VG Freiburg, Urteil vom 11.11.2020 - A 1 K 6531/18
Fundstelle
openJur 2021, 3198
  • Rkr:

§ 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist mit Blick auf Art. 3 Nr. 3 der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) einschränkend auszulegen.

Die Androhung der Abschiebung darf gegen den Willen des Betroffenen nur erfolgen in das Herkunftsland und in ein Transitland, mit dem ein Rückführungsabkommen oder eine andere Vereinbarung besteht.

In ein anderes Drittland darf eine Abschiebung nur angedroht werden, wenn der Betroffene mit einer Ausreise oder Abschiebung dorthin einverstanden ist.

(Anschluss an VG Berlin, Urteil vom 13.08.2020 - 34 K 639.17 A)

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.10.2018 wird aufgehoben, soweit dem Kläger die Abschiebung nach Guinea angedroht worden ist. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger reiste im Jahr 2017 erstmals in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte seinen Asylantrag als unzulässig ab. Der Kläger wurde im April 2018 nach Italien überstellt, reiste aber bereits im Juni 2018 erneut in das Bundesgebiet ein. Gegenüber dem Bundesamt gab er an, als Sohn sierra-leonischer Eltern in Sierra Leone geboren worden zu sein. Als Kind sei er vor dem Bürgerkrieg nach Guinea geflohen und dort von einem Mann aufgenommen worden, der ihn wie einen Sohn behandelt, ihm den Schulbesuch ermöglicht und ihn testamentarisch gleichrangig mit seinen Kindern bedacht habe. Nach dessen Tod sei er von dessen Witwe und weiteren Verwandten mittels tätlicher Angriffe verjagt worden. Er sei zu einem Freund nach Algerien gefahren, der ihm Arbeit verschafft habe.

Mit Bescheid vom 30.10.2018, dem Kläger zugestellt am 08.11.2018, lehnte das Bundesamt seine Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Anerkennung als Asylberechtigter (Ziffer 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen (Ziffer 4), setzte dem Kläger eine Ausreisefrist von dreißig Tagen und drohte ihm die Abschiebung nach Sierra Leone oder in die Republik Guinea an (Ziffer 5). Das "gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot" befristete es auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).

Der Kläger hat am 21.11.2018 Klage erhoben, zu deren Begründung er auf die Akte des Bundesamts verweist.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) mit Blick auf Sierra Leone vorliegt,

und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.10.2018 aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht, sowie

das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG aufzuheben, höchst hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, über dessen Dauer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Die Kläger wurden in der mündlichen Verhandlung angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die hierüber gefertigte Niederschrift verwiesen. Dem Gericht liegt ein Heft Akten des Bundesamts vor. Diese Akten waren ebenso wie die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).

Die Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Bezüglich der Ziffern 1, 3 und 4 des Bescheides vom 30.10.2018 ist die Klage als Verpflichtungsklage statthaft und auch sonst zulässig, aber nicht begründet. Insofern ist der Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Denn dieser hat weder einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) noch auf Gewährung subsidiären Schutzes (2.) und das Bundesamt ist auch nicht zur Feststellung eines Abschiebungsverbots verpflichtet (3.).

Hinsichtlich der Ziffern 5 und 6 des Bescheides ist die Klage als Anfechtungsklage statthaft und auch sonst zulässig. Der Kläger hat zwar ursprünglich ausdrücklich nur einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus bzw. der Feststellung von Abschiebungsverboten, geltend gemacht und beantragt, den Bescheid aufzuheben, "soweit der dem entgegensteht". Der Berichterstatter versteht diesen Zusatz bei rechtschutzfreundlicher Auslegung (vgl. § 88 VwGO) jedoch dahin, dass über den Wortlaut hinaus nicht nur für den Fall des Erfolges einer der ausdrücklich gestellten Verpflichtungsanträge, sondern generell die übrigen belastenden Entscheidungen aufgehoben werden sollen. Die Klage ist hinsichtlich der Abschiebungsandrohung auch teilweise begründet; diese ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), als Guinea als Zielstaat der Abschiebung benannt worden ist (4.). Der Ausspruch zum Einreise- und Aufenthaltsverbot ist hingegen nicht zu beanstanden (5.).

