VG Hannover, Urteil vom 09.10.2020 - 5 A 3239/16
Fundstelle
openJur 2020, 77745
  • Rkr:

1. Nach derzeitigen (aktualisierten) Erkenntnissen zu Italien steht einer Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, einen Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz als unzulässig abzulehnen, weil der Asylbewerber bereits in Italien internationalen Schutz erhalten hat, entgegen, dass die ernsthafte Gefahr besteht, dass dieser im Fall der Rückkehr in eine Lage extremer materieller Not geraten würde.

2. Dies gilt unabhängig von der Lebenssituation des betroffenen Asylbewerbers und damit auch für alleinstehe, gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter.

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2016 wird aufgehoben, mit Ausnahme des Passus in Ziffer 2. seines Tenors: „Der Antragsteller darf nicht nach Sudan (ohne Südsudan) abgeschoben werden.“.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn ich der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit welchem die Beklagte seinen Asylantrag unter Berufung auf eine bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Italien als unzulässig ablehnte.

Er ist nach eigenen Angaben im Jahr 1988 im Sudan geboren worden und sudanesischer Staatsangehöriger. Er habe den Sudan im Jahr 2004 zusammen mit seiner Familie verlassen und sei in den Tschad gereist, wo er sich bis ins Jahr 2013 in einem Flüchtlingslager aufgehalten habe. Dann sei er alleine nach Libyen weitergereist. Im Jahr 2015 habe er Libyen verlassen und sei in die Italienische Republik eingereist. Er habe Italien nach etwas über einem Monat verlassen und sei in die Beklagte eingereist, wo er im Oktober 2015 eingetroffen sei.

Am 7. Januar 2016 stellte er bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten (Bundesamt) einen Asylantrag.

Die italienischen Behörden teilten dem Bundesamt mit Schreiben vom 13. April 2016 mit, dass dem Kläger in Italien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei.

Daraufhin lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 17. Mai 2016 unter Ziffer 1. des Tenors den Antrag des Klägers als unzulässig ab. Unter Ziffer 2. drohte es die Abschiebung in nach Italien an; zudem führte es unter dieser Ziffer aus, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe und stellte gleichzeitig fest, dass er nicht in den Sudan (ohne Südsudan) abgeschoben werden dürfe. Schließlich befristete es unter Ziffer 3. das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Antrag sei unzulässig, da er wegen der Gewährung des internationalen Schutzes durch und in Italien keine weitere Schutzgewährung verlangen könne. Hinsichtlich der weiteren Begründung wird auf den Bescheid vom 17. Mai 2016 Bezug genommen.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 3. Juni 2016 Klage erhoben. Er ist zunächst der Auffassung, dass die Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 des Bescheides rechtswidrig sei, da zwingend habe eine Abschiebungsanordnung ausgesprochen werden müssen. Zudem behauptet er, in Italien im äußeren Bereich der Stadt Napoli in Zelten auf der Straße gelebt zu haben. Er sei immer wieder aufgefordert worden, den Ort zu verlassen und habe sich dann ein anderes Obdach gesucht. Weder habe er die Möglichkeit gehabt, zu arbeiten noch die italienische Sprache zu lernen. Vom italienischen Staat habe er keinerlei Hilfeleistung erhalten. Die Lebensverhältnisse, die ihn in Italien erwarteten, würden ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Insofern ist er der Meinung, dass die Beklagte seinen Asylantrag in rechtswidriger Art und Weise als unzulässig abgelehnt habe; denn Art 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) sei dahingehend auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat verbiete, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, einen Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn die betroffene Person bereits in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen habe und ihr in diesem die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art 4 EuGR-Charta drohe.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2016 aufzuheben,

hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

äußerst hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid. Darüber hinaus ist sie der Auffassung, dass für den vorliegenden Fall eines allein reisenden jungen Mannes in Italien nicht von systemischen Mängeln auszugehen sei. Sie behauptet diesbezüglich, dass dem Kläger dort keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe und bezieht sich hierfür auf den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 21. Dezember 2018 (– 10 LB 201/18 –). An dieser Situation habe auch das in Italien neu eingeführte „Bürgergeld“ nichts geändert. Eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige schutzberechtigte Person erhalte vom italienischen Staat die Möglichkeit, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Solche Personen könnten sowohl eine Unterkunft finden als auch sich ernähren und sich waschen. Ferner sei ein Zugang zu medizinischer Versorgung gewährleistet. Auch verhalte sich der italienische Staat keinesfalls tatenlos bzw. gleichgültig in Bezug auf die Situation anerkannt Schutzberechtigter.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.

1. Die in Ziffer 1. des Tenors des Bescheides vom 17. Mai 2016 getroffene Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weshalb sie aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

a) Die Kammer schließt sich hinsichtlich der allgemeinen rechtlichen Maßstäbe sowie der Beurteilung der aktuellen tatsächlichen Lage für nach Italien rückkehrende anerkannt schutzberechtigte Personen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin in dem (Kammer-)Urteil vom 16. Juli 2020 (– 28 K 21.18 A –, juris) an.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat darin ausgeführt:

„(…) Rechtsgrundlage für die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrages ist § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Internationaler Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bezieht sich auf einen solchen nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt der Europäischen Union vom 20. Dezember 2011, L 337/9).

Die Regelung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt Artikel 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Amtsblatt der Europäischen Union vom 29. Juni 2013, L 180/60) um. Danach können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz u.a. nur dann als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.

Nach dem Urteil EuGH vom 19. März 2009 [gemeint ist 2019] (Rs. „Ibrahim“ C–297/17, C–318/17, C–319/17 und C–438/17, juris Rn. 101) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen ein subsidiärer Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

In dem Urteil des EuGH vom 19. März 2019 (Rs. „Jawo“ C–163/17, juris Rn. 98) hat dieser in Bezug auf eine Überstellung nach der Dublin III-Verordnung Art. 4 GRC dahingehend ausgelegt, dass er einer (…) Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass das ernsthafte Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRC für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände.

Mit Beschluss vom 13. November 2019 (Rs. „Hamed und Omar“ C–540/17 und C–541/17, juris Rn. 39 u. 43) hat der EuGH klargestellt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der die durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Schwachstellen im Asylsystem und bei den Aufnahmebedingungen des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller internationalen Schutz gewährt hat, fielen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichten.

Das Bundesverwaltungsgericht hat unter Berücksichtigung der unionsrechtskonformen Einschränkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hierzu ausgeführt (Urteil vom 21. April 2020 – BVerwG 1 C 4.19 –, juris Rn. 36-38):

„Liegen demnach die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach dieser Regelung nach der Rechtsprechung des EuGH aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist (vgl. nunmehr ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 88). Es ist damit geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen.

Auf die Vorlage des Senats hat der EuGH außerdem im Urteil "Ibrahim" - in Anlehnung an das Urteil "Jawo" vom gleichen Tag - den Maßstab für eine Verletzung von Art. 4 GRC durch die Lebensbedingungen im Staat der Schutzgewährung näher konkretisiert. Danach fallen systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 89 – 91 sowie - C-163/17 [ECLI:EU:C:2019:218], Jawo - Rn. 91 - 93; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - Rn. 39).

Der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie gerecht werden, vermag angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis nicht einzuschränken, solange die zuvor beschriebene Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRC nicht überschritten ist (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 92). Auch der Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, steht nicht schon für sich genommen der Ablehnung eines (neuerlichen) Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig entgegen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 93 f.). Systemische Mängel des Asylverfahrens selbst mögen zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat rechtfertigen, der subsidiären Schutz gewährt hat, schränken aber ebenfalls die Befugnis der übrigen Mitgliedstaaten nicht ein, einen neuen Antrag als unzulässig abzulehnen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 95 - 100).“

Der mit Art. 3 EMRK im Wesentlichen übereinstimmende Art. 4 GRC verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Rs. „Jawo“, C–163/17, juris Rn. 78).

