VG Freiburg, Urteil vom 28.10.2020 - A 5 K 4285/16
Fundstelle
openJur 2021, 268
  • Rkr:

Der Schutz und Beistand, dem das Hilfswerk im Nahen Osten (UNRWA) dem bei ihm registrierten Personen bieten soll, wird derzeit für die staatenlosen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon nicht länger gewährt. Diese sind daher "ipso facto", d.h. unmittelbar, Flüchtlinge nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG bedarf.

Tenor

Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15.11.2016 wird in Nrn. 1 und 3-6 des Tenors aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und wendet sich gegen eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung.

Der nach seinen Angaben am x in x/Libanon geborene Kläger ist staatenloser Palästinenser sunnitischen Glaubens. Er reiste nach seinem Vortrag Ende November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 17.08.2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Dabei legte er einen Aufenthaltstitel für Palästinenser im Libanon vor.

Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - am 20.10.2016 gab der Kläger laut Protokoll an: Seine Familie sei bei UNRWA registriert. Er habe bis zu der am 18.11.2015 erfolgten Ausreise im Palästinenserlager Burj al-Shemali gelebt. Seine Eltern sowie fünf Schwestern und zwei Brüder lebten nach wie vor im Libanon. Er habe keine Schule besucht. Seit seinem 9. Lebensjahr habe er als Mechaniker gearbeitet. Aufgrund seiner guten praktischen Kenntnisse in der Kfz-Branche habe er in Deutschland einen unbefristeten Vertrag als Mechaniker in Vollzeit erhalten. Wehrdienst habe er nicht geleistet. Bei der sogenannten Palästinenser-Militärgruppe im Libanon würden nur Freiwillige genommen. Er habe daran kein Interesse gehabt, da er seinen Beruf gehabt habe. In seinem Heimatort gebe es zwei Teile, einen, in dem die Palästinenser lebten, und einen, in dem die Schiiten lebten. Von klein auf werde den Kindern der Schiiten der Hass auf die Sunniten beigebracht. Sie gingen nun zum Kämpfen und Sterben nach Syrien. Er jedoch habe sein Leben lang gearbeitet und sich aus solchen Dingen herausgehalten. Er sei auch nie in Moscheen gegangen. Auf die Frage, warum er dann aus dem Libanon ausgereist sei, erklärte der Kläger, als Palästinenser verdiene man im Libanon wenig Geld. Er habe pro Woche 125 Dollar erhalten. Seine libanesischen Kollegen hätten für die gleiche Arbeit jedoch 220 Dollar erhalten. Er habe nie versucht, deswegen vor Gericht zu gehen, weil das aussichtslos sei. Gewerkschaften, Arbeitsrecht oder Tarifverträge kenne man nicht im Libanon. In diesem System gehe es nur um Ausbeutung. Die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge würden jetzt noch weniger Geld erhalten. Das Dach seiner Wohnung habe aus sehr dünnem Wellblech bestanden. Im Winter habe er nur mit einem Holzofen heizen können. Er habe zur Miete gewohnt. Sein Ziel sei die Familienzusammenführung mit seiner noch im Libanon lebenden Familie. Da er hier in Deutschland bereits arbeite, sehe er seine Chance sehr gut. Der Kläger legte dem Bundesamt die Registrierung seiner Familie bei UNRWA vor.

Mit Bescheid vom 15.11.2016 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Zugleich forderte es den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Für den Fall nicht fristgerechter Ausreise wurde ihm die Abschiebung in den Libanon angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung heißt es: Aus dem Vorbringen des Klägers sei weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Im Sachvortrag des Klägers sei ausschließlich auf die vergleichsweise schlechteren Verdienstmöglichkeiten und ungünstigeren Wohnbedingungen im Libanon abgestellt worden. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Libanon führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Artikel 3 EMRK vorliege. Die hierfür geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Der Kläger sei erwerbsfähig. Ihm sei es auch bis zu seiner Ausreise gelungen, für sich und seine Familie eine Lebensgrundlage zu schaffen. Durch mehr als 20-jährige Berufserfahrung als Kfz-Mechaniker sei er in diesem Berufsfeld sehr gut qualifiziert. Somit bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass er nicht im Stande sein werde, bei einer Rückkehr eine zumindest existenzsichernde Grundlage für sich und seine Familie zu schaffen. Es sei nicht erkennbar, dass er von Hilfe und Unterstützung durch im Herkunftsland verbliebene Verwandte ausgeschlossen sein würde. Der Kläger habe angegeben, im Libanon noch über seine Eltern sowie über Geschwister zu verfügen. Der Bescheid wurde dem Kläger am 18.11.2016 zugestellt.