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951 (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

Herkunftsland des Klägers ist Sierra Leone. Nach der mündlichen Verhandlung steht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger (nur) die Staatsangehörigkeit von Sierra Leone besitzt. Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass seine Angaben, wonach er als Kind sierra-leonischer Eltern in Sierra Leone geboren wurde, unzutreffend sein könnten, noch dafür, dass er später statt oder neben der Staatsangehörigkeit von Sierra Leone diejenige von Guinea erworben hätte. Insbesondere hat der Kläger auf ausdrückliche Nachfrage verneint, dass er von dem Mann, der ihn aufgenommen hatte, im Rechtssinne adoptiert worden ist.

Damit kommt es allein darauf an, ob dem Kläger in Sierra Leone Verfolgung droht. Dies ist nach seinem Vorbringen nicht der Fall; insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Familie seines Ziehvaters ihm dort nachstellen würde. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderten Feindseligkeiten und Übergriffe blieben deutlich hinter dem zurück, was er gegenüber dem Bundesamt geltend angegeben hat. Unabhängig davon waren sie allein dadurch motiviert, dass die Familie verhindern wollte, dass der Kläger als Außenstehender am Vermögen des Erblassers partizipiert. Damit knüpfen diese Maßnahmen nicht an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal an. Es kann dahinstehen, ob sich der Kläger darüber hinaus auf die Möglichkeit internen Schutzes durch die Polizei- und Justizorgane (§§ 3c Nr. 3, 3d AsylG) verweisen lassen müsste.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

Dem Kläger droht in Sierra Leone, seinem Herkunftsland, kein ernsthafter Schaden. Dort herrscht kein bewaffneter Konflikt und es droht den Kläger auch weder die Todesstrafe noch eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Letzteres kommt auch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt einer schlechten humanitären Situation in Betracht, weil es insoweit in Sierra Leone schon an einem Verfolgungsakteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG und Art. 6 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) fehlt (vgl. zu diesem Erfordernis BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 -, juris, Rn. 9 ff. m.w.N.).

3. Der Kläger hat im gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Sierra Leone. Die Feststellung des Bundesamts unter Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist nicht zu beanstanden. Worauf sich diese Feststellung bezieht, ist unter Heranziehung der Gründe des Bescheides zu ermitteln (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.12.2001 - 1 C 11.01 -, juris, Rn. 11). Vorliegend hat das Bundesamt Abschiebungsverbote mit Blick auf Guinea und Sierra Leone geprüft. Hinsichtlich des vom Kläger allein zur Prüfung gestellten Zielstaats Sierra Leone hat es sie auch zutreffend verneint.

a) Der Kläger hat nicht aus gesundheitlichen Gründen einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das kann bei einer bestehenden Erkrankung zu bejahen sein, wenn bei einer Rückkehr eine Verschlimmerung drohen würde, die auf der unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder anderen zielstaatsbezogenen Umständen beruht (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, vom 27.04.1998 - 9 C 13.97 -, vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 - und vom 22.03.2012 - 1 C 3.11 -; jeweils juris). Von einer Verschlimmerung in diesem Sinne ist aber nicht bereits bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes auszugehen. Es bedarf vielmehr einer wesentlichen Verschlechterung im Sinne von außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Es muss zu erwarten sein, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. es muss eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes drohen; konkret ist diese Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat einträte (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 - und vom 29.07.1999 - 9 C 2.99 -; Beschluss vom 17.08.2011 - 10 B 13.11 u.a. -; jeweils juris). Dementsprechend bestimmt § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, dass eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vorliegt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben kann zwar auch dann anzunehmen sein, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation im Zielstaat zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen, etwa in der Krankheit selbst liegenden Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - und vom 17.10.2006 - 1 C 18.05 -, jeweils juris). Die Erkrankung muss zudem durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG).

Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Der Kläger hat keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im vorgenannten Sinne vorgelegt. Soweit er in der mündlichen Verhandlung angeben hat, wegen ungleich langer Beine zu hinken und sich deshalb auf eine Operation vorzubereiten, erreicht diese Beeinträchtigung nicht den erforderlichen Schweregrad. Das folgt schon daraus, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben durch sie nicht gehindert ist, seine auch in körperlicher Hinsicht anspruchsvolle Ausbildung zum Altenpflegehelfer zu absolvieren.

b) Auch ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG besteht nicht. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich die Unzulässigkeit der Abschiebung aus der EMRK ergibt. Dies ist nach Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Zielstaat der Abschiebung droht. Art. 3 EMRK setzt keine unmenschliche Behandlung durch den Zielstaat voraus; es genügen auch andere Gefahren wie eine unmenschliche Behandlung durch Private oder die Lebensumstände. Zwar ist es danach nicht ausgeschlossen, dass schlechte humanitäre Verhältnisse in einem Staat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK darstellen; insbesondere dann, wenn die Verhältnisse nicht ganz oder überwiegend staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren zuzurechnen sind, sind prekäre Lebensbedingungen allerdings nur unter ganz außerordentlichen Umständen, die ein besonders hohes Schädigungsniveau begründen, somit nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen, als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu bewerten (vgl. ausführlich VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.02.2014 - A 11 S 2519/12 -, vom 03.11.2017 - A 11 S 1704/17 -, vom 17.01.2018 - A 11 S 241/17 -, und vom 12.12.2018 - A 11 S 1923/17 -, jeweils juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris).

Ein derartiger außergewöhnlicher Einzelfall liegt hier nicht vor. Zu einem jungen Mann, der ebenfalls angegeben hat, in Sierra Leone über keine Familie zu verfügen, hat das VG Würzburg (Urteil vom 21.02.2020 - W 10 K 19.31378 -, juris, Rn. 45) ausgeführt:

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, sich bei einer Rückkehr nach Sierra Leone in einer anderen Stadt niederzulassen und sich dort ein neues Leben aufzubauen. In Bezug auf Sierra Leone ist allgemein festzustellen, dass die Sicherheitslage im ganzen Land stabil ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 4.7.2018, S. 5). Zudem hat sich die Menschenrechtslage nach dem Ende des Bürgerkriegs in vielen Bereichen deutlich verbessert (vgl. BFA, a.a.O., S. 9). Darüber hinaus ist es den Bürgern nicht verwehrt, sich innerhalb des Lands uneingeschränkt zu bewegen. In der Verfassung ist sowohl die Emigration als auch die Rückkehr verankert (vgl. BFA, a.a.O., S. 16). Zwar ist dem Gericht bekannt, dass Sierra Leone trotz des Reichtums an Bodenschätzen eines der ärmsten Länder der Welt ist. Gründe hierfür sind unter anderem der sehr große informelle Wirtschaftssektor, eine kaum diversifizierte Wirtschaftsstruktur und eine hohe Importabhängigkeit. Die Infrastruktur und der Energiesektor sind nur schwach ausgebaut. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, wobei bisher keine verlässlichen statistischen Daten erhoben wurden. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77 Prozent) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Familie und die lokale Gesellschaftsordnung ist für die meisten Sierra-Leoner der wichtigste Bezugsrahmen. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Gleichzeitig ist allerdings zu beachten, dass die Mehrheit versucht, sich mit Gelegenheitsjobs, Subsistenzlandwirtschaft oder als Händler ein Auskommen zu erwirtschaften und sich die wirtschaftliche Entwicklung zwischen Stadt und Land unterscheidet. Zudem gelingt es selbst ungelernten Arbeitslosen durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (etwa Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnliche Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicherzustellen (vgl. BFA, a.a.O., S. 17; OVG NW, B.v. 6.9.2017 - 11 A633/05.A - BeckRS 2007, 26471, m.w.N.). Daneben ist seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 2002 mit Ausnahme der Jahre 2014 und 2015 (Einbruch der Rohstoffpreise sowie Ebola-Epidemie) ein erfreuliches Wirtschaftswachstum zu verzeichnen, auch wenn die Strukturprobleme der Wirtschaft nicht beseitigt werden konnten. Die Wirtschaftspolitik ist auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Zur Stärkung der Steuerbasis (nur knapp 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) soll der informelle Sektor in die formelle Wirtschaft überführt und die Korruption bekämpft werden, auch wenn die Erfolge bislang noch bescheiden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Sierra Leone - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/sierraleone-node/wirtschaft/203486, abgerufen am 23.1.2020; BFA, a.a.O., S. 13, 17 f.)

