VG Karlsruhe, Beschluss vom 30.11.2020 - 4 K 2929/20
Fundstelle
openJur 2020, 79557
  • Rkr:

Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG setzt voraus, dass für das Kind keine eigenen Gründe geltend gemacht werden, sondern sich die Eltern zur Begründung des Asylantrags des Kindes lediglich auf ihre eigenen Asylgründe berufen.

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage - A 4 K 2928/20 - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 06.07.2020 wird angeordnet.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin, einer am 02.04.2020 im Bundesgebiet geborenen nigerianischen Staatsangehörigen, deren Eltern erfolglos ein Asylverfahren betrieben haben (vgl. VG Karlsruhe, Urteile vom 02.04.2019 - A 4 K 8930/17 - und - A 4 K 8931/17 -, jeweils rechtskräftig seit dem 18.06.2019) und deren Schwester sich noch im Asylklageverfahren (A 4 K 3868/19) befindet, ist darauf gerichtet,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage - A 4 K 2928/20 - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 06.07.2020 anzuordnen.

Der zulässige Antrag ist begründet.

Das Interesse der Antragstellerin, einstweilen von Vollzugsmaßnahmen aus der angefochtenen Abschiebungsandrohung verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung, da ernstliche Zweifel an deren Rechtmäßigkeit bestehen.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bestehen dann, wenn die Überprüfung ergibt, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben wird. Solche ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt im angegriffenen Bescheid getroffenen Entscheidung sind vorliegend gegeben. Die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, §§ 75, 36 Abs. 3 Satz 4 und Abs. 4 AsylG im schriftlichen Verfahren vorzunehmende Prüfung ergibt, dass die auf einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Ablehnung des vorliegenden Antrags basierende Abschiebungsandrohung nach den §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG rechtlich nicht geboten war, weil die Antragstellerin nicht offensichtlich keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16a Abs. 4 GG i. V. m. § 36 Abs. 4 AsylG) hat. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 1, 4 AsylG, § 60 Abs. 1 AufenthG) sind im Fall der Antragstellerin nicht offensichtlich zu verneinen.

Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag nur dann, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an der Richtigkeit der tatsächlichen Erkenntnisse des Gerichts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre) die Abweisung der Klage geradezu aufdrängt (stRspr., vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 25.02.2019 - 2 BvR 1193/18 -, juris Rn. 18).

Mit diesen Anforderungen wird den unionsrechtlichen Maßstäben Genüge getan, wonach effektiver Rechtsschutz unter Wahrung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung zu gewährleisten ist (vgl. zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf Art. 13 RL 2008/115/EG <Rückführungsrichtlinie> sowie Art. 46 RL 2013/32/EU <Verfahrensrichtlinie>; vgl. zu offensichtlich unbegründeten Anträgen Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU; s. zur gesetzlichen Beschränkung des Bleiberechts EuGH, Beschluss vom 05.07.2018 - C-269/18 - PPU <C, J und S>, juris Rn. 54; zur nationalen Rechtslage Wittmann, ZAR 2019, <45> 51). In allen Fällen, in denen ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich eine Gefahr einer Art. 18 GRC i.V.m. Art. 33 GK oder Art. 19 Abs. 2 GRC widersprechenden Behandlung dieser Person besteht, ist dem Betroffenen wirksamer Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 47 GRC; EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 <Gnandi> -, juris Rn. 54; Urteil vom 26.09.2018 - C-175/17 <X gegen Belastingdienst/Toeslagen> -, juris Rn. 32). Den unionsrechtlichen Vorgaben wurde im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO Genüge getan, indem das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und den Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt hat bzw. die Ausreisefrist erst mit Bekanntgabe einer ablehnenden Entscheidung im Eilverfahren in Lauf gesetzt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 19.19 -, juris Rn. 54 ff.).

Nach den vorstehenden Maßgaben kann die Ablehnung des Asylantrags und des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG als offensichtlich unbegründet (vgl. §§ 13 Abs. 2, 30 Abs. 1, 3 AsylG) keinen Bestand haben.