Am 23.11.2016 hat der Kläger Klage erhoben. Eine kürzlich durchgeführte Rückübersetzung des Protokolls habe ihn feststellen lassen, dass dieses sehr lückenhaft sei. Seitdem der Krieg in Syrien begonnen habe, werbe eine Gruppe namens Jihad-Islam, die auch Kontakt zur Hisbollah habe, in den Palästinenserlagern im Libanon dafür, ihr in den Krieg nach Syrien zu folgen. Wegen der guten Bezahlung seien viele junge Männer aus dem Umfeld des Klägers nach Syrien gegangen. Er selbst habe jedoch nie etwas mit den Religionsgruppenkriegen zu tun haben wollen. Jihad-Islam sei vor allem an Mechanikern und anderen technischen Arbeitskräften interessiert gewesen, die ihnen von Nutzen hätten sein können. Auch der Kläger sei immer öfter bedrängt worden. Über ein Jahr hinweg seien Anwerber mehrmals die Woche an seine Tür gekommen, um ihn zu rekrutieren. Seiner letztendlichen Zwangsrekrutierung sei er durch Unterschlupf bei verschiedenen Freunden entgangen, ehe er 2014 das Land Richtung Türkei verlassen und über die Balkanroute nach Deutschland gekommen sei. Seine Familie habe letztendlich das Haus verlassen müssen, weil sie bedroht worden sei. Einen alternativen Ort im Libanon gebe es nicht. Die Lager seien wegen der dazukommenden Palästinenser aus Syrien immer mehr überfüllt. Diese stellten eine zusätzliche Belastung für das Leben in den Flüchtlingslagern dar. Ihre Anwesenheit trage dazu bei, dass für die Versorgung der Palästinenser aus dem Libanon immer weniger Mittel zur Verfügung stünden.

Den zunächst gestellten Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht aufrechterhalten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;

hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen;

weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG) vorliegt,

und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15.11.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Mit Beschluss vom 03.02.2017 (A 5 K 4286/16) hat das erkennende Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Dem Gericht liegen die einschlägigen Akten des Bundesamts vor. Diese Akten wurden ebenso wie die mit der Ladung eingeführten Erkenntnismittel zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Hierauf sowie auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz (A 5 K 4286/16) wird wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die Entscheidung ergeht im Einvernehmen der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 87a Abs. 2 und 3 VwGO).

Das Gericht konnte gem. § 102 Abs. 2 VwGO über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Darauf ist in der ordnungsgemäß erfolgten Terminsladung hingewiesen worden.

Soweit der Kläger die ursprünglich erhobene Klage auf Verpflichtung der Beklagten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und mit dem Hauptantrag begründet. Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, denn er ist ipso facto Flüchtling nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Nr. 1 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15.11.2016, mit dem der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG genossen hat, ihm ein solcher Schutz oder Beistand aber nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. Organisationen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG sind die Organisationen und Einrichtungen der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -). Liegen diese Voraussetzungen vor, besteht die Flüchtlingseigenschaft "ipso facto", d.h. unmittelbar, ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG bedarf (vgl. Art. 1 D GFK und Art. 12 Abs. 1a) der EU-Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU, mit denen § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG inhaltlich übereinstimmt).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Der Kläger ist ausweislich des schon beim Bundesamt und nochmals im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Registrierungsnachweises im Libanon als Land seines gewöhnlichen Aufenthaltes (§ 3 Abs. 1 Nr. 2b) AsylG) mit seiner Ehefrau und seinem Sohn beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert. Beim UNRWA handelt es sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs um eine Organisation im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG und die Lage der Personen, die den Beistand des UNRWA genießen, ist bislang auch nicht im Normsinne "endgültig" geklärt (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - C-364/11 -, Rn. 48, 54, und vom 25.07.2018 - C-585/16 -, Rn. 84, beide juris). Schutz und Beistand genießen alle Personen, die bei UNRWA als Palästina-Flüchtlinge registriert sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.01.1992 - 1 C 21.87 -, Rn. 22, juris). Unerheblich ist demgegenüber, ob der Kläger vor seiner Ausreise konkret Leistungen des UNRWA in Anspruch genommen hat.

