ArbG Iserlohn, Urteil vom 27.05.2020 - 3 Ca 1672/19
Fundstelle
openJur 2021, 296
  • Rkr:

Die Klägerin wird durch die Regelung des § 8 Abs. 3 MTV aufgrund ihres Alters benachteiligt. Die unterschiedliche Behandlung ist auch nicht gem. § 10 AGG gerechtfertigt.

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.759,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 14.797,00 € seit dem 17.09.2019 und aus 962,00 € seit dem 30.01.2020 zu zahlen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

3. Der Streitwert wird auf 15.759,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um einen Entgeltanspruch.

Die am 31.10.19XX geborene Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 01.08.2009, die Klägerin war zu jenem Zeitpunkt 18 Jahre alt, zunächst bis zum 16.01.2012 als Auszubildende, dann als Bankkauffrau mit einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt 4023,00 Euro beschäftigt.

In dem kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme anwendbaren Manteltarifvertrag insbesondere für das private Bankgewerbe in der Fassung von Juli 2014 (im Folgenden "MTV") heißt es auszugsweise wie folgt:

"...

§ 8 Einstufung in die Berufsjahre

1. Das Mindestgehalt aller Arbeitnehmer richtet sich nach Berufsjahren. Jugendliche Arbeitnehmer erhalten bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres das Gehalt des 1. Berufsjahres der betreffenden Tarifgruppe. ln den Tarifgruppen 6 bis 9 ist unabhängig von den Berufsjahren mindestens das ausgewiesene Eingangsgehalt zu zahlen.

2. Das Aufrücken in ein höheres Berufsjahr erfolgt am 1. Januar.

3. Als Berufsjahre gelten die Jahre, in denen der Arbeitnehmer bei einem Bankoder Kreditinstitut tätig war. Ausbildungsjahre rechnen dann nicht mit, wenn sie vor der Vollendung des 20. Lebensjahres liegen. Das erste Berufsjahr beginnt frühestens mit dem 1. Januar des Kalenderjahres, in dem der Arbeitnehmer sein 20. Lebensjahr vollendet.

4. Einem Angestellten, der nach vollendetem 20. Lebensjahr in ein Bankoder Kreditinstitut eingetreten ist oder eintritt, werden die nach dem 20. Lebensjahr in anderen kaufmännischen Berufen und bei Behörden als Auszubildender oder im Bürodienst verbrachten Jahre angerechnet. Das gleiche gilt für gewerbliche Arbeitnehmer hinsichtlich der in gleicher Dienststellung bei anderen Betrieben verbrachten Jahre. ln den Tarifgruppen 1 bis 3 werden alle nach dem 20. Lebensjahr verbrachten Berufsjahre angerechnet, unabhängig 14

von der Art der Tätigkeit.

5. Den Arbeitnehmern, die aus einem Bankoder Kreditinstitut unverschuldet und unfreiwillig ausgeschieden sind, werden die Zeiten nachgewiesener Arbeitslosigkeit nach einjähriger Zugehörigkeit zum Betrieb voll angerechnet. Als anrechenbare Arbeitslosigkeit soll auch jede, infolge der Arbeitslosigkeit ausgeübte nicht gleichwertige Tätigkeit behandelt werden.

6. Arbeitnehmer, die auf Grund ihrer Tätigkeit in eine höhere Tarifgruppe übernommen werden, sind in das gleiche Berufsjahr der höheren Tarifgruppe einzureihen.

Protokollnotiz

Für ab dem 1. April 1992 neu eintretende bzw. ins Angestelltenverhältnis übernommene Tarifangestellte rechnen als Berufsjahremit Ausnahme von Ausbildungszeiten auch Tätigkeitszeiten gemäß Ziff. 3 und 4, die vor Vollendung des 20. Lebensjahres liegen.

..."