Dieser Einschätzung schließt sich der Berichterstatter hinsichtlich des Klägers an. Auch die Corona-Pandemie führt zu keiner abweichenden Beurteilung. In der Hauptstadt Freetown, wo der einzige internationale Flughaften Sierra Leones liegt und in die daher eine Abschiebung stattfinden würde, stellt die Stadtverwaltung die Ernährungssicherheit selbst der ärmsten Teile der Bevölkerung sicher (vgl. WHO, Freetown tackles a dual challenge to protect its citizens form COVID-19 amidst food insecurity [Bericht vom 23.10.2020], abrufbar unter: https://www.who.int/news-room/feature-stories/detail/freetown-tackles-a-dual-challenge-to-protect-its-citizens-from-covid-19-amidst-food-insecurity). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass er mit einem in Sierra Leone lebenden Bekannten in Kontakt stehe, ohne dass dieser von ernsthaften Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Lebensmitteln oder der Befriedigung anderer Grundbedürfnisse berichtet hätte.

Der Kläger ist weder körperlich noch psychisch nachhaltig beeinträchtigt. Wie bereits ausgeführt, hindert ihn die ungleiche Länge seiner Beine nicht daran, seine Ausbildung in einem auch körperlich fordernden Beruf erfolgreich zu absolvieren. Es ist somit nicht ersichtlich, dass es dem Kläger als Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen trotz der allgemein schlechten Wirtschaftslage unmöglich wäre, Fuß zu fassen und zumindest durch Gelegenheitsarbeiten seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Erforderlich und ausreichend ist insoweit zudem, dass der Kläger durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und seiner Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem notwendigen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen kann. Zu beachten ist, dass es dem Kläger unter anderem in Algerien gelungen ist, sich durch Hilfsarbeiten zu unterhalten. Durch seine in Europa gesammelten Erfahrungen und erworbene Ausbildung befindet sich der Kläger zudem in einer vergleichsweise guten Position, da er hiervon auch zukünftig in Sierra Leone profitieren kann. Es bestehen daher keine Zweifel daran, dass es dem Kläger gelingen wird, seine Existenz in seinem Heimatland, mit dessen Sprache er vertraut ist, zu sichern, selbst wenn unter Umständen nur ein Leben am Rand des Existenzminimums möglich wäre. Überdies steht es dem Kläger frei, Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, um Unterstützung und Starthilfe zu erhalten und erste Anfangsschwierigkeiten überbrücken zu können. So können ausreisewillige Personen aus Sierra Leone Leistungen erhalten, die neben der Übernahme der Reisekosten eine erste Starthilfe im Umfang von 1.000,00 EUR beinhalten (REAG/GARP); eine zweite Starthilfe ("StarthilfePlus") in Höhe von 1.000 EUR wird sechs bis acht Monate nach der Rückkehr im Heimatland persönlich ausgezahlt. Für medizinische Unterstützung kann eine Leistung von bis zu 2.000 Euro für bis zu drei Monate nach der Ankunft gewährt werden (vgl. zu alledem https://www.returningfromgermany.de/de/countries/sierra-leone). Das Bundesamt hat dem Kläger zusammen mit dem angefochtenen Bescheid einen Hinweis auf diese Programme übersandt (VAS 128 ff.).

4. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig, soweit dem Kläger die Abschiebung nach Sierra Leone angedroht worden ist. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist folgt aus § 38 Abs. 1 AsylG.

Soweit dem Kläger die Abschiebung nach Guinea angedroht worden ist, erweist sich die Abschiebungsandrohung hingegen als rechtswidrig.

