweit kommt aber nur der Nachtzuschlag gemäß § 4 II.1.b) BMTV Süßwarenindustrie in Betracht. Es kann nicht ernsthaft angenommen werden, dass die Tarifvertragsparteien Mehrarbeit in der Nacht in keiner Weise zusätzlich vergüten wollten, zumal dies offensichtlich einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG beinhalten würde.

Hinzu kommt Folgendes: Die Tarifvertragsparteien konnten davon ausgehen, dass in der Süßwarenindustrie nahezu jede Nachtarbeit außerhalb von Schichten mit Mehrarbeit verbunden ist. Typischerweise wird Nachtarbeit in der Süßwarenindustrie im Schichtdienst erbracht. Von dieser Ausgangslage gingen die Tarifvertragsparteien aus, wie der Formulierung in § 4 Ziffer I.6. BMTV "außer bei üblicher Schichtarbeit" zu entnehmen ist. Dabei ist es zur Beurteilung, ob Nachtarbeit innerhalb oder außerhalb einer Schicht geleistet wird, unerheblich, ob die zeitliche Lage bereits langfristig vorher festgelegt ist oder eine Schicht gegebenenfalls kurzfristig ganz oder teilweise in die Nachtzeit verlegt wird. Auch Arbeit in einer kurzfristig verlegten Schicht ist Schichtarbeit im Sinne des BMTV und führt dementsprechend lediglich zu einem tarifvertraglichen Anspruch in Höhe von 15% bzw. 20% für Nachtarbeit, nicht in Höhe von 60%. Gleiches gilt, wenn ein Mitarbeiter, der normalerweise in der Tagschicht arbeitet, plötzlich nachts eingesetzt wird. Nach der ausdrücklichen tarifvertraglichen Definition ist Schichtarbeit nämlich "die regelmäßige tägliche vereinbarte Arbeitszeit, unabhängig von der zeitlichen Lage" (Hervorhebung durch Unterzeichner). Eine bloße Schichtverschiebung oder der kurzfristige Einsatz eines Mitarbeiters in der Nachtschicht verändert aber lediglich die zeitliche Lage der täglich vereinbarten Arbeitszeit, bleibt also Schichtarbeit. Erst die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit führt dazu, dass Arbeit außerhalb einer Schicht geleistet wird. Dann liegt aber Mehrarbeit vor. Die gegenteilige Auffassung, die davon ausgeht, der erhöhte Nachtzuschlag falle immer bei unregelmäßiger Nachtarbeit an (so Dörflinger/Andritzky, Kommentar zum Bundesmanteltarifvertrag der Süßwarenindustrie, 2. Auflage 1996, §§ 4 - 14 Rn. 15), widerspricht der eindeutigen Definition von Schichtarbeit in § 4 I.1. BMTV Süßwarenindustrie.

Dass die Tarifvertragsparteien mit der "sonstigen" Nachtzulage gemäß § 4 Ziffer II.1.b) Alt. 3 BMTV Süßwarenindustrie zugleich Mehrarbeit vergüten wollten, lässt sich auch der Tarifhistorie entnehmen. Der BMTV Süßwarenindustrie enthielt ursprünglich in der Fassung vom 23.03.1979 noch eine Mehrarbeitszulage für Nachtzeiten in Höhe von 60% sowie eine Zulage in Höhe von 50% für Nachtarbeit, die weder Mehrarbeit noch Schichtarbeit ist. Beide Zulagen wurden mit Inkrafttreten des BMTV v. 20.06.1983 gestrichen und durch die Zulage für "sonstige Nachtarbeit" ersetzt. Da - wie ausgeführt - nicht unterstellt werden kann, dass die Tarifvertragsparteien Mehrarbeit während der Nacht nunmehr gar nicht mehr vergüten wollten, kann aus den Änderungen geschlossen werden, dass die Mehrarbeitszulage in der "sonstigen Nachtzulage" mitenthalten sein sollte. Hierfür spricht auch, dass die Höhe unverändert geblieben ist.