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist ebenso geklärt, dass die einem Ausländer im „Zielstaat“ drohenden Gefahren ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen müssen, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC und ein daraus folgendes Abschiebungsverbot begründen zu können (vgl. EGMR <GK> Urteil vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien – Rn. 174, zitiert nach VG Braunschweig, Urteil vom 21. April 2020, – 3 A 112/19 –, Entscheidungsabdruck Seite 4/5, https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/Dublin/2020_04_21_VG_BS_Drittstaaten_klein.pdf). Die Bestimmung des Mindestmaßes an Schwere hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand (vgl. EGMR <GK>, Urteile vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland – Rn. 219 und vom 13. Dezember 2016 – Nr. 41738/10, a.a.O.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 23 und 25). Zwar enthält Art. 3 EMRK keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit Wohnraum zu versorgen und finanzielle Unterstützung zu gewährleisten. Für die als besonders verletzlich gewertete Gruppe der Asylsuchenden besteht aber nach der Rechtsprechung des EGMR eine gesteigerte Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedstaaten, da sie sich in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Amtsblatt der Europäischen Union vom 29. Juni 2013, L 180/96) zur Gewährleistung bestimmter Mindeststandards bei der Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet haben. Schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat können bei dieser Gruppe eine Verletzung von Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC begründen, wenn die Betroffenen in einem für sie fremden Umfeld vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und einer staatlichen Untätigkeit und Gleichgültigkeit gegenüberstehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – BVerwG 1 B 25.18 –, juris Rn. 10).

Daher kommt es für die rechtliche Prüfung einerseits auf eine gewisse Schwere an (Situation extremer materieller Not), andererseits sind individuelle Besonderheiten und Risiken bei dem Asylsuchenden (unabhängig von seinem Willen) sowie die gesteigerte Schutzpflicht der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Zu diesen Schutzpflichten gehört, dass sich die im Zielstaat als Flüchtlinge anerkannten Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt sichern können. Dies setzt mindestens voraus, dass sie wenigstens in der ersten Zeit nach der Aufnahme Obdach finden können, ausreichende Ernährung erhalten und Zugang zu medizinischer und hygienischer Versorgung bekommen (vgl. VG Gießen, Urteil vom 7. August 2018 – 8 K 1974/16.GI.A –, juris Rn 21ff.).

Ein freier Zugang zum Arbeitsmarkt in dem Zielstaat spricht zwar grundsätzlich dafür, dass sich der anerkannt Schutzberechtigte eine Unterkunft und seinen existenzsichernden Lebensunterhalt durch Arbeit sichern kann. Dabei kommt es aber auch auf die Umstände des Einzelfalls, den Lebensstandard im Zielstaat und auf die Möglichkeit an, staatliche Sozialleistungen zu erhalten. Insoweit müssen die konkrete Arbeitsmarktsituation, fehlende Sprachkenntnisse und Berufsqualifikationen, etwaige Erkrankungen oder die Versorgung von Angehörigen, insbesondere von Kindern und Pflegebedürftigen, berücksichtigt werden.

Für die Gruppe sog. vulnerabler Personen ist in der Rechtsprechung überwiegend anerkannt, dass ihre Überstellung nach Italien derzeit ohne individuelle Garantieerklärung zur Unterbringung und Versorgung nicht verantwortbar ist (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 21. April 2020 – 3 A 112/19 –, Abdruck Seite 6 m.w.N.; VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2020 – A 9 K 5285/19 –, juris Rn. 21 mit Bezug auf BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – BvR 1380/19 –, juris Rn. 16 und EGMR, Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12 –, „Tarakhel/Switzerland“, juris).

