VG Göttingen, Urteil vom 22.12.2020 - 1 A 280/19
Fundstelle
openJur 2021, 31
  • Rkr:

Dem prognostischen Charakter von § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG entspricht es, dass bei der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Jugendlichen- oder Heranwachsendenalter eine größere Unsicherheit über den Erfolg der In-tegration in Kauf genommen werden kann (Anschluss an Nds. OVG, Beschl. v. 17.08.2020 – 8 ME 60/20 -, juris Rn. 42).

Tatbestand

Der Kläger begehrt eine Aufenthaltserlaubnis.

Der 20 Jahre alte Kläger ist montenegrinischer Staatsangehöriger. Er reiste am 21.02.2014 mit seinen Eltern unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 19.06.2014 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der Bescheid wurde im Dezember 2015 nach erfolgloser Durchführung eines Klageverfahrens bestandskräftig. Im Anschluss wurde der Aufenthalt des Klägers geduldet, weil sein Vater im Februar 2016 einen Wiederaufgreifensantrag stellte.

Der Kläger besuchte ab dem 23.04.2014 die D. schule in E. bis zur 10. Klasse im Schuljahr 2016/17 und erlangte den Hauptschulabschluss, wobei er in 4 von 11 benoteten Fächern nur die Note „mangelhaft“ erreichte. Ab dem Schuljahr 2017/18 besuchte er die Berufseinstiegsklasse Bautechnik der Berufsbildenden Schulen II (BBS II) in A-Stadt, die er mit dem Abgangszeugnis beendete. Das Zeugnis weist 32 Fehltage, davon nur 9 entschuldigte, aus. Im berufsübergreifenden Lernbereich erreichte er die Gesamtbewertung „mangelhaft“, im berufsbezogenen Lernbereich die Gesamtbewertung „ausreichend“. Das Zeugnis enthält als Bemerkung den Zusatz, die schwachen Leistungen seien auf häufiges Fehlen zurückzuführen. Der Kläger besuchte im Anschluss bei der Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben“ in den Schuljahren 2018/19 und 2019/2020 die Schule, um nachträglich den Realschulabschluss zu erlangen.

Im Februar 2019 beantragte der Kläger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG (BA 003, Bl. 106). Über den Antrag entscheid der Beklagte zunächst nicht.

Am 13.09.2019 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Mit Bescheid vom 21.10.2019 lehnte der Beklagte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass zwar die Erteilungsvoraussetzungen nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nummern 1 bis 3 AufenthG vorlägen, aber es an einer positiven Integrationsprognose (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) fehle. Das Erreichen eines Schulabschlusses allein genüge hierfür nicht. Aufgrund der eingereichten Zeugnisse, die seit der 8. Klasse eine Notenverschlechterung und eine deutliche Steigerung der unentschuldigten Fehlzeiten auswiesen, erscheine nicht gewährleistet, dass sich der Kläger aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die deutschen Lebensverhältnisse einfügen könne.

Der Kläger hat die Klage gegen den Bescheid fortgesetzt und macht im Wesentlichen geltend, er bedaure, dass er sich in der Schule nicht stets entschuldigt habe; er sei jeweils tatsächlich erkrankt gewesen. Er habe im März 2020 den Realschulabschluss erreicht. Seit August 2020 besuche er die BBS II im Ausbildungslehrgang zum gestaltungstechnischen Assistenten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 21.10.2019 zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und wiederholt die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 17.01.2020 den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Ausländerakte des Beklagten verwiesen.

Gründe

Die Einzelrichterin entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die zulässige Klage ist begründet; der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG. Der entgegenstehende Bescheid des Beklagten vom 21.10.2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1, 5 Satz 1 VwGO.

Nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG setzt der Sollensanspruch eines jugendlichen oder heranwachsenden Ausländers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis u.a. voraus, dass es gewährleistet erscheint, dass er sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die danach erforderliche Erwartung, dass der Ausländer sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, erfordert eine positive Integrationsprognose. Diese kann gestellt werden, wenn die begründete Erwartung besteht, dass der ausländische Jugendliche oder Heranwachsende sich in sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Geboten ist eine die konkreten individuellen Lebensumstände des ausländischen Jugendlichen oder Heranwachsenden berücksichtigende Gesamtbetrachtung, etwa der Kenntnisse der deutschen Sprache, des Vorhandenseins eines festen Wohnsitzes und enger persönlicher Beziehungen zu dritten Personen außerhalb der eigenen Familie, des Schulbesuchs und des Bemühens um eine Berufsausbildung und Erwerbstätigkeiten, des sozialen und bürgerschaftlichen Engagements sowie der Akzeptanz der hiesigen Rechts- und Gesellschaftsordnung (vgl. Röcker in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 25a Rn. 15; Nds. OVG, Urt. v. 19.3.2012 - 8 LB 5/11 -, juris Rn. 74; Urt. v. 08.02.2018 - 13 LB 43/17 -, juris Rn. 65). Dabei entspricht es nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, dem die Einzelrichterin folgt, dem prognostischen Charakter, dass bei der erstmaligen Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Jugendlichen- oder Heranwachsendenalter eine größere Unsicherheit über den Erfolg der Integration in Kauf genommen werden kann (Nds. OVG, Beschl. v. 17.08.2020 - 8 ME 60/20 -, Rn. 42).

Nach dieser Maßgabe erscheint ist gewährleistet, dass sich der Kläger in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. Die Einzelrichterin bewertet die schulische Laufbahn positiv. Der Kläger ist erst als 13-jähriger nach Deutschland gekommen und hat sogleich die Schule besucht, was nach Einschätzung der Einzelrichterin mit allerhand Startschwierigkeiten in sprachlicher Hinsicht, aber auch mit Blick auf die Anpassungsschwierigkeiten eines pubertierenden Jungen verbunden war. Er hat die Schule mit dem Hauptschulabschluss erfolgreich abgeschlossen und nach einem Umweg über die BBS II in A-Stadt auch den Realschulabschluss erreicht. Damit konnte er seine beruflichen Perspektiven nochmals verbessern. Nunmehr besucht er die BBS II erneut in einem Ausbildungslehrgang. Sicherlich hatte er zunächst einen Leistungseinbruch an der Schule und auch erhebliche Fehlzeiten angehäuft. An Ende steht aber ein Schulabschluss. Gegenüber dem Zeugnis der 10. Klasse, die er nur mit dem Hauptschulabschluss beendete, konnte er auch seine Leistungen beim erfolgreichen Versuch, im zweiten Anlauf den Realschulabschluss zu erlangen, deutlich verbessern. Ausweislich des im gerichtlichen Verfahren eingereichten Zeugnisses über den Realschulabschluss vom 10.03.2020 erreichte er in den Fächern Deutsch und Mathematik die Note ausreichend, ebenso in den Fächern Politik, Biologie und Physik, in den Fächern Geschichte indes die Note befriedigend und in seiner Muttersprache Serbisch sogar die Note sehr gut. Die Note mangelhaft findet sich nicht mehr im Zeugnis. Eine spätere wirtschaftliche Integration ist nach alledem zu erwarten. Die deutsche Sprache beherrscht der Kläger ausweislich des Realschulzeugnisses. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die hiesige Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht akzeptiert und er sich nicht in rechtlicher Hinsicht wird integrieren können, liegen allenfalls in den nicht entschuldigten Fehlzeiten. Sie wiegen allerdings nicht schwer, zumal der Kläger, wie ausgeführt, seine schulischen Leistungen verbessert hat und offenbar wieder zu Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit zurückgefunden hat. Straffällig geworden ist der Kläger demgegenüber bislang nicht.

Da die Erteilungsvoraussetzungen auch im Übrigen vorliegen und die Inanspruchnahme von öffentlichen Leistungen durch den Kläger hier nach § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG der Titelerteilung nicht entgegensteht, ist ihm die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Besondere Umstände, die eine andere Entscheidung ausnahmsweise rechtfertigten, sind nicht ersichtlich.

Es wird am Kläger liegen, die positive Prognose auch in Zukunft zu bestätigen und die Verlängerung der ihm zu erteilenden Aufenthaltserlaubnis (§ 8 Abs. 1 AufenthG) zu rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 AufenthG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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