Das Bundesamt hat seine Ablehnungsentscheidung darauf gestützt, dass die für die Antragstellerin geltend gemachte Gefahr einer Genitalverstümmelung, sollte sie nach Nigeria zurückkehren, bereits im Verfahren ihrer Schwester, in dem die Eltern der Antragstellerin zum Thema Beschneidung am 19.12.2018 ausführlich angehört wurden, geprüft worden sei. Nachdem die Eltern der Antragstellerin eine ihrer Schwester mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr nicht hätten glaubhaft machen können, gelte dies auch für die Antragstellerin, da ein insoweit geänderter Sachverhalt nicht erkennbar sei.

Der damit (möglicherweise) einfach unbegründete Asylantrag ist aber nicht gem. § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG offensichtlich unbegründet. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder nach § 14a als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind.

Zwar galt für die Antragstellerin als eine nach § 12 AsylG handlungsunfähige Ausländerin infolge der Anzeige durch die zuständige Ausländerbehörde mit Schreiben vom 03.06.2020, eingegangen beim Bundesamt am 05.06.2020, ein Asylantrag als gestellt und dies, nachdem zuvor die Asylanträge ihrer Eltern unanfechtbar abgelehnt worden waren (vgl. VG Karlsruhe, Urteile vom 02.04.2019 - A 4 K 8930/17 - und - A 4 K 8931/17 -, jeweils rechtskräftig seit dem 18.06.2019).

Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG setzt jedoch voraus, dass für den als Kind handlungsunfähigen Ausländer keine eigenen Gründe geltend gemacht werden, sondern sich die Eltern zur Begründung des Asylantrags des Kindes lediglich auf ihre eigenen Asylgründe berufen.

Auch wenn sich dies nicht aus dem Wortlaut der Norm ergibt, lassen die die gesetzliche Systematik und Sinn und Zweck nur diese Auslegung zu.

Der Katalog der in § 30 Abs. 3 AsylG aufgeführten Offensichtlichkeitstatbestände beruht zum einen auf der Überlegung, dass der Antrag so evident ohne Substanz ist, dass dies auf den ersten Blick erkennbar ist und sich jede weitere Prüfung erübrigt (insbesondere Nrn. 1, 7), und zum anderen dem Antragsteller eine Verletzung von Mitwirkungspflichten, wozu auch die Pflicht zu rechtskonformem, straffreiem Verhalten gehört, zur Last gelegt wird (Nrn. 1 <gefälschte oder verfälschte Beweismittel>, 2, 3, 4, 5 und 6). § 30 Abs. 1 Nr. 7 AsylG ist deshalb der ersten Fallgruppe zuzuordnen, weil, würde die Vorschrift auf den Verstoß der Eltern gegen die Mitwirkungspflicht zur zeitigen Antragstellung abzielen, dies zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung des Kindes führte. Vielmehr beruht die Norm auf der Annahme, dass für die Kinder regelmäßig keine eigenen Asylgründe vorgebracht werden können, so dass im Asylverfahren der Eltern schon eine inhaltliche Überprüfung stattgefunden hat. Folglich greift § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG nicht ein, wenn für das Kind eigene Gründe geltend gemacht werden (Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 27. Edition, Stand: 01.10.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG Lieferung 113, 01.10.2017, § 30 AsylG Rn. 141; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39 sowie VG Würzburg, Beschlüsse vom 06.07.2020 - W 8 S 20.30742 -, juris Rn. 15 und vom 29.04.2020 - W 8 S 20.30486 -, juris Rn. 12 f.; VG Augsburg, Urteil vom 16.01.2020 - Au 9 K 19.30382 -; VG Ansbach, Beschluss vom 04.10.2018 - AN 9 S 18.31173 -, alle juris). Dasselbe gilt, wenn sich seit der Entscheidung über den Asylantrag der Eltern die Umstände im Heimatland so geändert haben, dass eine Neubewertung der dortigen Situation mit Blick auf das Kind geboten ist (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 27. Edition, Stand: 01.10.2020, § 30 AsylG Rn. 52).

