VerfGH des Landes Berlin, Beschluss vom 24.09.2013 - 172/11
Fundstelle
openJur 2021, 2140
  • Rkr:

1. Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz dient auch der Rehabilitierung wegen Unterbringungen in Heimen für Kinder und Jugendliche der DDR, die mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sind und in diesem Sinne sachfremden Zwecken gedient haben. Dazu kann auch die Verhinderung der Ausreise eines Kindes zu einem aufnahmebereiten Elternteil außerhalb der DDR anstelle einer freiheitsentziehenden Heimunterbringung zählen.

Tenor

1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 28. Oktober 2011 - 2 Ws 177/11 REHA - verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 10 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

3. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

4. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf strafrechtliche Rehabilitierung durch das Landgericht Berlin und das Kammergericht wegen ihrer Unterbringung in einem Durchgangsheim für Jugendliche und einem Jugendwerkhof der DDR.

Die im Jahr 1955 geborene Beschwerdeführerin wurde im Sommer 1969 in das Durchgangsheim für Jugendliche Alt-Stralau eingewiesen. Von dort kam sie im Februar 1970 in den Jugendwerkhof "Clara-Zetkin" (Crimmitschau). Nach einer Entlassung zu ihrer Mutter im Juli 1971 wurde sie von Oktober 1971 bis Mai 1972 erneut dort untergebracht.

Mit Schreiben vom Juli 2009 beantragte die Beschwerdeführerin Rehabilitierung sowie Entschädigung und besondere monatliche Zuwendungen für Haftopfer nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG -. Zur Begründung führte sie an, sie sei nach Scheidung der Ehe ihrer Eltern bei ihrer Mutter aufgewachsen. Diese sei alkoholabhängig gewesen und habe wechselnde Lebenspartner gehabt, mit denen es häufig gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben habe. Aufgrund dieser Zustände sei sie im Alter von 14 Jahren von Zuhause weggelaufen. Dabei sei sie von der Polizei aufgegriffen und zunächst in das Durchgangsheim Alt-Stralau eingewiesen worden. Dort sei sie wie eine Straftäterin behandelt worden. Anschließend sei sie in den Jugendwerkhof Crimmitschau gekommen. Dort habe sie sich wie in einem Arbeitslager gefühlt. Bei Regelverstößen seien alle Jugendlichen kollektiv bestraft worden. Die Erziehung habe aus psychischen und körperlichen Misshandlungen bestanden. Im Übrigen sei sie durch Erzieher und Heimleiter auch sexuell belästigt worden. Nach eineinhalb Jahren und Beendigung ihrer Lehre sei sie entlassen worden. Da sich die Verhältnisse bei ihrer Mutter nicht geändert hätten, sei sie nach ca. zwei Monaten erneut weggelaufen. Sie wisse nicht mehr, ob sie bei ihrer Ergreifung danach noch kurz in das Durchgangsheim oder gleich wieder in den Jugendwerkhof Crimmitschau gekommen sei. Sie sei durch ihre Heimaufenthalte traumatisiert und leide unter Panikattacken und Angstzuständen. Seit ca. zwölf Jahren sei sie deshalb in ärztlicher Behandlung.

Das Landgericht wies den Rehabilitierungsantrag der Beschwerdeführerin und ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom Januar 2011 zurück. Wegen Fehlens der Verfahrensunterlagen lasse sich nicht feststellen, dass die Einweisungen in die Heime mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen seien. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese einer rechtsstaatswidrigen oder politischen Verfolgung gedient hätten. Einweisungen und Unterbringungen in Kinderheimen, Jugendheimen oder Jugendwerkhöfen der DDR stellten sich - mit Ausnahme des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau - nicht grundsätzlich als rechtsstaatswidrig dar. Ihre Dauer habe nicht gröblich gegen das Übermaßverbot verstoßen. Ob andere Unterbringungsmöglichkeiten oder ein Leben im Haushalt des Vaters erwogen oder mit welchen Begründungen sie abgelehnt worden seien, lasse sich ebenfalls nicht mehr feststellen. Die Lebensumstände in den Heimen seien grundsätzlich nicht Gegenstand des Rehabilitierungsverfahrens. Diese hätten in der damaligen Zeit denjenigen in den Jugenderziehungseinrichtungen der freiheitlichen rechtsstaatlichen Länder der westlichen Welt entsprochen.

