StGH des Landes Hessen, Beschluss vom 09.12.2020 - P.St. 2781
Fundstelle
openJur 2021, 434
  • Rkr:

1. Ist das Quorum von einem Zehntel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Landtags nicht erfüllt, sind im Rahmen eines Verfassungsstreitverfahrens nach § 42 Abs. 2 Satz 1 StGHG einzelne Landtagsabgeordnete nicht antragsberechtigt.

2. Ein in einem Verfassungsstreitverfahren nach § 42 StGHG gegen den Präsidenten des Hessischen Landtags gerichteter Antrag ist unzulässig, weil der Landtagspräsident nach § 42 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StGHG kein Antragsgegner einer Verfassungsstreitigkeit sein kann.

Tenor

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.

Gründe

A

Gegenstand der Verfassungsstreitigkeit ist eine Allgemeinverfügung des Antragsgegners, mit der die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Plenarsaal des Hessischen Landtags angeordnet wird. Die Antragsteller zu 2 bis 6 sind Abgeordnete im Hessischen Landtag und Mitglieder der Antragstellerin zu 1.

I.

Am 4. November 2020 erließ der Antragsgegner gestützt auf Art. 86 Satz 4 der Verfassung des Landes Hessen (kurz: Hessische Verfassung - HV -) in Verbindung mit § 44 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Hessischen Landtages - GO-LT - eine Allgemeinverfügung, die in § 2 Abs. 1 bestimmt, dass in den Landtagsräumlichkeiten eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen ist, was insbesondere für den Plenarsaal und seine Besuchertribüne, die Sitzungssäle und die Besprechungsräume gilt. Gemäß § 2 Abs. 2 der Allgemeinverfügung ist in diesen Räumlichkeiten eine Mund-Nasen-Bedeckung am Platz auch dann zu tragen, wenn ein Mindestabstand von 1,50 Meter zu anderen Personen eingehalten werden kann. § 3 der Allgemeinverfügung bestimmt Ausnahmen von der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung. Nach dessen Absatz 2 dürfen sich Personen, die durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft machen können, dass es ihnen nicht zumutbar oder nicht möglich ist, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, stattdessen auf ein sogenanntes Visier (Face Shield) beschränken. § 5 der Allgemeinverfügung regelt die Folgen der Missachtung der Verpflichtung, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Sie reichen von den Mitteln des Verwaltungszwangs nach dem Hessischen Verwaltungsvollstreckungsgesetz über Geldbußen nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten bis hin zum Hausverweis und Hausverbot. § 6 der Allgemeinverfügung ordnet die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung an. Gemäß § 7 Abs. 1 der Allgemeinverfügung gelten die Anordnungen ab dem 9. November 2020.

II.

Die Antragsteller führen aus, der Antragsteller zu 2 sei ausweislich eines ärztlichen Attests nicht in der Lage, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Die Antragsteller zu 3 bis 6 seien von der Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung nicht durch ärztliches Attest befreit. Im Plenarsaal sei die Zahl der gleichzeitig anwesenden Abgeordneten reduziert worden, so dass dort ein Mindestabstand von 1,50 Meter zu anderen Personen gewährleistet sei.