Entsprechend der tariflichen Regelung gem. § 8 III MTV berücksichtigte die Beklagte bei dem Mindestentgelt der Klägerin als "Berufsjahre" nicht die Ausbildungsjahre vor Vollendung ihres 20. Lebensjahres. Die Tarifvertragsparteien haben sich mit Wirkung ab dem 01.04.2020 auf eine Neufassung des § 8 MTV verständigt, die ab dem diesem Zeitpunkt eine vollständige Berücksichtigung aller Ausbildungsjahre, also auch jene vor dem 20. Lebensjahr, bei der Bemessung des Entgelts vorsieht.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass es gegen das primärrechtliche Verbot der Ungleichbehandlung wegen Alters verstoße, das nach dem tarifvertraglichen Vergütungssystem Ausbildungsjahre nicht mitrechnen, wenn sie vor Vollendung des 20. Lebensjahres liegen würden. Wären bei der Klägerin die Berufsjahre komplett berücksichtigt worden, wäre sie bereits ab 01.01.2016 in die Tarifgruppe 7/08 eingestuft anstatt in die Tarifgruppe 07/06 und es würden sich entsprechend ab dann monatliche Entgeltdifferenzen i.H. v. 210 Euro zur tatsächliche ausgezahlten Summe ergeben. Unterschiede bei der Einstufung und Entgeltdifferenzen würden sich ab 01.10.2016 (214 Euro), am 01.01.2017 (209 Euro), ab 01.10.2017 (236 Euro), ab 01.01.2018 (479 Euro), ab 01.11.2018 (484 Euro) und ab 01.01.2019 (488 Euro) ergeben. Die Summe der monatlichen Entgeltdifferenzen betrage 15.759,00 Euro.

Die Klägerin beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 15.759,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 14.797,00 € seit dem 17.09.2019 und aus 962,00 € seit dem 30.01.2020 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass kein Verstoß gegen § 7 AGG vorliege. Die Regelung sei nach § 10 AGG zulässig. Mit der Regelung würde die berufliche Eingliederung von Jugendlichen gefördert. Die Erhaltung von Ausbildungsplätzen und die Übernahme der Auszubildenden würden vorrausetzen, dass die Kosten wirtschaftlich zumutbar seien. Die Regelung bezwecke einen angemessenen Ausgleich zwischen Ausbildungskosten und Ausbildungsnutzen. Ausbildungsverhältnisse könnten nicht mit Arbeitsverhältnissen gleichgesetzt werden. Junge Auszubildende hätten einen vielfach höheren Betreuungsbedarf. Ausbildungskosten seien bei jüngeren Auszubildenden grundsätzlich höher. Die Altersgrenze von 21 Jahren würde sich auch in zahlreichen anderen deutschen Gesetzen finden. Der Stichtag entspreche den gesetzlichen Wertungen. Auch bei Unwirksamkeit könne es keine Anpassung nach oben geben, da bei Fassung des § 8 MTV das AGG noch nicht bestanden habe. Die Klägerin habe die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht ausreichend dargelegt. Sie müsse darlegen, dass ihr nicht nur die Berufsjahreinstufung, sondern auch die Tarifgruppe tatsächlich zustehe. Wenn die Beklagte die Klägerin in eine höhere Tarifgruppe eingruppiert habe, würde eine übertarifliche Vergütung vorliegen. Beispielsweise ergebe sich dann für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis 30.09.2017 keine Differenz.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst den beigefügten Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 27.05.2020 verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

I.

Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte aus § 611 I 2. Hs. BGB auf die Zahlung von 15.759,00 Euro brutto.

Nach §§ 1, 2 7 I AGG dürfen Beschäftigte nicht aufgrund eines Merkmals nach § 1 AGG benachteiligt werden. § 8 III MTV ist daher gem. § 7 II AGG unwirksam, da es eine Bestimmung enthält, die gegen das Benachteiligungsverbot verstößt.

Die Klägerin wird durch die Regelung des § 8 III MTV aufgrund ihres Alters benachteiligt. Ihre Ausbildungsjahre werden bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres nicht entgeltwirksam angerechnet, so dass sich insbesondere über den Gesamtzeitraum des Arbeitsverhältnisses ein erheblicher und sich über die Dauer des Arbeitsverhältnis kumulierender finanzieller Nachteil etwa gegenüber Auszubildenden ergibt, die bei Beginn der Ausbildung bereits 21 Jahre alt sind, aber auch gegenüber von zu Beginn des Arbeitsverhältnisses unter 20jährigen Arbeitnehmern, deren Berufsjahre altersunabhängig von Anfang an anrechnet werden, und die jeweils genauso lange wie die Klägerin betriebszugehörig sind. Dabei knüpft die fragliche Regelung nicht etwa an das Merkmal "Ausbildung" an, sondern allein an das Alter. Denn über 21jährige Auszubildende erleiden eben keinen Nachteil.