Mit Schreiben vom März 2011 legte die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Landgerichts Beschwerde ein. Es liege ein grobes Missverhältnis zwischen Anlass und Rechtsfolge ihrer Einweisung in die Heime vor. Die Einweisung sei bereits nach DDR-Maßstäben rechtswidrig gewesen und habe eine das Kindesinteresse missachtende menschenrechtswidrige Unterbringung zur Folge gehabt. Die Auswahl der Heime sei nach den Vorschriften der DDR fehlerhaft gewesen. Die Unterbringung in beiden Heimen sei haftähnlich gewesen. Schließlich sei die Einweisung auch deshalb fehlerhaft gewesen, weil ihr leiblicher Vater bereit und bemüht gewesen sei, sie aufzunehmen. Sie habe eine eidesstattliche Versicherung von ihm vorgelegt, nach der er zum Zeitpunkt ihrer Einweisung in das Durchgangsheim Alt-Stralau in der Schweiz gelebt habe. Im November 1969 habe er sich schriftlich an das Heim und an das Jugendamt mit der Bitte gewandt, seine Tochter ausreisen zu lassen, ohne allerdings eine Antwort zu erhalten.

Das Kammergericht gab der Beschwerde mit dem angegriffenen Beschluss insoweit statt, als das Landgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hatte. Im Übrigen verwarf es die Beschwerde. Die Unterbringung habe weder politischer Verfolgung gedient noch habe sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Aus der angegebenen Alternative einer Unterbringung bei dem leiblichen Vater in der Schweiz ergebe sich keine andere Beurteilung. Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz habe nicht den Zweck, die Ausreisepraxis der DDR aufzuarbeiten und Betroffene dafür zu entschädigen, dass sie nicht aus der DDR hätten ausreisen dürfen. Schon nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ihr eine Aufnahme im Haushalt des Vaters aus außerhalb der Ausreisebestimmungen liegenden Gründen verwehrt worden sei. Alternative sachgerechte Unterbringungsmöglichkeiten seien nicht mehr aufklärbar. Eine sachfremde Zweckrichtung ergebe sich auch nicht daraus, dass die Beschwerdeführerin nicht in ein sogenanntes Normalheim, sondern zunächst in ein Durchgangsheim und dann in einen Jugendwerkhof eingewiesen worden sei. Der Einweisungsbeschluss sei nicht mehr auffindbar, so dass sich die Gründe für die Einweisung nicht mehr feststellen ließen. Sollte die Einweisung allein aus Kapazitätsgründen erfolgt sein, würde sich daraus ebenfalls kein sachwidriger Zweck ergeben. Es könne auch kein grobes Missverhältnis zwischen Anlass der Unterbringung und den angeordneten Rechtsfolgen festgestellt werden. Dies lasse sich aus der konkreten Unterbringungssituation nicht herleiten. Gegenstand der Überprüfung sei nur die Einweisungsentscheidung. Die Anordnung der Unterbringung sei auch nicht aus sonstigen Gründen mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar. Die praktizierten Erziehungsmethoden - auch soweit sie aus heutiger Sicht die Menschenwürde verletzten und nicht mehr akzeptabel seien - hätten im Wesentlichen auch den Anschauungen in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre entsprochen und seien dort in ähnlicher Weise praktiziert worden.

Mit Schreiben vom Dezember 2011 erhob die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge. Mit ihrer gleichzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin Verletzungen ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB -, des Rechts auf Ehe und Familie gem. Art. 12 VvB und einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz sowie das Willkürverbot nach Art. 10 Abs. 1 VvB geltend. Weder das Landgericht noch das Kammergericht hätten sich mit ihrem Vortrag, sie habe Zwangsarbeit verrichten müssen, auseinandergesetzt. Weiterhin habe das Kammergericht ihren Vortrag zu den Einweisungsgründen nicht gewürdigt. Es habe seine Entscheidung fehlerhaft damit begründet, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass bewusst und trotz vorhandener Alternativen ungeeignete Einrichtungen ausgewählt worden seien. Schließlich sei das Kammergericht über den Vortrag hinweggegangen, im Jugendwerkhof sei grundlos Arrest angeordnet worden. Die Nichtberücksichtigung des Vortrags, der leibliche Vater sei zu ihrer Aufnahme bereit gewesen, verletze ihr Recht aus Art. 12 VvB. Die Begründung des Kammergerichts, es komme im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren nur auf die Einweisungsentscheidung als solche, nicht aber auf deren Folgen an, sei willkürlich. Das Kammergericht setze sich damit in Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen im Beschluss vom 15. Dezember 2004 (zum Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau). Es verstoße gegen den Gleichheitssatz, wenn dessen ehemalige Insassen unabhängig vom Einweisungsgrund rehabilitiert würden, während ihr die Rehabilitierung mit der Begründung verweigert würde, aus der konkreten Unterbringungssituation lasse sich kein grobes Missverhältnis zwischen dem Anlass der Unterbringung und den angeordneten Rechtsfolgen herleiten.

Mit Beschluss vom 9. Mai 2012 hat das Kammergericht die Anhörungsrüge mangels entscheidungserheblicher Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verworfen.

