BGH, Urteil vom 24.11.2020 - VI ZR 415/19
Fundstelle
openJur 2020, 80293
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 10. September 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte wegen behaupteter Fehler bei einer ärztlichen Behandlung in Anspruch.

Der Kläger begab sich am 3. Dezember 2013 wegen Schmerzen an der Lendenwirbelsäule und Sensibilitätsstörungen am linken Bein in die Notaufnahme des Klinikums der Beklagten. In der Notaufnahme wurde ein venöser Zugang zur Verabreichung intravenöser Medikamente in der rechten Ellenbeuge gelegt. Der Kläger wurde stationär aufgenommen. Nach einigen Tagen stellten sich Schmerzen und eine Schwellung, Schüttelfrost und Fieber ein. Aufgrund einer Blutabnahme vom 10. Dezember 2013 wurde eine Infektion mit MRSA

(Methicillinresistenter Staphylococcus aureus) festgestellt. Als Diagnose wurde unter anderem eine MRSA-Sepsis, am ehesten bei Thrombophlebitis der rechten Ellenbeuge mit oberflächlicher Venenthrombose gestellt. Im weiteren Verlauf breitete sich der Keim über die Blutbahn des Klägers aus. Der Kläger litt unter septischen Thrombonen in der Lunge und einer Spondylodiszitis (Entzündung des Bandscheibenraums und des angrenzenden Wirbels) mit Abszess im Bereich der Brustwirbelsäule. Die Keime hatten sich an der Wirbelsäule des Klägers festgesetzt und mussten operativ entfernt werden.

Der Kläger behauptet unter anderem, bei der Injektion am 3. Dezember 2013 habe der Arzt keine Handschuhe getragen, keine Handreinigung durchgeführt und eine Spritze verwendet, die ihm zuvor zu Boden gefallen sei. Dadurch sei es zu einer Infektion gekommen.

Das Landgericht hat die auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und Verdienstausfall jeweils nebst Zinsen, Feststellung der Ersatzpflicht in Bezug auf zukünftigen materiellen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden sowie Zahlung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten gerichtete Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, zutreffend habe das Landgericht die Klage abgewiesen, weil der Beweis für einen Behandlungsfehler von dem darlegungs- und beweisbelasteten Kläger nicht geführt worden sei.

Stehe der Darlegungspflichtige selbst außerhalb des Geschehensablaufs und könne er auch von sich aus den Sachverhalt nicht ermitteln, während die Gegenseite die erforderlichen Informationen habe oder sich leicht beschaffen könne, so genüge es nach Treu und Glauben nicht, dass sie sich mit einfachem Bestreiten begnüge. Vielmehr müsse sie im Einzelnen darlegen, dass die von ihr bestrittene Behauptung unrichtig sei, sodass die beweisbelastete Partei den Beweis für ihre Richtigkeit antreten könne (sogenannte sekundäre Darlegungslast). Der Bestreitende müsse auch zumutbare Nachforschungen unternehmen, ansonsten gelte die Behauptung der Gegenpartei nach § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Die Benennung von Zeugen sei jedoch nicht mehr Teil des den Parteien obliegenden Tatsachenvortrags, weshalb die Grundsätze der sekundären Darlegungslast hierauf keine Anwendung fänden. Die Weigerung einer nicht beweispflichtigen Partei, einen ihr bekannten Zeugen namhaft zu machen, könne deshalb nur im Rahmen der Beweiswürdigung als Beweisvereitelung zu ihren Lasten berücksichtigt werden.

Vorliegend habe die Beklagte unter Vorlage der Behandlungsdokumentation vorgetragen, der Zeuge Dr. R habe den Zugang bei dem Kläger gelegt und darüber die Infusion mit einem Schmerzmittel vorgenommen. Der Zeuge habe dann bei seiner Einvernahme angegeben, diese Maßnahme ausweislich der Dokumentation lediglich angeordnet, aber (wohl) nicht selbst ausgeführt zu haben, ohne sich konkret an den Sachverhalt erinnern und die tatsächlich handelnde Person benennen zu können.

Der Sachverständige habe die Dokumentation nicht beanstandet. Auch nach Auffassung des Senats müsse nicht jeder Mitarbeiter des ärztlichen oder pflegerischen Personals, der bei einem Patienten einen intravenösen Zugang lege oder eine Injektion vornehme, in der Dokumentation namentlich verzeichnet werden. Von der Nichterfüllung einer sekundären Darlegungslast oder gar einer Beweisvereitelung der Beklagten könne unter diesen Voraussetzungen nicht ausgegangen werden.

II.

Die Revision hat Erfolg. Mit der Begründung des Berufungsgerichts können die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche aus § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den auf den streitgegenständlichen Fall anwendbaren Vorschriften der §§ 630a ff. BGB (Art. 5 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013, BGBl I S. 277), § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB nicht verneint werden.