Die Gewährung staatlicher Sozialleistungen allein an Staatsangehörige des Zielstaates oder längere Zeit im Zielstaat lebende Personen verletzt zwar mittelbar das Recht auf Inländergleichbehandlung, hieraus allein folgt indessen noch kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 – BVerwG 1 C 4.19 –, juris Rn.38; VG Arnsberg, Urteil vom 12. September 2019 – 5 K 5990/17. A – juris, Rn. 49; a.A. VG Hannover, Urteil [gemeint ist Beschluss] vom 13. August 2019 – 5 B 3516/19 –, juris Rn. 16 zum italienischen Bürgergeld;).

Nach diesen Maßstäben ist die Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag des in Italien als Flüchtling anerkannten Klägers als unzulässig abzulehnen, rechtswidrig, weil er im Falle seiner Überstellung einer mit Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK nicht vereinbaren Gefahr extremer Not ausgesetzt wäre.

Bereits mit Urteil vom 31. Januar 2018 (VG 28 K 452.17 A, juris) hat die Kammer festgestellt, dass anerkannt Schutzberechtigten in Italien im Fall ihrer Abschiebung aufgrund fehlender kompensatorischer Hilfen eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. Dabei hat die Kammer insbesondere auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Mai 2017 (2 BvR 157.17, juris Rn. 21) Bezug genommen, in dem es klargestellt hat, dass eine Rückführung anerkannter Schutzberechtigter in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK durch den rückführenden Staat darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort mit Art. 3 EMRK unvereinbare Bedingungen herrschen – etwa dann, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln zu leben.

Diese Situation hat sich für anerkannt Schutzberechtigte in Italien zu dem nach § 77 AsylG maßgebenden aktuellen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben, die in das Verfahren eingeführt worden sind, nicht entscheidungserheblich geändert.

Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte in Italien inzwischen nach dem sog. „Salvini-Dekret“ seit dem 5. Oktober 2018 Anspruch auf Unterbringung für einen Zeitraum von (weiteren) sechs Monaten in einem SIPROIMI-Projekt, und in besonders begründeten Ausnahmefällen auf eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer um max. weitere zwölf Monate. Trotz der rückläufigen Flüchtlingszahlen in Italien und der Anstrengungen, weitere Unterkünfte bereit zu stellen, lässt sich die Anzahl der freien Plätze aktuell nicht ermitteln. Im Falle der Unterbringung im SIPROIMI besteht zwar die Möglichkeit der Registrierung und der weitgehend kostenlosen Gesundheitsversorgung. Die Menschen erhalten auch Taschengeld, Kost und Logis sowie soziale Unterstützung in Form von Integrationshilfen und Sprachkursen.

Allerdings setzt all dies voraus, dass anerkannt Schutzberechtigte, die nach Italien zurückkehren, dort tatsächlich und unmittelbar nach der Einreise einen Platz in einem SIPROIMI-Projekt erhalten (können). Daran bestehen indessen begründete Zweifel, die zu Lasten der Beklagten gehen. Soweit nämlich auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu den tatsächlichen Lebensumständen zurückkehrender anerkannt Schutzberechtigter in Italien zureichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die den Kläger im Fall seiner Rückkehr erwartenden Lebensbedingungen ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not zu geraten, obliegt es der Beklagten, dies zu entkräften, um von der Befugnis Gebrauch machen zu können, den Asylantrag als unzulässig abzulehnen. Zwar handelt es sich bei der europarechtskonformen Einschränkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG um eine Ausnahme zu Gunsten des Klägers, von ihm kann aber schlechterdings nicht verlangt werden, nachzuweisen, dass er keinen Platz in einem SIPROIMI-Projekt erhalten wird und in eine Situation extremer materieller Not geraten würde. Dies würde bedeuten, dass er bei Zweifeln das Risiko tragen müsste, in eine Lage extremer materieller Not zu geraten. Da es sich bei der Frage, ob der Kläger einen Platz in einem SIPROIMI-Projekt erhalten wird, um eine Prognoseentscheidung (Erwartung) aufgrund tatrichterlicher Würdigung der eingeführten Erkenntnisse handelt, könnte ein Nachweis nur nach der Einreise geführt werden. Dies rechtfertigt es, zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bei Vorliegen bestehender Anhaltspunkte für entsprechend zu erwartende Lebensbedingungen verbleibende begründete Zweifel zu Lasten der Beklagten zu werten. Diese könnte die Zweifel dadurch entkräften, indem sie belegt, dass anerkannt Schutzberechtigte nach ihrer Rückkehr tatsächlich und unmittelbar einen Platz in einem SIPROIMI-Projekt erhalten haben und genügend freie Plätze vorhanden sind. Dies hat sie im vorliegenden Fall nicht getan.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH] beschreibt in ihrem aktuellen Bericht (Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, in Italien; Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Bern, vom Januar 2020, Seite 53ff.) die Aufnahmebedingungen in Italien wie folgt:

