Bayerischer VGH, Beschluss vom 11.11.2020 - 20 NE 20.2503
Fundstelle
openJur 2020, 77927
  • Rkr:
Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

1. Mit seinem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO begehrt der Antragsteller, den Vollzug von § 12 Abs. 2 Satz 2 der Achten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 30. Oktober 2020 (2126-1-12-G, BayMBl. Nr. 616, im Folgenden: 8. BayIfSMV) einstweilen auszusetzen.

2. Der Antragsgegner hat am 30. Oktober 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:

§ 12

Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Märkte

(1) Für Betriebe des Groß- und Einzelhandels mit Kundenverkehr gilt:

1. Der Betreiber hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass grundsätzlich ein Mindestabstand von 1,5 m zwischen den Kunden eingehalten werden kann.

2. Der Betreiber hat durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass die Zahl der gleichzeitig im Ladengeschäft anwesenden Kunden nicht höher ist als ein Kunde je 10 m<sup>2</sup> Verkaufsfläche.

3. Für das Personal, die Kunden und ihre Begleitpersonen gilt Maskenpflicht; soweit in Kassen- und Thekenbereichen von Ladengeschäften durch transparente oder sonst geeignete Schutzwände ein zuverlässiger Infektionsschutz gewährleistet ist, entfällt die Maskenpflicht für das Personal.

4. Der Betreiber hat ein Schutz- und Hygienekonzept auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen.

Für Einkaufszentren gilt:

1. Hinsichtlich der einzelnen Ladengeschäfte gilt Satz 1.

2. Hinsichtlich der verbindenden Kundenpassagen gilt Satz 1 mit der Maßgabe entsprechend, dass das Schutz- und Hygienekonzept die gesamten Kundenströme des Einkaufszentraums berücksichtigen muss.

(2) Für Dienstleistungsbetriebe mit Kundenverkehr gilt Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 3 und 4. Dienstleistungen, bei denen eine körperliche Nähe zum Kunden unabdingbar ist, sind untersagt (zum Beispiel Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios). Abweichend von Satz 2 sind Dienstleistungen des Friseurhandwerks unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zulässig.

...

Die 8. BayIfSMV ist seit 2. November 2020 in Kraft und tritt mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft (§ 28 Satz 1 8. BayIfSMV).

3. Der Antragsteller, der in ... einen Gewerbetrieb im Bereich Kosmetik, Fuß- und Nagelpflege betreibt, trägt zur Begründung seines mit Schriftsatz vom 2. November 2020 gestellten Eilantrags vor, die ausnahmslose Betriebsuntersagung sei unverhältnismäßig und gleichheitswidrig. Die angegriffene Vorschrift sei unbestimmt, weil sich den Normadressaten nicht erschließe, ob der Betrieb bzw. die Öffnung der jeweiligen Räumlichkeiten untersagt sein soll oder lediglich das Anbieten der damit zusammenhängenden Dienstleistungen. Die sachwidrige Ungleichbehandlung mit dem Friseurhandwerk (§ 12 Abs. 2 Satz 3 8.BayIfSMV) verstoße gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Angebote von Pediküre oder Maniküre könnten - anders als Friseurdienstleistungen - unter vollständiger Abwendung zu den Atemwegen des Kunden erbracht werden. Auch die Ungleichbehandlung mit Einzelhandelsbetrieben sei nicht gerechtfertigt, weil dort - anders als in Kosmetikstudios - ein gleichzeitiges Zusammentreffen vieler Kunden (z.B. an der Kasse oder vor Regalen) zu wenig beherrschbaren Infektionsrisiken führe. Das Betriebsverbot sei im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG unverhältnismäßig. Kosmetikstudios und vergleichbare Betriebe zur Erbringung körpernaher Dienstleistungen seien keine Orte, an denen sich üblicherweise viele Personen infizierten. Im Übrigen wäre dies durch mildere Mittel (Zugangsbeschränkungen, Hygienekonzepte) zu vermeiden. Das Verbot sei auch unangemessen, weil unzählige Kleinbetriebe um sämtliche Einnahmen gebracht würden.

4. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen und beantragt dessen Ablehnung. Die Betriebsschließung sei von Ermächtigungsgrundlage in § 28 IfSG umfasst. Im Übrigen sei ein Verbot körpernaher Dienstleistungen im Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vorgesehen (BT-Drs. 19/23944, S. 29). Die angegriffene Vorschrift sei hinreichend bestimmt, auch wenn körpernahe Dienstleistungen untersagt würden, die Beispiele aber mit Räumlichkeiten (Kosmetikstudios u.a.) benannt würden. Die Ungleichbehandlung mit Betrieben des Friseurhandwerks und des Einzelhandels sei sachlich gerechtfertigt. Der Einzelhandel habe bei generalisierender und typisierender Betrachtung vornehmlich die Aufgabe, die Bevölkerung mit (über-)lebensnotwendigen Gütern des täglichen Bedarfs zu versorgen. Als Vergleichsgruppe zu eher "besonderen" Angeboten wie Maniküre oder Pediküre könne er nicht herangezogen werden. Der Friseurbesuch sei - anders als der Besuch eines Tattoo- oder Kosmetikstudios - unaufschiebbar und dem täglichen Bedarf der Bevölkerung auch in hygienischer Hinsicht zuzuordnen. Das Betriebsverbot sei auch nicht unverhältnismäßig. Als Berufsausübungsregelung sei das Verbot aufgrund vernünftiger Allgemeinwohlerwägungen gerechtfertigt. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb schütze keine Expektanzen.

5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Die Erfolgsaussichten eines Normenkontrollantrags in der Hauptsache gegen § 12 Abs. 2 (Satz 2) 8. BayIfSMV sind unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei der nur möglichen summarischen Prüfung als offen anzusehen (2.). Eine Folgenabwägung geht zulasten des Antragstellers aus (3.).

1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann. Das muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - die in der Hauptsache angegriffenen Normen in quantitativer und qualitativer Hinsicht erhebliche Grundrechtseingriffe enthalten oder begründen, sodass sich das Normenkontrollverfahren (ausnahmsweise) als zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten erweisen dürfte.

Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12).

2. Nach diesen Maßstäben geht der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bei der nur möglichen, aber ausreichenden summarischen Prüfung (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 14) davon aus, dass die Erfolgsaussichten der Hauptsache offen sind.

a) Das gilt insbesondere für die Frage, ob die angegriffene Bestimmung noch auf einer ausreichenden gesetzlichen Verordnungsermächtigung beruht. Der Senat bezweifelt, ob die mit der 8. BayIfSMV ergriffenen, wieder erheblich verschärften Maßnahmen noch mit den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts bzw. des Bestimmtheitsgebots aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG vereinbar sind. Denn mittlerweile erfolgen - auch im antragsgegenständlichen Wirtschaftszweig der körpernahen Dienstleistungen - erhebliche Grundrechtseingriffe über einen längeren Zeitraum allein durch die Exekutive. Mit zunehmender Dauer der Maßnahmen und Intensität der mit ihnen verbundenen Grundrechtseingriffe gewinnt die Frage an Gewicht, ob die Verordnungsermächtigung zugunsten der Länder in den §§ 28, 32 IfSG noch den verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 80 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG genügt (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302; B.v. 29.10.2020 - 20 NE 20.2360 - juris Rn. 28 ff. zur 7. BayIfSMV, jeweils m.w.N.). Die endgültige Klärung dieser Frage (vgl. auch BayVerfGH, E.v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 - juris Rn. 16 ff.; NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 13 ff.) bedarf einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren, so dass der Senat von offenen Erfolgsaussichten ausgeht.

Vorliegend geht es um erhebliche Eingriffe in die Grundrechte der Normadressaten aus Art. 12 Abs. 1 GG, da ihnen die Ausübung ihres Betriebs für einen zwar zunächst befristeten, aber in seiner Gesamtdauer (wohl) letztlich von externen, nicht beeinflussbaren Faktoren abhängigen Zeitraum vollständig untersagt wird. Bei der Beurteilung der Schwere des Grundrechtseingriffs ist auch zu berücksichtigen, dass Kosmetikstudios bereits im Frühjahr 2020 für viele Wochen pandemiebedingt geschlossen waren (vgl. auch OVG NW, B.v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE - juris Rn. 68). Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb aus Art. 14 Abs. 1 GG, auf das sich der Antragsteller ebenfalls beruft, schützt nur den konkreten Bestand an Rechten und Gütern und keine bloßen Umsatz- und Gewinnchancen und geht nicht über die Gewährleistung des Art. 12 Abs. 1 GG hinaus (vgl. BVerfG, U.v. 6.12.2016 - 1 BvR 2821/11 u.a. - BVerfGE 143, 246 - juris Rn. 240 m.w.N.).