Dieser Schutz bzw. Beistand ist dem Kläger "nicht länger gewährt worden". Der Europäische Gerichtshof hat § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG dahingehend konkretisiert, dass ein Wegfall des gewährten Schutzes oder Beistandes in diesem Sinne vorliegt, wenn die betroffene Person gezwungen war, das Einsatzgebiet der Organisation oder Institution zu verlassen. Davon ist auszugehen, wenn sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hat und es der betreffenden Organisation oder Institution unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der dieser Organisation oder Institution obliegenden Aufgabe im Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem Einsatzgebiet des UNRWA oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führen mithin nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes im Sinne der Norm (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2012, a.a.O., Rn. 59, 63, 65). Für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nach diesen Maßstäben nicht länger gewährt wird, ist nach § 77 Abs. 1 AsylG auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen (vgl. VG Potsdam, Urt. v. 18.06.2020 - 8 K 3961/17.A -, juris Rn. 24; VG Leipzig, Urt. v. 18.08.2020 - 7 K 915/18.A -, juris Rn. 24).

Bei Anwendung der genannten Kriterien ist davon auszugehen, dass der Kläger gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA im Libanon zu verlassen. Die Kammer hat aufgrund seines Vortrags in der mündlichen Verhandlung und der Berichtslage zum Libanon die Überzeugung gewonnen, dass er sich dort im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befinden würde und es dem UNRWA unmöglich ist, ihm Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der diesem obliegenden Aufgabe im Einklang stehen.

Die Situation im Libanon ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Land inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit Langem befindet. Auslöser der Krise war der Kollaps des einem Schneeballsystem ähnelnden Finanzierungssystems der Banken, wodurch die meisten Libanesen ihre Ersparnisse verloren. Verbunden mit der Wirtschaftskrise ist eine Hyperinflation mit ständig weiter steigenden Preisen. Hinzu kommt, dass der libanesische Staat stark verschuldet ist. Als Folge dieser Entwicklung kommt es bereits seit Oktober 2019 im Libanon zu Massenprotesten gegen die damalige Regierung, der man Verschwendung und Korruption vorwarf (vgl. zur wirtschaftlichen und sozialen Situation im Libanon Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA - , Kurzinformation der Staatendokumentation Naher Osten, Covid-19 - aktuelle Lage vom 14.08.2020). Parallel hierzu ist das öffentliche Leben im Libanon aufgrund vieler Verkehrsblockaden, Streiks und Schließungen teils zum Erliegen gekommen. Der Druck auf die Landeswährung, die seit 25 Jahren fest an den US-Dollar gebunden ist, nimmt weiter zu (vgl. AA, Lagebericht Libanon vom 24.01.2020).