Die übrigen Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist im Wesentlichen begründet.

1. a) Die Verfassungsbeschwerde ist allerdings unzulässig, soweit sich die Beschwerdeführerin auch gegen die erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts wendet. Insoweit werden nur Verfassungsverstöße gerügt, die im Beschwerdeverfahren nach § 13 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes - StrRehaG - korrigierbar waren (vgl. Beschluss vom 20. Juni 2012 - VerfGH 49/10, 49 A/10 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn. 15 m. w. N.).

b) Soweit die Beschwerdeführerin die Entscheidung des Kammergerichts angreift, kann dahinstehen, ob die Rüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB - insgesamt unzulässig ist, weil die Beschwerdeführerin den nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 9. Mai 2012 über ihre Anhörungsrüge dem Verfassungsgerichtshof nicht mitgeteilt und übermittelt hat. Insoweit genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den Darlegungsanforderungen gemäß § 49 Abs. 1 und § 50 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - (vgl. Beschluss vom 16. März 2010 - VerfGH 111/09, 111 A/09 - Rn. 15). Jedenfalls hat es die Beschwerdeführerin versäumt, sich mit den Gründen des Anhörungsrügebeschlusses auseinanderzusetzen. Insofern hätte sie im Verfassungsbeschwerdeverfahren erläutern müssen, warum sie ihr rechtliches Gehör gleichwohl noch als verletzt ansieht. Eine andere Beurteilung käme nur in Betracht, wenn der gerügte Verfassungsverstoß auch unter Berücksichtigung des Anhörungsrügebeschlusses weiterhin offensichtlich erschiene (vgl. Beschluss vom 14. November 2012 - VerfGH 127/10 - Rn. 13).

2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und aufgrund einer im Lichte des Art. 10 Abs. 1 VvB verfehlten Auslegung des § 2 Abs. 1 StrRehaG sowie einer - der Sache nach zugleich geltend gemachten - Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB begründet.

a) Das Kammergericht hat den Vortrag der Beschwerdeführerin, ihre Einweisung und Festhaltung in Heimen habe auch deshalb sachfremden Zwecken gedient, weil sie im Haushalt ihres leiblichen Vaters in der Schweiz hätte Aufnahme finden können, mit einer verfassungsrechtlich nicht haltbaren Begründung unberücksichtigt gelassen. Seine Auffassung, das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz habe "nicht den Zweck, die Ausreisepraxis der DDR aufzuarbeiten und Betroffene dafür zu entschädigen, dass sie nicht aus der DDR ausreisen durften", beruht auf einer krassen Missdeutung des Inhalts der Norm, durch die das gesetzgeberische Anliegen grundlegend verfehlt wird. Dies verstößt gegen das- mit Art. 3 Abs.1 GG übereinstimmende - objektive Willkürverbot aus Art. 10 Abs. 1 VvB (vgl. zur willkürlichen Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 1 StrRehaG auch BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 - 2 BvR 718/08 -, juris Rn. 16 ff.). Das Kammergericht hätte seine Entscheidung deshalb auch nicht darauf stützen dürfen, schon nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ihr eine Aufnahme im Haushalt des Vaters aus außerhalb der Ausreisebestimmungen liegenden Gründen verwehrt worden sei. Vielmehr hätte es die eidesstattliche Versicherung des Vaters berücksichtigen und diesem Vorbringen ggf. weiter nachgehen müssen.