„Vor der Gesetzesänderung vom 4. Oktober 2018 hatten nicht nur Personen mit Schutzstatus, sondern auch vulnerable Asylsuchende ein Recht auf Zugang zu einem SPRAR-Projekt. Das betraf insbesondere Asylsuchende mit Gesundheitsproblemen, aber auch Familien mit Kindern (ca. 18%). Da die SPRAR-Projekte relativ klein waren und den Bewohnerinnen sehr viel mehr Leistungen als die regulären Erstaufnahmezentren boten, entschied der EGMR in seinem Tarakhel-Urteil, dass der Dublin-Transfer von asylsuchenden Familien nach Italien keine Verletzung von Artikel 3 EMRK darstelle, solange die italienischen Behörden mit der Übernahmeeinwilligung eine Unterbringung in einem bestimmten SPRAR unmittelbar nach dem Transfer garantieren würden. Das gleiche galt, mutatis mutandis, für andere vulnerable Gruppen, die ein Recht auf Aufnahme in Einrichtungen haben, die ihre besonderen Bedürfnisse erfüllen.

Seit das Salvini-Dekret vorschreibt, dass SPRAR keine Asylsuchenden mehr aufnehmen dürfen, wurde das Projekt in SIPROIMI umbenannt (um die enge Auswahl an Nutzniessenden dieses Systems deutlich zu machen). Das Dekret 142/2015 zu Asylunterkünften gilt seit Inkrafttreten des Salvini-Dekretes nicht mehr für SIPROIMI (Ex-SPRAR). Von Oktober 2018 bis November 2019 gab es für SIPROIMI keine rechtlichen Rahmenbedingungen und das System funktionierte Gemäß den Vorgaben des Dekrets 142/2015. Das änderte sich, als das Innenministerium das Ministerialdekret (DM) 9259 zur Finanzierung von SIPROIMI-Projekten verabschiedete. Diesem Dekret sind Richtlinien zur Funktionsweise von SIPROIMI angehängt.197 Diese schreiben fest, was zwischen Oktober 2018 und November 2019 Praxis war. Im Grunde wurden die Vorgaben des Dekrets 142/2015 kopiert.(…)

SIPROIMI ist ein Netzwerk von Unterkünften (Projekten), das auf einer Zusammenarbeit zwischen dem Innenministerium, den Gemeinden und verschiedenen NGOs basiert. Ziel der SIPROIMI-Projekte ist die Unterstützung der Bewohner_innen bei der Integration. Deshalb sollten diese Projekte Sprachkurse, Arbeitsintegrationsprogramme, psychologische Unterstützung, juristische Beratung und andere Leistungen anbieten. Die meisten Projekte sind relativ klein und beherbergen durchschnittlich weniger als 40 Personen.