b) Der Annahme offener Erfolgsaussichten liegt auch zugrunde, dass die angegriffene Maßnahme, der eine auf die jeweilige Situation abstellende Gefährdungsprognose des Verordnungsgebers zugrunde liegt (vgl. BayVGH, B.v. 29.10.2020 - 20 NE 20.2360 - juris Rn. 31; OVG NW, B.v. 27.8.2020 - 13 B 1220/20.NE - juris Rn. 37), bei einer ex-ante-Betrachtung nicht offensichtlich unverhältnismäßig oder gleichheitswidrig erscheint. Ob sich die angegriffene Maßnahme bei nachträglicher Betrachtung als geeignet, erforderlich und angemessen erweist, kann der Senat nicht beurteilen.

aa) Die Zweifel des Antragstellers an der hinreichenden Bestimmtheit der angegriffenen Norm teilt der Senat nicht. Auch wenn § 12 Abs. 2 Satz 2 8. BayIfSMV einerseits Dienstleistungen beschreibt, andererseits bestimmte Einrichtungen als Beispiele angibt (z.B. Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios), führt dies nicht dazu, dass für die Normbetroffenen unklar wäre, welche Angebote untersagt sind, auch wenn der grammatikalischen Auslegung im Hinblick auf den für Verstöße gegen § 12 8. BayIfSMV geregelten Bußgeldtatbestand in § 27 Nr. 9 8. BayIfSMV eine herausgehobene Bedeutung zukommt (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.2010 - 7 C 9.09 - juris Rn. 34; BVerfG, B.v. 17.11.2009 - 1 BvR 2717/08 - NJW 2010, 754 - juris Rn. 14 ff.).

bb) Ziel des mit der 8. BayIfSMV seit dem 2. November 2020 geltenden Gesamtkonzepts bzw. Maßnahmenbündels ist es, durch eine "erhebliche" Reduzierung der Kontakte in der Bevölkerung insgesamt das Infektionsgeschehen aufzuhalten und die Zahl der Neuinfektionen wieder in eine "nachverfolgbare Größenordnung" von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche zu senken (vgl. Beschluss der Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 28.10.2020, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/videokonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-28-oktober-2020-1805248, den der Antragsgegner der 8. BayIfSMV zugrunde gelegt hat, vgl. https://www.bayern.de/wp-content/uploads/2020/10/201029-ministerrat.pdf). Es geht somit nicht um eine Verhinderung aller bzw. aller nicht schlechthin (lebens-) notwendigen Kontakte, sondern um eine nur auf bestimmte Lebensbereiche und Wirtschaftszweige begrenzte Kontaktreduzierung unter ausdrücklicher Tolerierung von Kontakten in anderen Situationen. Während insbesondere der Freizeitgestaltung, Kultur und Unterhaltung dienende sowie touristische und gastronomische Einrichtungen geschlossen sind, werden Kontakte etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, Kindergärten und Kirchen hingenommen.

cc) Die Untersagung von Betrieben, die körpernahe Dienstleistungen anbieten, ist geeignet, die Reduzierung von Kontakten und damit einer Vermeidung möglicher Ansteckungen zu fördern. Sie trägt - als Teil des Maßnahmenbündels, mit dem der Verordnungsgeber dem Anstieg der Infektionszahlen begegnet - dazu bei, dass persönliche Begegnungen reduziert und das Infektionsgeschehen verlangsamt wird.