Der einzige Grund, warum der zusätzliche Zweck - Abgeltung von Mehrarbeit - begrifflich im Tarifvertrag keinen Niederschlag gefunden hat, war offenkundig steuerlicher Natur. Bei Inkrafttreten des BMTV v. 20.06.1983 waren Nachtzuschläge - anders als Mehrarbeitszuschläge - bis in Höhe von 60% steuerlich privilegiert. Dieses aufgrund der damaligen Gesetzeslage naheliegende Motiv wird auch in dem von der Beklagten vorgelegten Rundschreiben des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie e.V. vom 29.06.1983 dokumentiert, in welchem es heißt: "Dieser Nachtarbeitszuschlag ist nunmehr in vollem Umfang steuerfrei." Dass zumindest der Bundesverband als eine der beiden Tarifparteien davon ausging, jede "sonstige" Nachtarbeit sei mit Mehrarbeit verbunden, lässt sich den vorangegangenen Ausführungen in dem Rundschreiben entnehmen, wonach eine "inhaltliche Veränderung der zuschlagspflichtigen Arbeiten … mit dieser Neuordnung nicht verbunden" sei und auch "die prozentuale Dotierung der zuschlagspflichtigen Arbeiten … unverändert geblieben" sei. Der Wille der tarifschließenden Gewerkschaft ist zwar nicht dokumentiert, es ist aber naheliegend, dass ihr die Erhöhung des Nettolohnes ihrer Mitglieder durch die legale Ausnutzung einer steuerlichen Norm sehr willkommen war.

(3) Des Weiteren lässt sich feststellen, dass ein weiterer Sinn und Zweck des Zuschlages für "sonstige Nachtarbeit" die Vermeidung derselben ist.

In § 4 Ziffer I.6. Satz 1 BMTV Süßwarenindustrie haben die Tarifvertragsparteien niedergelegt, dass Nachtarbeit "nach Möglichkeit zu vermeiden" ist. Gemäß § 4 Ziffer I.2. BMTV ist auch "Mehrarbeit …, soweit es nur irgendwie angängig ist, zum Beispiel durch zusätzliche Einstellung von Arbeitnehmern oder durch Einlegung von Schichten nach Maßgabe der betrieblichen und betriebstechnischen Möglichkeiten zu vermeiden". Die Nachtschichtarbeit ist hingegen nach Einschätzung der Tarifvertragsparteien unvermeidlich. Diese Einschätzung kommt in § 4 I.6. Satz 2 BMTV Süßwarenindustrie zum Ausdruck. In der Parenthese dieses Satzes wird explizit die "übliche Schichtarbeit" von dem ansonsten festgelegten Erfordernis, dass Nachtarbeit nur "in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit" erfolgen dürfe, ausgenommen.

cc) Sowohl die Abgeltung zusätzlicher Mehrarbeit als auch das Ziel der Vermeidung sonstiger Nachtarbeit sind sachliche Differenzierungsgründe.

(1) Es steht den Tarifvertragsparteien frei, zusätzliche Erschwernisse besonders zu vergüten.

Unerheblich ist, dass die Tarifvertragsparteien grundsätzlich davon ausgehen, dass mehrere Zuschläge nicht kumuliert werden, sondern lediglich der jeweils höchste Zuschlag zu zahlen ist (§ 4 Ziffer II.2. BMTV Süßwarenindustrie). Gegen diesen Grundsatz verstoßen sie nicht, indem sie bei der Festlegung eines Zuschlages mehrere Erschwernisse berücksichtigen. Gerade die Regelung zur Vermeidung der Kumulation von Zuschlägen erfordert es, bereits bei der Höhe des Zuschlages etwaige sonstige Erschwernisse miteinfließen zu lassen, jedenfalls dann, wenn diese zusätzlichen Erschwernisse - wie hier bezüglich der Mehrarbeit während sonstiger Nachtarbeit - nahezu ausnahmslos vorliegen.

(2) Auch die Vermeidung sonstiger Nachtarbeit stellt einen sachlichen Differenzierungsgrund dar.

Es ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien aufgrund ihrer Sachnähe am besten einschätzen können, welche Nachtarbeit unvermeidbar (Nachtschichten) und welche vermeidbar ist (sonstige Nachtarbeit). Tatsächlich ist es naheliegend, dass aus betriebswirtschaftlichen Gründen Maschinen auch nachts genutzt werden, Mehrarbeit in der Nacht aber - außer in Notfällen - auf Fehlplanungen des Arbeitgebers (etwa einer zu geringen Personalquote) beruhen. Es ist daher ein legitimer Zweck, im Interesse des Arbeitnehmers Nachtarbeit zu verteuern und auf diesem Wege einzuschränken (vgl. BAG v. 25.04.2018 - 5 AZR 25/17 - Rn. 44). Relevanz kann dieser Zweck aber nur in den Fällen haben, in denen die Nachtarbeit nicht unvermeidbar ist (vgl. wiederum BAG v. 25.04.2018 - 5 AZR 25/17 - Rn. 44). Wenn daher die Tarifvertragsparteien davon ausgehen, letzteres sei bei Schichtarbeit in der Süßwarenindustrie nicht der Fall, hingegen bei Mehrarbeit in der Nacht, so ist dies nicht zu beanstanden.

dd) Ob die Tarifparteien der Süßwarenindustrie daneben noch der früher verbreiteten Fehlvorstellung unterlegen sind, Nachtarbeit im Schichtdienst sei weniger belastend als gelegentliche Nachtarbeit, ist unerheblich.