Der wichtigste Unterschied zwischen SPRAR und SIPROIMI sind die Nutzniessenden (diejenigen, die in diesen Projekten untergebracht werden können). Nur Personen mit internationalem Schutzstatus (anerkannte Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutz) und unbegleitete minderjährige Asylsuchende sowie Personen, die eine Aufenthaltsbewilligung aus besonderen Gründen haben (Opfer von Gewalt, Menschenhandel, häuslicher Gewalt, Arbeitsausbeutung oder Katastrophen, aufgrund schlechter Gesundheit oder weil sie sich mit zivilen Taten besonders hervorgetan haben) werden in einem SIPROIMI-Projekt untergebracht.

SIPROIMI ist für Asylsuchende nicht zugänglich, außer für unbegleitete minderjährige Asylsuchende.

SIPROIMI nimmt keine Familien mit Kindern auf, die sich im Asylverfahren befinden.

Asylsuchende Familien und vulnerable Asylsuchende werden alle in Erstaufnahmezentren CARA oder CAS untergebracht.

SIPROIMI werden vom Innenministerium finanziert und erstatten diesem Bericht. Sie werden aber vom Servizio Centrale (Zentralservice) koordiniert und überwacht. Der Servizio Centrale wird von ANCI, der nationalen Vereinigung der italienischen Gemeinden, verwaltet. Verträge zur Führung eines lokalen SIPROIMI-Projekts werden wie folgt vergeben: die lokalen Behörden legen dem Innenministerium ein Projekt vor; falls es Gemäß der Bewertungskommission im Innenministerium den Richtlinien und Vorgaben entspricht, wird es finanziert und in das System aufgenommen. In 90% der Fälle werden die Projekte von den lokalen Behörden an NGOs vergeben. Die Verantwortung tragen die lokalen Behörden.

Anträge für eine Unterbringung in einem SIPROIMI-Projekt müssen an den Servizio Centrale gerichtet werden. Die Anträge mit dem entsprechenden Formular werden hauptsächlich von der Präfektur oder der Questura eingereicht, manchmal auch von Anwälten_innen. Sie füllen das entsprechende Formular aus und schicken es. Dann beurteilt der Servizio Centrale den Antrag und – falls die Person, für die der Antrag gestellt wurde, ein Anrecht auf Unterkunft im SIPROIMI hat – sucht einen freien Platz in einem der Projekte. Wenn ein Platz frei ist, wird die Person sofort dort einquartiert. Der Servizio Centrale ist der einzige Akteur, der einen Überblick über die Projekte und die freien Plätze in den Projekten hat. Die freien Plätze ändern beinahe täglich und werden nicht öffentlich kommuniziert.

Während dem Gespräch mit dem Servizio Centrale in Rom im September 2019 gaben dessen Mitarbeiterinnen an, dass für «reguläre» Fälle, deren Asylgesuch positiv entschieden wurde (neue Schutzstatusinhaber) normalerweise Plätze zur Verfügung stehen würden, dies jedoch nicht garantiert werden könne. Es gibt keine Warteliste. Wenn ein Antrag auf Unterbringung in einem SIPROIMI bewilligt wurde und es keinen freien Platz gibt, wird diese Person nicht auf eine Warteliste gesetzt. Der/die Anwält_in/Questura/Präfektur muss einen Monat später einen neuen Antrag stellen, und zwar so lange, bis ein Platz für die jeweilige Person frei wird. In dieser Wartezeit steht der Person keine Unterkunft zur Verfügung (…).