dd) Die Maßnahme erweist sich voraussichtlich als erforderlich, weil sich bei prognostischer Beurteilung kein gleich wirksames, die Normbetroffenen weniger belastendes milderes Mittel zeigt. Zwar können auch Hygienekonzepte zu einer Reduzierung von Ansteckungen mit SARS-CoV-2 beitragen. In der gegenwärtigen Phase der Pandemie, die von einem diffusen Ausbruchsgeschehen geprägt ist und in der ein Großteil der Infektionen nicht (mehr) zurückverfolgt werden kann (vgl. RKI, Lagebericht vom 3.11.2020, S. 13, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges _Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-03-de.pdf? blob=publication File; RKI, Epidemiologisches Bulletin 38/2020 vom 17.9.2020, abrufbar unter https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/6944/38-2020-DOI-Infektionsumfeld.pdf? sequence= 4& isAllowed =y), ist die Prognose des Verordnungsgebers, dass die zwischenzeitlichen, vordringlich auf Einhaltung von Abstand und Hygiene ausgerichteten Maßnahmen nicht mehr genügen, sondern dass die Kontakte der Bevölkerung in bestimmten Bereichen insgesamt unterbunden werden müssten, nicht offensichtlich fehlerhaft. In einer solchen Situation ist es unerheblich, dass nicht nachweisbar ist, ob bestimmten Betrieben eine maßgebliche Rolle bei der Ausbreitung des Infektionsgeschehens zukommt (vgl. auch OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.11.2020 - OVG 11 S 101/20 - juris Rn. 47; OVG LSA, B.v. 4.11.2020 - 3 R 218/20 - BeckRS 2020, 29264 - Rn. 58; NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 51).

ee) Die (befristete) Betriebsuntersagung erweist sich auch nicht als offensichtlich unangemessen. Der Senat verkennt nicht, dass die Maßnahme gravierend in die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der Normbetroffenen eingreift, zumal diese schon im Frühjahr 2020 pandemiebedingte Betriebsschließungen hinnehmen mussten. Gleichwohl erscheint das mit der 8. BayIfSMV umgesetzte Gesamtkonzept des "Herunterfahrens" von Teilbereichen des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens, hier von Nagel- bzw. Kosmetikstudios, bei summarischer Prüfung als nicht von vorneherein unangemessene Reaktion auf das derzeit stark verschärfte pandemische Geschehen (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 [Gastronomie- und Hotelbetrieb]; OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.11.2020 - OVG 11 S 101/20 - juris Rn. 43 ff. [Tattoo-Studio] und B.v. 6.11.2020 - OVG 11 S 100/20 - juris Rn. 46 ff. [Nagelstudio]; OVG LSA, B.v. 4.11.2020 - 3 R 218/20 - BeckRS 220, 29264 - Rn. 44 ff. [Beherbergung]; NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 57 f. [Fitnessstudio]). Die Maßnahmen stehen im Einklang mit der Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts (vgl. RKI, Risikobewertung zu COVID-19 Stand: 26.10.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus /Risikobewertung.html; Täglicher Lagebericht vom 10.11.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte /Nov_2020/2020-11-10-de.pdf? blob=publicationFile). Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG wird auch dadurch gemildert, dass erhebliche staatliche Entschädigungsleistungen für den Umsatzausfall angekündigt wurden (vgl. https://www.bayern.de/wp-content/uploads/2020/10/201029-ministerrat.pdf).

ff) Ebenso wenig liegt der angegriffenen Bestimmung ein offensichtlicher Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zugrunde.

(1) Das vom Normgeber zugrunde gelegte Konzept der Schließung von Teilbereichen des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens - vor allem im Bereich der Freizeitgestaltung - erscheint bei summarischer Prüfung willkürfrei und wohl sachgerecht; auch das Vorgehen gegen Dritte ("Nichtstörer") ist danach sachlich zu rechtfertigen. Die Betriebsuntersagungen sind Teil dieses Gesamtkonzeptes bzw. Maßnahmenbündels, welches das Offenhalten von Schulen und Kindertagesstätten und eine weitgehende Aufrechterhaltung des Berufslebens verbunden mit der wirtschaftlichen Produktivität als Ausgangspunkt hat. Nach Vornahme dieser Priorisierung auf Erwerbsleben und Bildung ist es aus der hier maßgeblichen ex-ante-Sicht denkbar, in einer Phase der fehlenden Rückverfolgbarkeit von Infektionsketten und einer großen Zahl diffus auftretender Ansteckungen mit dem SARS-CoV-2-Virus die (von allgemeinen Kontaktverboten begleiteten, § 3 Abs. 1 8. BayIfSMV) Kontaktbeschränkungen im Bereich der Freizeitgestaltung der Bürger zu verorten, wo längerdauernde soziale und damit auch infektiöse Kontakte (während der bevorstehenden Wintermonate vor allem in geschlossenen Räumen) stattfinden, um das Pandemiegeschehen insgesamt zu verlangsamen und die Kontrolle über die Infektionswege wieder zu erlangen. Letztlich soll so eine Überlastung des Gesundheitswesens mit der Folge tödlicher Krankheitsverläufe verhindert werden (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 - Rn. 20 f.; vgl. auch NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 62).