Die Antragsteller wenden sich gegen die sich aus der Allgemeinverfügung des Antragsgegners ergebende Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Plenarsaal. Zur Begründung tragen sie vor, dem Antragsgegner fehle es an einer Ermächtigung zur Anordnung einer Maskenpflicht. Er habe die Antragsteller in ihrer freien Mandatsausübung aus Art. 76 HV beeinträchtigt, da ihnen als Landtagsabgeordnete die Möglichkeit genommen werde, im Plenarsaal die Regierungspolitik durch ablehnende Mimik zu kommentieren. Die Antragsteller, die den "Maskenzwang" für eine politische Fehlentscheidung hielten und der Corona-Politik der Landes- und der Bundesregierung kritisch gegenüberstünden, würden durch die Verpflichtung, im Plenarsaal eine Maske zu tragen, in ihrer politischen Meinung der Regierungspolitik "zwangsweise äußerlich unterworfen". Da die sogenannten Corona-Verordnungen und Verfügungen in rechtswidriger Praxis "am Parlament vorbei" erfolgten, seien die Antragsteller zudem als Organe der Legislative durch die Anordnung der Maskenpflicht ohne parlamentarische Zustimmung dieser "bedenklichen Notverordnungspolitik" unterworfen. Indem bei Missachtung der Verpflichtung zum Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung die Allgemeinverfügung Zwangs- und Bußgeld androhe, seien die Antragsteller in ihrem Recht auf Indemnitätsschutz aus Art. 95 HV verletzt. Zudem seien sowohl die Anordnung der Maskenpflicht als auch die Anordnung zum Tragen eines sogenannten Face Shields unverhältnismäßig. Auch sei die Notwendigkeit der sofortigen Vollziehbarkeit nicht hinreichend begründet worden.

Die Antragsteller beantragen,

festzustellen, dass die Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 4. November 2020 die Antragsteller in ihren Rechten aus Art. 76, 95, 96 HV verletzt.

Zugleich begehren sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung (P.St. 2782 e.A.).

III.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er hält den gestellten Antrag für unzulässig und unbegründet.

Der Antrag sei unzulässig, weil der Antragsgegner nicht passivlegitimiert sei. Zudem fehle den Antragstellern zu 2 bis 6 die Antragsberechtigung. Der Antrag der Antragstellerin zu 1 dürfte bereits nicht wirksam gestellt worden sein, da zum Vorliegen eines zur Einreichung eines verfahrenseinleitenden Antrags notwendigen Fraktionsbeschlusses nichts vorgetragen sei. Die Antragsteller seien überdies nicht antragsbefugt. Schließlich fehle der Nachweis einer ordnungsgemäßen Bevollmächtigung.

Eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Allgemeinverfügung finde sich in Art. 86 Satz 4 HV in Verbindung mit § 44 Abs. 4 GO-LT. Die Allgemeinverfügung greife in keine verfassungsmäßigen Rechte der Antragsteller ein. Die Anordnung des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Landtagsräumlichkeiten verletze auch nicht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

IV.

Die Hessische Landesregierung hat von einer Stellungnahme abgesehen.

V.

Die Landesanwaltschaft hat sich an dem Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Anordnung beteiligt und insoweit die Auffassung vertreten, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen sei.

B

I.

Der Antrag ist unzulässig.

1. Die Antragsteller begehren eine Entscheidung des Staatsgerichtshofes über eine Verfassungsstreitigkeit im Sinne von Art. 131 Abs. 1 HV. Aus der in der Antragschrift gewählten Bezeichnung "Organstreitverfahren" und aus dem den Streitgegenstand bestimmenden Antrag ergibt sich, dass die Antragsteller ein Verfassungsstreitverfahren eingeleitet haben. Indem die Antragsteller die Feststellung erstreben, dass die auf Art. 86 Satz 4 HV gestützte Allgemeinverfügung des Antragsgegners sie in ihren Rechten aus Art. 76, 95, 96 HV verletzt, machen sie eine Verletzung ihrer organschaftlichen Kompetenzen durch den Antragsgegner geltend.

- Zum Gegenstand einer Verfassungsstreitigkeit siehe StGH, Urteil vom 26.07.1978 - P.St. 789 -, StAnz. 1978, 1683 [1686 ff] = juris, Rn. 61 f.; Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 42 Rn. 5 -

2. Der Antrag ist im Verfassungsstreitverfahren nach dem Gesetz über den Staatsgerichtshof - StGHG - unzulässig, weil die Antragsteller zu 2 bis 6 und der Präsident des Hessischen Landtags nicht Beteiligte einer Verfassungsstreitigkeit sein können.