Die unterschiedliche Behandlung ist auch nicht gem. § 10 AGG gerechtfertigt. Soweit die Beklagte behauptet, dass jüngere Auszubildende grundsätzlich allein wegen ihres Alters kostenintensiver als ältere Auszubildende sein sollen und es für die Beklagte notwendig sei, Zusatzkosten durch finanzielle Benachteiligung von jüngeren Auszubildenden auszugleichen, hat dies nichts mit einer "Förderung von beruflicher Eingliederung von Jugendlichen" gem. § 10 S. 3 Nr. 1 AGG zu tun, sondern mit rein wirtschaftlichen Erwägungen der Beklagten. Sie behauptet jedenfalls nicht, dass sie ohne entsprechende "Einsparungen" bei den jüngeren Auszubildenden etwa keine unter 20jährigen Auszubildenden annehmen würde. Konkrete Beispiele nennt die Beklagte ohnehin nicht, aber auch im Allgemeinen ist das Gericht nicht überzeugt davon, dass etwa ein 19jähriger Auszubildender generell einen höheren Betreuungsbedarf als etwa ein 21jähriger Auszubildender aufweist. Dies dürfte nicht eine Frage des Alters, sondern der persönlichen Reife und Entwicklung sein. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten erscheint konstruiert. Auch erschließt sich dem Gericht nicht, warum in anderen Gesetzen vorzufindenden Altersgrenzen die hier vorliegende und nach der gesetzlichen Wertung des AGG unzulässige Altersdiskriminierung rechtfertigen sollen. Die Ungleichbehandlung gem. § 8 III MTV, die sich in anwachsenden finanziellen Nachteilen über die gesamte Dauer des Arbeitsverhältnisses erstreckt, ist jedenfalls weder objektiv, noch angemessen und erforderlich i. S. d. § 10 AGG.

Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass es sich hier um eine tarifliche Reglung handelt. Arbeitsgerichte könnten in Fällen nach dem AGG unwirksamer tariflicher Regelungen eine "Anpassung nach oben" vornehmen, gerade wenn die Tarifvertragsparteien nicht willens sind, eine Gleichstellung vorzunehmen bzw. die Benachteiligung zu beseitigen. Nur so kann die Ungleichbehandlung beseitigt werden (vgl. hierzu ausführlich BAG, Urteil vom 10.11.2011 - 6 AZR 148/09 -, juris). Ihren Unwillen zur Beseitigung der Benachteiligung haben die Tarifvertragsparteien nach dem Vortrag der Beklagten noch einmal ausdrücklich bekundet, in dem sie jüngst festgelegt haben, dass es bei der Neufassung des § 8 III MTV "keine Rückwirkung" geben soll. Immerhin soll die altersdiskriminierende Regelung für Ausbildungsverhältnisse ab dem 01.04.2020 beseitigt sein.

Die Klägerin ist so zu stellen, wie sie stünde, als würde es die streitgegenständliche Regelung des § 8 III MTV nicht geben. Somit wäre die Klägerin jeweils früher in die nächsthöhere tarifliche Entgeltstufe einzustufen gewesen. Die Beklagte behauptet schon nicht, dass die Klägerin falsch höhergruppiert gewesen sei, wofür die Beklagte im Übrigen auch darlegungsbelastet wäre. Selbst wenn man dies annähme, würde sich an der Rechtslage nichts ändern. Es ändert sich für die rechtliche Betrachtung allein die entgeltwirksame Betriebszugehörigkeit, nicht die Eingruppierung. Der Anspruch ergibt sich der Höhe nach aus der von der Klägerseite schlüssig vorgetragenen und der Höhe nach von der Beklagten nicht bestrittenen Summe der Entgeltdifferenzen, die sich daraus ergeben, dass bei der Klägerin nicht von Anfang an die Ausbildungsjahre entgeltwirksam in Bezug auf die an die Dauer der Betriebszugehörigkeit anknüpfenden tariflichen Regelungen angerechnet wurden.

II.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 46 Abs. 2 ArbGG i. V. m. § 91I 1 Nr. 1 ZPO. Danach hat die Beklagte als unterliegende Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 46 Abs. 2, 61 Abs. 1 ArbGG i. V. m. §§ 3 ff. ZPO nach dem Nominalwert des Zahlungsantrags.

RECHTSMITTELBELEHRUNG

Gegen dieses Urteil kann von der beklagten Partei Berufung eingelegt werden. Für die klagende Partei ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.

Die Berufung muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim

Landesarbeitsgericht Hamm

Marker Allee 94

59071 Hamm

Fax: 02381 891-283

eingegangen sein.

Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite www.justiz.de.

Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach dessen Verkündung.

Die Berufungsschrift muss von einem Bevollmächtigten unterzeichnet sein. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:

1. Rechtsanwälte,

2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,

3. juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.

Eine Partei, die als Bevollmächtigte zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.

* Eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.

Zitate0
Referenzen0
Schlagworte