Nach der Regelung in § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehen grundsätzlich keine weiteren Anforderungen an den Zielstaat der Abschiebung. Insbesondere muss danach der Zielstaat nicht der Herkunftsstaat des Ausländers sein (vgl. nur - vor Inkrafttreten der Rückführungsrichtlinie - BVerwG, Beschluss vom 29.06.1998 - 9 B 604.98 - juris, Rn. 4; BVerwG, Beschluss vom 01.09.1998 - 1 B 41.98 - juris, Rn. 9; ferner aus jüngerer Zeit Kluth, in: BeckOK-Ausländerrecht [Stand: 01.10.2020], § 59 AufenthG Rn. 29; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 59 AufenthG Rn.42). Dieses Verständnis von § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist jedoch mit den unionsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmung des Zielstaates nicht vereinbar (vgl. zum Folgenden VG Berlin, Urteil vom 13.08.2020 - 34 K 639.17 A -, juris, Rn. 36). Insbesondere widerspricht es der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 (Rückführungsrichtlinie). Eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung ist an der Rückführungsrichtlinie zu messen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 19.19 - juris, Rn. 24), es handelt sich um eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2017 - 11 S 2029/16 -, juris, Rn. 95). Welche Staaten als Ziel einer "Rückkehr" in Betracht kommen, bestimmt Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2020 - C-924/19 PPU u.a. -, juris, Rn. 114 f.). Danach kann Zielstaat einer Rückkehr nur das Herkunftsland des Drittstaatsangehörigen, ein Transitland, in das der Drittstaatsangehörige gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen zurückgeführt werden soll, oder ein anderes Drittland, in das der Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird, sein. Herkunftsland in diesem Sinne ist wie in Art. 2 Buchstabe n der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) und damit wie in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a AsylG das Land der Staatsangehörigkeit (vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom 14.12.2017 - 8 LC 99/17 -, juris, Rn. 44). Vor diesem Hintergrund darf unionsrechtlich die Androhung der Abschiebung in einen anderen Staat als das Herkunftsland oder ein Transitland (mit dem ein Rückführungsabkommen besteht) nur erfolgen, wenn der Schutzsuchende mit einer Ausreise oder Abschiebung dorthin ausdrücklich einverstanden ist.

Diese Anforderungen erfüllt die Bestimmung von Guinea als Zielstaat einer möglichen Abschiebung nicht. Bei Guinea handelt es sich nicht um das Herkunftsland des Klägers im Sinne von Art. 3 Nr. 3 Rückführungsrichtlinie, weil der Kläger (wie oben unter 1. ausgeführt) nicht die Staatsangehörigkeit von Guinea besitzt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Guinea aufgrund eines Rückführungsübernahmeabkommens oder einer ähnlichen Vereinbarung zur Aufnahme verpflichtetes Transitland im Sinne von Art. 3 Nr. 3 der Rückführungsrichtlinie ist. Eine Rückführung nach Guinea als sonstiges Drittland kommt nicht in Betracht, weil der Kläger unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, dorthin nicht freiwillig zurückkehren zu wollen.

Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass der Kläger doch über die Staatsangehörigkeit von Guinea verfügt, wären weder das Bundesamt noch die Ausländerbehörde daran gehindert, eine neue Abschiebungsandrohung mit entsprechender Zielstaatsbestimmung zu erlassen.

5. Schließlich erweist sich der Ausspruch zu einem auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Ziffer 6 des angefochtenen Bescheides als rechtmäßig. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 AufenthG liegen vor. Auch die Ausübung des dem gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG zuständigen Bundesamt eingeräumten Ermessens, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot überhaupt anzuordnen (vgl. Maor, in: BeckOK-AuslR, § 11 AufenthG Rn. 67; funktional äquivalent: eine bereits anfängliche Befristung auf "Null" auszusprechen, vgl. hierzu Zeitler, in: HTK-AuslR § 11 Abs. 3 AufenthG [Stand: 20.01.2020] Rn. 47 ff.) und dessen Dauer (zumindest vorläufig, vgl. § 11 Abs. 4 AufenthG) festzulegen, ist nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne des § 114 VwGO, auf deren Prüfung das Gericht beschränkt ist, sind nicht ersichtlich. Die vom Bundesamt getroffenen Befristungsentscheidung zu einem vermeintlich kraft Gesetzes bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbot ist unionsrechtskonform als konstitutiver Erlass eines befristeten Einreiseverbots zu verstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 -, juris, Rn. 25; Beschluss vom 13.07.2017 - 1 VR 3.17 -, juris, Rn. 72; Urteil vom 27.07.2017 - 1 C 28.16 -, juris, Rn. 42). Schutzwürdige Belange, die eine kürzere Frist oder ein Absehen von der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gebieten würden, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger das im Bescheid vom 11.12.2017 ausgesprochene Einreise- und Aufenthaltsverbot dadurch missachtet hat, dass er bereits zwei Monate nach seiner Abschiebung wieder in das Bundesgebiet eingereist ist, erscheint es auch nicht ermessensfehlerhaft, die Geltungsdauer eines im Falle einer erneuten Abschiebung wirksam werdenden Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die im Fall des Klägers zu beachtende Höchstfrist von fünf Jahren (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG) festzusetzen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; die Beklagte ist nur zu einem geringen Teil unterlegen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83 b AsylG.