a) Antragsteller können nur die in § 42 Abs. 2 Satz 1 und 2 StGHG genannten Antragsberechtigten sein. Auf diese beschränkt sich nach § 42 Abs. 2 Satz 3 StGHG auch der Kreis der Antragsgegner. Hiernach sind antragsberechtigt nur der Landtag, ein Zehntel der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Landtags, eine Fraktion des Landtags, die Landesregierung, die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident, die Landesanwaltschaft und der Rechnungshof. Einzelne Abgeordnete und der Präsident des Landtags sind unter den Antragsberechtigten nicht aufgeführt; sie können deshalb weder Antragsteller noch Antragsgegner sein. Verfassungsstreitigkeiten zwischen nicht Antragsberechtigten können in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, 3. Var. Grundgesetz - GG -, § 13 Nr. 8, §§ 71 f. Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG - fallen.

- Detterbeck, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 75; Sacksofsky, in: Hermes/Reimer, Landesrecht Hessen, 9. Aufl. 2019, § 2 Verfassungsrecht, Rn. 87 -

b) Zwar ist § 42 Abs. 1 StGHG zu entnehmen, dass Gegenstand einer Verfassungsstreitigkeit die Auslegung der Hessischen Verfassung aus Anlass von Streitigkeiten nicht nur über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Landesorgans, sondern auch über den Umfang der Rechte und Pflichten anderer Beteiligter sein kann, die durch die Verfassung des Landes Hessen, durch Gesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Landesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, dass auch Organteile wie die Abgeordneten oder der Landtagspräsident antragsberechtigt sein können. Denn § 42 Abs. 2 StGHG definiert den Katalog der Antragsberechtigten und Antragsgegner abschließend.

In § 42 Abs. 2 Satz 1 StGHG nicht genannte Antragsberechtigte kommen unabhängig davon, ob sie als Organe oder Organteile mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet sind, nicht als Antragssteller bzw. Antragsgegner eines Verfassungsstreitverfahrens in Betracht.

- Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 42 Rn. 10 -

c) Insoweit unterscheidet sich die Rechtslage in Hessen von der auf Bundesebene.

Im Rahmen eines Organstreitverfahrens, über das das Bundesverfassungsgericht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Verbindung mit § 13 Abs. 1 Nr. 5 BVerfGG zu entscheiden hat, können nach § 63 BVerfGG Antragsteller und Antragsgegner der Bundestag und weitere dort aufgeführte oberste Bundessorgane sowie die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe sein. Da der Präsident des Deutschen Bundestages im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet ist, kann er gemäß § 63 BVerfGG als Organteil oder jedenfalls als anderer Beteiligter i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG Antragsgegner eines Organstreitverfahrens sein.

- BVerfG, Beschluss vom 07.10.1969 - 2 BvQ 2/69 -, BVerfGE 27, 152 [157] = juris, Rn. 12; Beschluss vom 08.06.1982 - 2 BvE 2/82 -, BVerfGE 60, 374 [378] = juris, Rn. 84 ff.; Detterbeck, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 93 Rn. 46 -

Die unterschiedliche Rechtslage auf Landes- und Bundesebene ergibt sich daraus, dass in dem Katalog des § 42 Abs. 2 StGHG, im Gegensatz zur vergleichbaren Regelung des § 63 BVerfGG, nicht aufgeführt wird, dass auch Organteile antragsberechtigt sind, die in der Hessischen Verfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Landesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.

d) Offenbleiben kann, ob der Landtag als Zurechnungsendobjekt der Allgemeinverfügung und damit als Antragsgegner der Antragstellerin zu 1 bei einer entsprechenden Auslegung ihres Antrages in Betracht kommt.