(2) Hinsichtlich der Anforderungen an den allgemeinen Gleichheitssatz sind die Erfolgsaussichten im Eilverfahren offen. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Art. 3 Abs. 1 GG dem Normgeber nicht jede Differenzierung verwehrt. Für die Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sein müssen, gilt grundsätzlich ein stufenloser am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen (BVerfG, B.v. 18.7.2012 - 1 BvL 16/11 - BVerfGE 132, 179 - juris Rn. 30 f. m.w.N.). Der Umstand, dass ein Normgeber zur Bewältigung neuartiger Gefahrenlagen und Entwicklungen, die ein schnelles Eingreifen erfordern, für die es aber bisher an einem zuverlässigen Erfahrungswissen fehlt, Massenentscheidungen trifft, kann dabei Rückwirkungen auf die Maßstabsbildung entfalten (vgl. BayVerfGH, E.v. 21.10.2020 - Vf. 26-VII-20 - juris Rn. 24 m.w.N.). Die sich stellenden Rechtsfragen können aber im Rahmen eines Eilverfahrens nicht verlässlich geklärt werden:

Soweit der Verordnungsgeber die Dienstleistungen des Friseurhandwerks unter Hygieneauflagen weiter geöffnet hält (§ 12 Abs. 2 Satz 3 8. BayIfSMV), erscheint diese Ungleichbehandlung gegenüber Nagelstudios bei summarischer Prüfung jedenfalls nicht evident sachwidrig. Für diese Differenzierung des Verordnungsgebers war im Wesentlichen die Erwägung leitend, dass ein Friseurbesuch dem unaufschiebbaren täglichen Bedarf der Bevölkerung dient. Damit hat er kein streng infektionsschutzrechtliches Unterscheidungskriterium angewandt, sodass fraglich ist, ob er sich hierbei noch im Rahmen der ihm erteilten Verordnungsermächtigung gehalten hat. Die § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 IfSG geben nämlich nur Befugnisse zu Schutzmaßnahmen aus Gründen des Infektionsschutzes, d.h. soweit und solange diese zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich sind (vgl. VGH BW, B.v. 30.4.2020 - 1 S 1101/20 - juris Rn. 52; weitergehend NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 61; OVG Berlin-Bbg, B.v. 5.11.2020 - OVG 11 S 99/20 - juris Rn. 53 und B.v. 4.11.2020 - OVG 11 S 94/20 - juris Rn. 55; OVG Hamburg, B.v. 26.3.2020 - 5 Bs 48/20 - juris Rn. 13). Diese Frage stellt sich umso dringlicher, wenn Ungleichbehandlungen - wie hier - in einer Phase erfolgen, vor der bereits über einen längeren Zeitraum oder wiederholt erhebliche Grundrechtseingriffe zur Bekämpfung der Pandemie getroffen wurden (vgl. VGH BW, B.v. 6.11.2020 - 1 S 3430/20 u.a., Pressemitteilung abrufbar unter https://verwaltungsgerichtshof-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb /,Lde/7445363/?LISTPAGE=1213200). Dies bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren, weshalb auch insoweit die Erfolgsaussichten offen sind. Sollte sich dabei eine Sachwidrigkeit der Privilegierung der Friseurbetriebe ergeben, wäre fraglich, ob sich die Inhaber geschlossener Betriebe, die Dienstleistungen nahe am Kunden erbringen, auf eine "Gleichbehandlung im Unrecht" berufen könnten (vgl. BVerfG, B.v. 17.1.1979 - 1 BvL 25/77 - BVerfGE 50, 142 - juris Rn. 59; BVerwG, U.v. 30.9.2009 - 6 A 1.08 - BVerwGE 135, 77 - juris Rn. 49; BayVGH, B.v. 27.4.2020 - 20 NE 20.793 - GewArch 2020, 234 - juris Rn. 39; vgl. auch Wollenschläger in von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Rn. 218 f.; Lindner in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaats Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 118 Rn. 42).