Die ohnehin schon überaus schwierige wirtschaftliche Lage im Libanon ist durch die mit der Corona-Pandemie in jüngster Zeit verbundenen Einschränkungen nochmals deutlich verschärft worden. Zwar ist der Libanon mit seinen etwa 6 Millionen Einwohnern bisher in noch überschaubarem Umfang von der Pandemie betroffen. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung waren im Libanon 73.995 bestätigte Infektionen bei 590 Todesfällen registriert (vgl. die Zahlen der Johns-Hopkins Universität v. 28.10.2020 aus dem Internet). Jedoch hat der auch im Libanon durchgeführte Lockdown mit zahlreichen Beschränkungen wie nächtlichen Ausgangssperren, der zeitweisen oder durchgehenden Schließung von Geschäften und Industriebetrieben und der Sperrung von Einkaufszentren die libanesische Wirtschaft weiter nachhaltig beeinträchtigt. Schon im April 2020 ging die libanesische Regierung davon aus, dass 75% der Libanesen auch wegen der Folgen der Corona-Krise in Kombination mit der Wirtschaftskrise Unterstützung benötigen würden (vgl. BFA Kurzinformation v. 14.08.2020).

Schließlich hat es am 04.08.2020 eine verheerende Explosion im Hafen von Beirut gegeben, bei der mehr als 200 Menschen starben und über 6.000 Personen verletzt wurden. Über 200.000 Menschen wurden obdachlos oder blieben in Behausungen ohne Fenster und Türen zurück. Der Sachschaden wird auf 3 Milliarden US-Dollar und der gesamte wirtschaftliche Schaden für den Libanon auf 15 Milliarden US-Dollar geschätzt. Dieses Ereignis ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil der Libanon fast vollständig von Importen abhängig ist und diese bis zur Explosion überwiegend über den Hafen von Beirut erfolgten (vgl. BFA v. 14.08.2020).

Die internationale Gemeinschaft ist grundsätzlich bereit, dem Libanon zu helfen, macht eine Unterstützung, die über die zugesagte und für die unmittelbare Auszahlung an Hilfsorganisationen vorgesehene Soforthilfe von 252,7 Millionen Euro hinausgeht, aber davon abhängig, dass dringende Reformen durchgeführt werden (vgl. BFA v. 14.08.2020). Nachdem diesbezügliche Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds wegen der reformunwilligen Politikelite im Libanon schon vor der Explosion vom 04.08.2020 festgefahren waren (vgl. auch hierzu BFA v. 14.08.2020), ist nicht damit zu rechnen, dass es auf absehbare Zeit zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lage im Libanon kommt.