§ 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG soll der Verfahrensbeschleunigung vor dem Hintergrund der Erfahrung dienen, dass in der Vergangenheit allzu häufig Asylanträge von Familienangehörigen bewusst gestaffelt gestellt wurden, um auf diese Weise die Beendigung des Aufenthalts der Familie hinauszuzögern. Um diesen "Missbrauch" des Asylverfahrens einzudämmen, hat der Gesetzgeber nicht nur die Regelung des § 14a AsylG für das Verfahren geschaffen, sondern auch § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG in Bezug auf die Entscheidung selbst (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 27. Edition, Stand: 01.10.2020, § 30 AsylG Rn. 52).

Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 14/4925, S. 6 f.) stellt auf den verfahrensbeschleunigenden Zweck der Regelung ab und darauf, dass ein Kind, das im Bundesgebiet geboren oder unter 16-jährig ins Bundesgebiet eingereist ist und dessen Eltern im Asylverfahren bereits unanfechtbar abgelehnt worden sind, nur in absoluten Ausnahmefällen eigene Asylgründe wird geltend machen können. Ergebe die Prüfung des Bundesamtes, dass ein solcher Ausnahmefall nicht vorliege und der Asylantrag unbegründet sei, sei es sachgerecht, ihn aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Folglich geht der Gesetzgeber ebenfalls davon aus, dass § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG dann, wenn eigene Gründe für das Kind vorgetragen werden, ausnahmsweise nicht greifen soll.

Die hier vorgebrachte Befürchtung einer Genitalverstümmelung der Antragstellerin ist ein eigener Grund der Antragstellerin, der den Offensichtlichkeitsausspruch des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausschließt (so ausdrücklich Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39; VG Würzburg, Beschluss vom 29.04.2020 - W 8 S 20.30486 -, juris Rn. 13; VG Augsburg, Urteil vom 16.01.2020 - Au 9 K 19.30382 -, juris Rn. 26; VG Ansbach, Beschluss vom 04.10.2018 - AN 9 S 18.31173 -, juris Rn. 15). Die befürchtete Genitalverstümmelung betrifft die Antragstellerin unmittelbar selbst in eigener Person und steht unabhängig neben den von ihren Eltern vorgebrachten Gründen.

Dass das Bundesamt die im Falle der Schwester der Antragstellerin ebenfalls vorgetragene Beschneidungsgefahr nicht für beachtlich wahrscheinlich gehalten und deren Asylantrag deshalb als unbegründet abgelehnt hat, rechtfertigt kein abweichendes Ergebnis, denn bei der Schwester handelt es sich erstens um keine von § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG erfasste Person (Eltern oder allein personensorgeberechtigter Elternteil), und zweitens fehlt es an der Unanfechtbarkeit deren Ablehnungsbescheids.

Nach alledem kann dahinstehen, ob § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG mit den unionsrechtlichen Vorgaben überhaupt vereinbar ist, weil die Mitgliedstaaten nach Art. 32 Abs. 2 RL 2013/32/EU nur in den in Art. 31 Abs. 8 dieser Richtlinie abschließend aufgeführten Fällen die Ablehnung eines Antrags als offensichtlich unbegründet vorsehen dürfen, in der enumerativen Aufzählung dieser EU-Norm aber eine Rechtsgrundlage für den Fall des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG fehlt (so VG Minden, Beschluss vom 30.08.2019 - 10 L 370/19.A. -, juris Rn. 9 ff., auch zur Auswechslung der Rechtsgrundlage im Wege des Rückgriffs auf § 30 Abs. 1 AsylG durch das Gericht; VG Augsburg, Urteil vom 16.01.2020 - Au 9 K 19.30382 -, juris Rn. 26; VG Würzburg, Beschlüsse vom 06.07.2020 - W 8 S 20.30742 -, juris Rn. 16 und vom 29.04.2020 - W 8 S 20.30486 -, juris Rn. 13: offen lassend).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 80 AsylG).

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