Entscheidend ist allein, dass tatsächlich sachliche Differenzierungsgründe vorliegen. Die Sachgerechtigkeit von Differenzierungskriterien und -zielen muss sich bei einer objektiven Gesamtbetrachtung erschließen. Eine etwaige subjektive Willkür des Normgesetzgebers und dessen fehlerhafte Vorstellungen schließen nicht aus, dass es objektiv vernünftige und sachliche Gründe für eine Regelung gibt. Mängel der Motive sind für die Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 GG irrelevant (vgl. BVerfG v. 26.04.1978 - 1 BvL 29/76 - zu C. II.2. der Gründe [Rn. 35 bei juris]); Schmidt in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Auflage 2020, GG Art. 3 Rn. 37).

ee) Die Differenzierung ist auch der Höhe nach gerechtfertigt.

(1) Berücksichtigt man, dass die Tarifvertragsparteien Mehrarbeit grundsätzlich mit 25% (für die ersten beiden Stunden) und 40% (ab der dritten Stunde) bewerten, verbleiben als tatsächliche Differenz zwischen den Nachtschichtzulagen und den Zulagen für sonstige Nachtschichten je nach Konstellation maximal 20%.

Diese Differenz reduziert sich unter Berücksichtigung des Wertes der Zulage für Nachtarbeit bei Wechselschicht (§ 4 III.2. BMTV Süßwarenindustrie) um weitere 5%. Wird von der Möglichkeit einer Abgeltung der Freizeiten für Wechselschichten kein Gebrauch gemacht, bleibt es zwar bei der obigen Differenz. Dafür wird aber der Ausgleich in Freizeit in stärkerem Maße dem Schutzzweck der Erhaltung der Gesundheit der Mitarbeiter gerecht. Entgegen der Auffassung der Klägerseite können diese zusätzlichen Kompensationen im Rahmen des Gesamtvergleichs der Regelungen Berücksichtigung finden, da hier ausdrücklich zusätzliche Freizeiten für Mitarbeiter vorgesehen sind, die in Wechselschicht mit Nachtschichten eingesetzt werden.

Unerheblich ist, dass die Tarifvertragsparteien in der früheren Fassung des BMTV Süßwarenindustrie aus dem Jahr 1979 lediglich eine Differenz von 10% zwischen "sonstiger" Nachtarbeit mit und ohne Mehrarbeit vorgesehen hatten. Erstens war diese Differenzierung ohnehin nicht von Relevanz, weil keine nennenswerte Zahl an Fällen denkbar ist, in denen überhaupt die Zulage für Nachtarbeit ohne Mehrarbeit hätte anfallen können. Zweitens kann eine etwaige abweichende Bewertung in einem nicht mehr gültigen Tarifvertrag keine Bindungswirkung für den aktuellen Tarifvertrag entfalten. Drittens kommt es auch insoweit nur auf die objektive Lage, nicht auf etwaige Fehlvorstellungen der Tarifvertragsparteien an.

(2) Die verbleibende Differenz von rechnerisch maximal 15 bis 20% ist nicht so hoch, dass die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien im Hinblick auf das zweite Differenzierungsziel - Verteuerung der sonstigen Nachtarbeit zum Zwecke deren Vermeidung - überschritten wäre.

C.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Kammer hat die Revision wegen einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen dieses Urteil kann von der Klägerin

REVISION

eingelegt werden.

Für die beklagte Partei ist gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel nicht gegeben.

Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim

Bundesarbeitsgericht

Hugo-Preuß-Platz 1

99084 Erfurt

Fax: 0361 2636-2000

eingelegt werden.

Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.

Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:

1.Rechtsanwälte,

2.Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,

3.Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.

Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.

Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite des Bundesarbeitsgerichts www.bundesarbeitsgericht.de.

* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.

Schneider Jacob Bremer-Glaser

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