1. Zwar geht das Berufungsgericht zutreffend und von der Revision nicht angegriffen davon aus, dass der Kläger für den behaupteten Behandlungsfehler (§ 630a Abs. 2 BGB) nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast trägt. Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kein für die Beklagte vollbeherrschbares Risiko vorlag, wird ein Behandlungsfehler nicht gemäß § 630h Abs. 1 BGB zugunsten des Klägers vermutet (vgl. Senat, Beschluss vom 16. August 2016 - VI ZR 634/15, NJW-RR 2016, 1360 Rn. 6).

2. Die Revision beanstandet aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht angenommen hat, die Beklagte habe den Vortrag des Klägers - der Arzt habe keine Handschuhe getragen, keine Handreinigung durchgeführt und eine Spritze verwendet, die ihm zuvor zu Boden gefallen sei - ausreichend bestritten, § 138 Abs. 1 und 2, § 286 ZPO.

a) Die Beklagte hatte vorgetragen, der venöse Zugang sei durch den Zeugen Dr. R gelegt worden. Dabei sei es nicht zu den von dem Kläger behaupteten Geschehnissen gekommen, sondern der notwendige Hygienestandard sei korrekt eingehalten worden. Nachdem sich indes im Zuge der Beweisaufnahme herausgestellt hatte, dass nicht der Zeuge Dr. R, sondern - wovon das Berufungsgericht ausgeht - eine andere Person die Infusion gelegt hatte, hätte das Berufungsgericht dabei nicht stehen bleiben, von einem wirksamen Bestreiten ausgehen und auf dieser Grundlage annehmen dürfen, dass der Kläger den ihm obliegenden Beweis für einen Behandlungsfehler nicht erbracht habe. Denn unter Berücksichtigung des Beweisergebnisses lag ein beachtliches Bestreiten nicht (mehr) vor.

Anderenfalls könnte sich der Prozessgegner durch beliebigen, sich als unzutreffend erweisenden Vortrag der ihm gemäß § 138 Abs. 1 und 2 ZPO obliegenden Erklärungspflicht entledigen, ohne die Folge des § 138 Abs. 3 ZPO gewärtigen zu müssen (vgl. Stadler, in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Aufl. § 138 Rn 7). Das ist mit der aus den verfassungsrechtlich geschützten Rechten auf ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz folgenden Verpflichtung zu einer fairen Verteilung der Darlegungs- und Beweislasten (vgl. BVerfG NJW 2019, 1510 Rn. 12 ff.; BVerfG NJW 2000, 1483, 1484, juris Rn. 42) nicht zu vereinbaren.

Das Berufungsgericht hätte die Beklagte daher unter Hinweis auf ihr nicht beachtliches Bestreiten zur Stellungnahme zu dem bisherigen Beweisergebnis auffordern müssen, § 513 Abs. 1 Alt. 1, § 525, § 139 Abs. 1 ZPO. Das hätte - worauf die Revision zu Recht hinweist - hier umso mehr nahegelegen, als der Zeuge Dr. R nach den Feststellungen ausgesagt hatte, in den Behandlungsunterlagen des Klägers sei die Eintragung bezüglich der Infusion von jemand anderem vorgenommen worden.

b) Im Übrigen hätte das Berufungsgericht die Beklagte weiter darauf hinweisen müssen, dass sie ihrer sekundären Darlegungslast hinsichtlich der Maßnahmen, die sie ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die für ein behandlungsfehlerfreies Vorgehen maßgeblichen Hygienebestimmungen eingehalten wurden (vgl. zu den insoweit maßgeblichen Grundsätzen Senat, Urteil vom 19. Februar 2019 - VI ZR 505/17, BGHZ 221, 139 Rn. 15 ff.; Beschlüsse vom 25. Juni 2019 - VI ZR 12/17, NJW-RR 2019, 1360 Rn. 10 ff.; vom 18. Februar 2020 - VI ZR 280/19, NJW-RR 2020, 720 Rn. 9 ff.) bisher nicht nachgekommen ist. Denn die Beklagte verfügt als Betreiberin der Notaufnahme nicht nur über die Behandlungsunterlagen des Klägers, sondern auch - anders als der Kläger, der insoweit außerhalb des Geschehensablaufs steht - über die notwendigen Informationen zu den Maßnahmen, die sie zur Einhaltung der Hygienebestimmungen und zur Infektionsprävention in der Notaufnahme unternommen hat, und zu den dortigen Arbeitsabläufen und -anweisungen.

III.

Der Beschluss des Berufungsgerichts kann daher keinen Bestand haben, sondern ist aufzuheben und mangels Entscheidungsreife zur Verhandlung und neuen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Seiters von Pentz Roloff Klein Allgayer Vorinstanzen:

LG München I, Entscheidung vom 15.05.2019 - 9 O 21213/16 -

OLG München, Entscheidung vom 10.09.2019 - 1 U 3170/19 -