- Für Zurechenbarkeit von Maßnahmen der Ordnungs- und Sitzungs-gewalt des Landtagspräsidenten Rupp-v. Brünneck/Konow, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Art. 84 Erl. 3 f.; gegen die Zurechenbarkeit von Ordnungsmaßnahmen des Bundestagspräsi-denten zum Bundestag BVerfG, Beschluss vom 08.06.1982 - 2 BvE 2/82-, BVerfGE 60, 374 [379] = juris, Rn. 18; zur Zurechenbarkeit von Maßnahmen des Präsidenten des Hessischen Landtages in Ausübung seines Hausrechts und seiner Polizeigewalt nach Art. 86 Satz 4 HV näher Günther, Hausrecht und Polizeigewalt des Parlamentspräsi-denten, 2013, S. 30 ff., 46 ff., 54 f.; für eine Wirkung hausrechtlicher Maßnahmen des Landtagspräsidenten auch gegenüber Abgeord-neten BayVerfGH, Beschluss vom 14.09.2020 - Vf. 70 - IVa - 20 -, juris, Rn. 1, 15; Günther, a.a.O., S. 63 ff., 74 f.; ebenso zu haus- und polizeirechtlichen Maßnahmen des Bundestagspräsidenten Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 40 Rn. 174 (Nov. 2018) -

Denn die Zulässigkeit des Antrages der Antragstellerin zu 1 scheitert jedenfalls am Erfordernis der Antragsbefugnis.

3. Die an sich antragsberechtigte Antragstellerin zu 1 hat ihre Antragsbefugnis nicht ausreichend substantiiert dargelegt.

Der Staatsgerichtshof entscheidet gemäß § 42 Abs. 3 StGHG, wenn geltend gemacht wird, durch eine Maßnahme oder Unterlassung anderer Antragsberechtigter in den durch die Verfassung des Landes Hessen übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Die Antragstellerin zu 1 muss hiernach schlüssig behaupten, dass sie und der (vermeintliche) Antragsgegner an einem Rechtsverhältnis unmittelbar beteiligt sind und hieraus erwachsende eigene Rechte und Zuständigkeiten der Antragstellerin zu 1 durch die beanstandete Maßnahme oder das Unterlassen verletzt oder unmittelbar gefährdet sind. Eine Verletzung von Rechten der Antragstellerin zu 1 muss nach dem vorgetragenen Sachverhalt zumindest möglich erscheinen. Erforderlich ist ein hinreichend substantiierter Vortrag.

- StGH, Urteil vom 09.10.2013 - P.St. 2319 -, StAnz. 2013, 1364 [1368] = juris, Rn. 99 f. m.w.N.; Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 42 Rn. 36 -

Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Antragstellerin zu 1 nicht. Die in der Antragsschrift erhobenen Einwände beziehen sich inhaltlich nicht auf die Antragstellerin zu 1, sondern betreffen die Rechtsstellung der Antragsteller zu 2 bis 6. Wie die Antragstellerin zu 1 als Vereinigung von Landtagsabgeordneten durch die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Plenarsaal in ihrer aus der freien Mandatsausübung aus Art. 76 Abs. 1 HV abgeleiteten Rechtsstellung (auch in Verbindung mit dem Indemnitätsschutz aus Art. 95 HV) verletzt sein sollte, ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich.

So kann mit dem Einwand, dass durch die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung den Landtagsabgeordneten die Möglichkeit genommen werde, im Plenarsaal die Regierungspolitik durch ablehnende Mimik zu kommentieren, nur eine Rechtsverletzung der Antragsteller zu 3 bis 6 geltend gemacht werden, nicht jedoch der Antragstellerin zu 1. Ebenso verhält es sich mit dem Einwand, dass die Antragsteller durch die Pflicht zum Tragen einer Maske in ihrer politischen Meinung der Regierungspolitik "zwangsweise äußerlich unterworfen" würden; auch dies kann nur bezüglich der Antragsteller zu 2 bis 6 in Betracht kommen.

Auch die Ausführungen zu einer möglichen Verletzung des Indemnitätsschutzes betreffen nicht die Antragstellerin zu 1, da sich der persönliche Schutzbereich des Indemnitätsschutzes nur auf ein Mitglied des hessischen oder eines anderen deutschen Landtags erstreckt, nicht aber auf Fraktionen (vgl. Art. 95 HV). Gleiches gilt für den Immunitätsschutz nach Art. 96 HV.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 28 StGHG.