Ist somit die wirtschaftliche Situation schon für durchschnittliche Libanesen außerordentlich angespannt, so gilt dies in noch weit größerem Ausmaß für die staatenlosen palästinensischen Flüchtlinge, die im Libanon leben. Bei UNRWA sind im Libanon derzeit etwa 425.000 palästinensische Flüchtlinge registriert. Davon leben schätzungsweise 270.000 Personen tatsächlich im Land (vgl. AA, Lagebericht v. 13.02.2019). Bis zu 45% der Palästinenser leben unter zum Teil sehr schwierigen und beengten Verhältnissen in den zwölf über das ganze Land verteilten palästinensischen Flüchtlingslagern (vgl. AA, Lagebericht v. 24.01.2020). Die Probleme sind in allen Lagern dieselben: Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströse Wohnverhältnisse, fehlende Infrastruktur und Überbelegung. Die Fläche, die den zwölf offiziellen palästinensischen Flüchtlingslagern im Land zugeteilt wurde, hat sich seit 1948 trotz einer Vervierfachung der Bevölkerung nur geringfügig verändert. Folglich leben viele palästinensische Flüchtlinge in überbevölkerten Lagern, von denen einige zudem während der vergangenen Konflikte schwer beschädigt wurden (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libanon v. 12.09.2018). Diese Lager sind - bis auf eines - der Kontrolle durch staatliche Gewalt weitgehend entzogen. Die Sicherheit innerhalb der Lager wird teilweise durch palästinensische bewaffnete Ordnungskräfte und Volkskomitees gewährleistet, die von der jeweils politisch bestimmenden Fraktion bestellt werden. Innerhalb der Lager kommt es immer wieder zu teils schweren Auseinandersetzungen mit Todesopfern (vgl. AA, Lagebericht vom 24.01.2020). Asylbewerber aus den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon berichten überdies in ihren Verfahren durchgehend von Rekrutierungsversuchen durch die verschiedenen militanten Gruppierungen, die - wie etwa die Hisbollah - im Bürgerkrieg in Syrien engagiert sind. Angesichts der hohen Verluste, die diese Gruppierungen in dem seit Jahren andauernden Krieg erlitten haben, und des sich daraus ergebenden Bedarfs an Nachschub, erscheinen dem Gericht diese Angaben in vollem Umfang nachvollziehbar und damit glaubhaft. Auch der Kläger im vorliegenden Verfahren hat geltend gemacht, über einen längeren Zeitraum von einer derartigen Miliz bedrängt worden zu sein, um für sie in Syrien eingesetzt zu werden. Die Möglichkeit, sich diesem Druck zu entziehen, indem man die Palästinenser-Lager verlässt und sich in Gebiete begibt, die unter der Kontrolle des libanesischen Staates stehen, dürfte in vielen Fällen schon aus finanziellen Gründen nicht in Betracht kommen. Denn die Situation der Palästinenser im Libanon ist als prekär zu bezeichnen. Bereits im Jahr 2015 wurde geschätzt, dass 65% der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon unterhalb der Armutsgrenze leben (vgl. UNRWA, Palestine Refugees living in Lebanon v. 01.04.2019). Sie unterliegen gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen. So ist ihnen etwa seit 2001 verwehrt, Grund und Boden im Libanon zu erwerben. Die Ausübung einer Reihe von - insbesondere freien - Berufen ist ihnen nicht gestattet (eine Liste der Berufe, die palästinensische Flüchtlinge nicht ergreifen dürfen, findet sich bei UNRWA, Employment of Palestine Refugees in Lebanon v. 01.10.2017). Im Übrigen wird von ihnen stets eine jährlich zu erneuernde Arbeitserlaubnis verlangt, wobei es von der Gewilltheit des Arbeitgebers abhängt, ob er die in einem langwierigen Verwaltungsverfahren einzuholende Arbeitserlaubnis beantragt, um einen palästinensischen Stellenbewerber einstellen zu können. Auch sind die Bedingungen, unter denen palästinensische Flüchtlinge im Libanon zu arbeiten gezwungen sind, oft von Ausbeutung geprägt. So haben nur 14% der arbeitsfähigen Palästinenser einen schriftlichen Arbeitsvertrag. 87% der beschäftigten Palästinenser werden weder Krankheitstage noch Jahresurlaub gewährt. 48% von ihnen werden auf einer Tagesbasis bezahlt, 37% im Akkord und 8% arbeiten in Saisonarbeit. Schließlich ist es palästinensischen Flüchtlingen oft nicht möglich, besser bezahlte Positionen zu erlangen, und sie werden schlechter bezahlt als ihre libanesischen Kollegen, die die gleiche Arbeit verrichten. Die Arbeitslosigkeit für palästinensische Flüchtlinge wurde bereits im Jahr 2015 auf 23,2% geschätzt (vgl. zum Ganzen UNRWA v. 01.04.2019). Palästinenser dürfen staatliche libanesische Schulen nicht besuchen. Sie sind auf die vorhandenen UNRWA-Schulen und die Privatschulen angewiesen, von denen Letztere aber für die Mehrheit wegen zu hoher Gebühren ausscheiden. Für ihre Schulbildung und gesundheitliche Versorgung hängt die Lagerbevölkerung ausschließlich vom UNRWA-Hilfswerk bzw. Hilfeleistungen anderer Nichtregierungsorganisationen ab.