Eine von vorneherein sachwidrige Ungleichbehandlung liegt entgegen dem Vorbringen des Antragstellers auch nicht darin, dass Einzelhandelsbetriebe unter Hygieneauflagen geöffnet bleiben dürfen (vgl. § 12 Abs. 1 8. BayIfSMV). Bei summarischer Prüfung handelt es sich bei deren Angebot um keinen im Wesentlich gleichen Sachverhalt, weil es dort - anders als bei der Erbringung körpernaher Dienstleistungen - nicht zwingend zu nahen physischen Kontakten zwischen Mitarbeitern und Kunden kommt (vgl. auch OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.11.2020 - OVG 11 S 94/20 - juris Rn. 57).

3. Bei der Annahme offener Erfolgsaussichten der Hauptsache ergibt die gebotene Folgenabwägung zwischen dem betroffenen Schutzgut der freien wirtschaftlichen Betätigung aus Art. 12 Abs. 1 GG mit dem Schutzgut Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG insbesondere im Hinblick auf die enorm steigenden Infektionszahlen, dass die von dem Antragsteller dargelegten wirtschaftlichen Folgen hinter den Schutz von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen zurücktreten müssen.

Das pandemische Geschehen verstärkt sich aktuell weiter in erheblichem Umfang. Nach dem Lagebericht des RKI vom 10. November 2020 (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-10-de.pdf? blob=publicationFile) ist eine weitere Zunahme der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Die Inzidenz der letzten sieben Tage ist deutschlandweit weiter auf 139,1 Fälle pro 100.000 Einwohner angestiegen. Der Anteil der COVID-19-Fälle in der älteren Bevölkerung nimmt wieder zu. Die 7-Tage-Inzidenz liegt u.a. in Bayern über der bundesweiten Gesamtinzidenz. In zahlreichen Landkreisen kommt es zu einer zunehmend diffusen Ausbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung, ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind. Die Zahl der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist in den vergangenen zwei Wochen von 1.470 Patienten am 27. Oktober 2020 auf 3.059 Patienten am 10. November 2020 angestiegen (vgl. auch RKI-DIVI - Tagesreport des RKI mit den Daten des DIVI-Intensivregisters, Stand 10.11.2020, 12.15 Uhr, abrufbar unter https://www.divi.de/divi-intensivregister-tagesreport-archiv). Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch. Nach wie vor gibt es keine zugelassenen Impfstoffe und die Therapie schwerer Krankheitsverläufe ist komplex und langwierig (vgl. Risikobewertung zu COVID-19, Stand: 26.10.2020, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Aufgrund dieser dramatischen Entwicklung des Infektionsgeschehens muss das Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seines Geschäftsbetriebs hinter dem Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung zurücktreten.

In dieser Situation ergibt eine Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm - insbesondere die mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten durch eine damit verbundene Öffnung von Betrieben zur Erbringung körpernaher Dienstleistungen wie Nagelstudios - schwerer ins Gewicht fallen als die (insbesondere wirtschaftlichen) Folgen ihres einstweilig weiteren Vollzugs (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2020 - 20 NE 20.2468 - BeckRS 2020, 29302 - Rn. 22; OVG NW, B.v. 26.10.2020 - 13 B 1581/20.NE - juris Rn. 70; OVG LSA, B.v. 4.11.2020 - 3 R 218/20 - BeckRS 2020, 29264 - Rn. 64; OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.11.2020 - OVG 11 S 94/20 - juris Rn. 60; NdsOVG, B.v. 6.11.2020 - 13 MN 433/20 - juris Rn. 66 ff.).

Weiterhin ist der seitens der Bundesregierung in Aussicht gestellte Ausgleich für wirtschaftliche Verluste der betroffenen Betriebe zu berücksichtigen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von dem Antragsteller angegriffenen Bestimmungen bereits mit Ablauf des 30. November 2020 außer Kraft treten (§ 28 8. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht angebracht ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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