Nach § 2 Abs. 1 StrRehaG finden die Vorschriften des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf eine außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, entsprechende Anwendung (Satz 1). Dies gilt insbesondere für eine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt sowie eine Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat (Satz 2). Von diesem Maßstab ist das Kammergericht zwar zutreffend ausgegangen. Es hat jedoch verkannt, dass das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz - wie sich aus dessen § 1 Abs. 1 ergibt - der Rehabilitierung auch und gerade gegenüber solchen staatlichen Akten der DDR dienen soll, die mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar gewesen sind und in diesem Sinne sachfremden Zwecken gedient haben. Dazu zählten zweifellos auch das strafbewehrte Verbot und hieran anknüpfende übermäßige Beschränkungen der Ausreise nach dem DDR-Grenzregime. Das folgt mittelbar und in entsprechender Berücksichtigung nach § 2 Abs. 1, § 1 Abs. 5 StrRehaG auch aus § 1 Abs. 1 Nr. 1 e) StrRehaG. Nach dieser Bestimmung besteht eine Regelvermutung rehabilitierungsfähiger politischer Verfolgung für strafrechtliche Verurteilungen wegen ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 StGB-DDR (einschließlich sog. Republikflucht), soweit nicht nach dieser Bestimmung Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet, Waffen mitgeführt oder gefährliche Mittel oder Methoden angewandt wurden (vgl. auch LG Berlin, Beschluss vom 6. Dezember 2011 - (551 Rh) 3 Js 197 - 199/10 (1166/09) u. a. -, juris Rn. 17 ff.). Das Recht auf Ausreise gehört außerdem zu den grundlegenden Menschenrechten und damit zugleich zu den wesentlichen Grundsätzen jeder freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung (vgl. Art. 13 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 - AEMR -, Art. 2 Abs. 2 des 4. Zusatzprotokolls vom 16. September 1963 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK - und Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966; vgl. dazu grundlegend BGH, Urteil vom 3. November 1992 - 5 StR 370/92 -, juris Rn. 40 ff.). Zwar begründet das alleinige Verbot der Ausreise aus der DDR danach keinen Anspruch auf Rehabilitierung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, wohl aber kann und wird im Zweifelsfalle die Verhinderung der Ausreise - etwa wie hier geltend gemacht zu einem aufnahmebereiten Elternteil im Ausland - anstelle einer freiheitsentziehenden Heimunterbringung eine auf sachfremden Zwecken beruhende Maßnahme im Sinne des § 2 Abs. 1 StrRehaG darstellen. Die abweichenden pauschalen Ausführungen des Kammergerichts, die sich weder mit den genannten menschenrechtlichen Verbürgungen der Ausreisefreiheit und deren Stellenwert für eine freiheitliche rechtsstaatliche Ordnung noch mit der in § 1 Abs. 1 Nr. 1 e) StrRehaG zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung auseinandersetzen, beruhen auf einem verfehlten Gesetzesverständnis und verletzen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten.

b) Die verfassungsrechtlich unhaltbare Rechtsansicht des Kammergerichts hat dazu geführt, dass es das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu einer alternativen Unterbringung bei ihrem leiblichen Vater in der Schweiz von vornherein als unbeachtlich angesehen und insoweit von jeder weiteren tatsächlichen Aufklärung abgesehen hat. Etwas anderes folgt auch nicht aus der - vom Verfassungsgerichtshof grundsätzlich nicht zu überprüfenden - tatrichterlichen Feststellung des Kammergerichts, schon nach dem eigenen Vorbringen der Beschwerdeführerin lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ihr eine Aufnahme im Haushalt des Vaters aus außerhalb der Ausreisebestimmungen liegenden Gründen verwehrt worden sei. Zum einen beruht diese Feststellung ausdrücklich nicht auf eigenen Ermittlungen des Kammergerichts. Zum anderen ergibt sich hieraus nicht, dass die konkreten Umstände der Heimeinweisung oder deren Aufrechterhaltung nicht auch und gerade wegen einer Anwendung der Ausreisebestimmungen rechtsstaatswidrig waren. Eine weitere Aufklärung von Amts wegen wäre indes - bei verfassungsgemäßer Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts - bereits einfachrechtlich nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG und verfassungsrechtlich gem. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 VvB geboten gewesen. Dies gilt auch, soweit die ungeklärten Umstände der Ausreise des leiblichen Vaters aus der ehemaligen DDR von Einfluss auf die behördlichen Maßnahmen gegenüber der Beschwerdeführerin und die Verweigerung einer Ausreise gewesen sein können. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine weitere Sachaufklärung insoweit aussichtslos gewesen wäre.

c) Die angegriffene Entscheidung beruht auf den Verfassungsverstößen. Es ist nicht auszuschließen, dass das Kammergericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung kommen wird, zumal da nach seiner Rechtsprechung die Unterbringung in Kinderheimen unter Ausschaltung aufnahmebereiter, in der DDR lebender Verwandter politische Verfolgung indiziert (KG, Beschluss vom 16. Juni 2011 - 2 Ws 351/09 REHA -, juris Rn. 42).

3. Auf die weiter gerügten Grundrechtsverstöße kommt es danach nicht an. Das Kammergericht wird jedoch im erneuten Beschwerdeverfahren auch Gelegenheit haben, sich mit dem weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin nochmals auseinanderzusetzen und dabei trotz der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen zu nicht mehr existenten Akten und Unterlagen der sachtypischen Beweisnot von Antragstellern in Rehabilitierungsverfahren angemessen Rechnung zu tragen. Der pauschale Verweis auf angeblich vergleichbare Zu- oder Missstände in Jugendhilfeeinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland oder in anderen westlichen Staaten kann eine Nachprüfung am Maßstab des § 2 Abs. 1 StrRehaG auf der Grundlage nachprüfbarer Tatsachenfeststellungen nicht ersetzen.

III.

Die angegriffene Entscheidung ist nach § 54 Abs. 3 VerfGHG aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Kammergericht zurückzuverweisen.

Der Beschluss des Kammergerichts vom 9. Mai 2012 wird damit gegenstandslos.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.

Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof abgeschlossen.

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