Das Gericht hat die Überzeugung gewonnen, dass UNRWA seinen Aufgaben im Libanon derzeit nicht mehr gerecht werden kann und dessen Schutz für den Kläger daher nicht länger besteht. Das Auswärtige Amt bezeichnet UNRWA als "chronisch unterfinanziert", was sich etwa darin äußert, dass die von ihm zur Verfügung gestellte medizinische Versorgung Leistungen der Nachsorge (qualifizierte Krankenhausversorgung) nur unzureichend abdeckt (vgl. AA, Lagebericht vom 24.01.2020). Der Grund für diesen Zustand liegt darin, dass sich UNRWA nahezu ausschließlich durch freiwillige Beiträge der Staaten und Staatengemeinschaften finanziert. Die USA als bisher größter Geldgeber haben aber im Jahr 2018 ihre Zahlungen an das Hilfswerk um die Hälfte reduziert (vgl. ZEIT online v. 16.01.2018: "USA halten Zahlungen an Palästinenser zurück"). Allerdings haben in der Folgezeit elf Länder angekündigt, jedenfalls vorübergehend die fehlenden Zahlungen auszugleichen (vgl. ZEIT online v. 30.01.2018: "Elf Länder ziehen Zahlungen für Palästinenser nach US-Kürzungen vor"). Jedoch räumt auch das Auswärtige Amt ein, dass sich die Lage von UNRWA durch die massive Kürzung der zuvor substantiellen US-Unterstützung noch weiter zugespitzt hat (vgl. Lagebericht v. 24.01.2020). Nach der Selbstdarstellung von UNRWA, wie sie etwa in der Hintergrundinformation zu seinen Pressemitteilungen zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. die Pressemitteilung vom 12.08.2020: "UNRWA calls on donors to include Palestine refugees in emergency response plans for Lebanon", www.unrwa.org/newsroom/press-releases), wird die Situation so beschrieben, dass das Hilfswerk mit einer wachsenden Nachfrage nach Unterstützung konfrontiert ist, die aus der steigenden Anzahl registrierter palästinensischer Flüchtlinge, dem Ausmaß ihrer Verletzlichkeit und ihrer sich vertiefenden Armut resultiert. Die finanzielle Unterstützung der Organisation werde durch das Anwachsen der Bedürfnisse überstiegen, sodass ihr Budget mit einem hohen Fehlbetrag arbeite. Eine erhebliche Verschärfung hat die Situation im Libanon für UNRWA dadurch erfahren, dass sich unter den etwa 1,3 Millionen Syrern, die insgesamt in den letzten Jahren im Libanon Aufnahme gefunden haben, ungefähr 29.000 palästinensische Flüchtlinge befinden (vgl. UNRWA v. 01.04.2019), was die Zahl der dort auf Hilfe von UNRWA angewiesenen Personen nochmals deutlich erhöht hat. UNRWA startet daher auch immer wieder Spendenaufrufe an die Staatengemeinschaft, um seine - teilweise auch kurzfristig drohende - Zahlungsunfähigkeit abzuwenden. Abgesehen von dem wirtschaftlichen Unvermögen, den bei ihm registrierten palästinensischen Flüchtlingen im Libanon seinem Auftrag entsprechende Lebensverhältnisse zu gewährleisten, ist den vorliegenden Erkenntnismitteln im Übrigen auch nicht zu entnehmen, dass UNRWA sich um die unzureichende Sicherheitslage insbesondere in den Palästinenser-Lagern kümmern würde.

Insgesamt geht das Gericht daher davon aus, dass der dem Kläger von UNRWA gewährte Schutz oder Beistand im Sinne von § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG nicht länger gewährt wird. Da im vorliegenden Fall keine Ausschlussgründe gem. § 3 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, ist der Kläger unmittelbar Flüchtling nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, Art. 12 Abs. 1a) der EU-Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU, was die Beklagte förmlich festzustellen haben wird.

Da die Klage mit dem Hauptantrag Erfolg hat, braucht über die Hilfsanträge, mit denen die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG verfolgt werden, nicht mehr entschieden werden. Die Ablehnung dieser Gewährleistungen in Nrn. 3 und 4 des angegriffenen Bescheids sind jedoch rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, sodass sie ebenfalls aufzuheben sind. Das gleiche gilt für die Abschiebungsandrohung (Nr. 5 des Bescheids) und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Nr. 6 des Bescheids).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 2 (analog) VwGO. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Einstellung des Verfahrens aufgrund der teilweisen Klagerücknahme ist nach § 92 Abs. 3 Satz 2 VwGO unanfechtbar.