Gemäß Artikel 38 (1) der SIPROIMI-Richtlinien ist die Unterkunft in einem SIPROIMI-Projekt normalerweise auf sechs Monate beschränkt. Artikel 39 (1) hält fest, dass die Dauer um weitere sechs Monate verlängert werden kann, falls es für die Integration unerlässlich ist oder wenn außerordentliche Umstände wie beispielsweise Gesundheitsprobleme vorliegen oder im Fall von in Artikel 17 des Dekrets 142/2015 definierten Vulnerabilitäten. In all diesen Fällen muss die Notwendigkeit einer Verlängerung ordentlich begründet und dokumentiert werden. Eine zweite und letzte Verlängerung von sechs Monaten ist Gemäß Artikel 39 (2) der Richtlinien möglich, falls anhaltende, angemessen dokumentierte Gesundheitsprobleme bestehen oder um ein Schuljahr zu beenden.

In Bezug auf unbegleitete Minderjährige bestimmt Artikel 38 (2), dass unbegleitete minderjährige Asylsuchende, die volljährig werden, in einem SIPROIMI-Projekt bleiben können, bis ihr Asylentscheid gefällt wurde. Andere unbegleitete Minderjährige (nicht Asylsuchende) dürfen weitere sechs Monate ab dem Tag ihrer Volljährigkeit in einem SIPROIMI-Projekt bleiben.“

Die Nichtregierungsorganisationen Pro Asyl, borderline-europe und die SFH haben aufgrund des Aufklärungs- und Beweisbeschlusses der Kammer vom 23. Oktober 2019 mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 erklärt, dass eine als schutzberechtigt anerkannte Person zwar Anspruch auf Unterbringung von sechs Monaten in einem SIPROIMI habe, sie diesen Anspruch aber verliere, wenn sie dieses ohne Meldung länger als 72 Stunden verlassen habe. Dies ergebe sich unmittelbar aus Art. 40 des Dekrets DM 9259 vom 18. November 2019. Die betroffene Person könne selbst keinen Antrag auf Aufnahme stellen, sondern nur die Präfektur, die Questura oder ein von der Person beauftragter Anwalt. Es gebe keine Wartelisten, man könne nur einen Monat später einen neuen Antrag auf Unterbringung stellen. Eine zwischenzeitliche Unterbringung für Rückkehrer sei aber nicht vorgesehen. Die freien Plätze für psychisch Erkrankte lägen nach der Auskunft weit unter dem tatsächlichen Bedarf. Da es sich bei den SIPROIMI nicht um psychiatrische Einrichtungen handele, würden schwer psychisch Erkrankte dort nicht aufgenommen. Für diese Personen stünden keinerlei adäquate Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie lebten auf der Straße oder würden vorübergehend in Zwangshaft genommen. Zwar würden Anträge von in Italien anerkannten Rückkehrern beim Servizio Centrale in Rom geprüft, diese Prüfungen würden aber lange dauern. Eine Aufenthaltsbewilligung könne kostenpflichtig bei der Post beantragt werden, dafür sei allerdings eine Wohnsitzdeklaration erforderlich. Ohne einen Wohnsitz sei die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis nicht möglich. Zudem müsse die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung innerhalb von 60 Tagen vor deren Ablauf beantragt werden, wobei die Ausstellung aufgrund der Überlastung teilweise fast ein Jahr dauere. Zwar hätten alle Personen in Italien ein Recht auf medizinische Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall, für weitere medizinische und ärztliche Leistungen sei hingegen eine Gesundheitskarte notwendig, die man aber nur erhalten könne, wenn man sich unter Angabe eines Wohnsitzes angemeldet habe. Personen ohne Wohnsitz erhielten daher keine Gesundheitskarte und könnten keine medizinischen Leistungen beim Arzt erhalten.

Die aktuell in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse bestätigen diese Einschätzung für rückkehrende anerkannte Flüchtlinge in Italien:

„Eine Person, die als Flüchtling anerkannt wurde oder subsidiären Schutz erhalten hat, kann sechs Monate lang in einem SIPROIMI-Projekt bleiben. Wenn eine Person das Projekt verlässt, bevor sie ihr Programm beendet hat, verliert sie im Prinzip ihr Recht auf Unterkunft in einem SIPROIMI-Projekt. Wenn eine Person bereits früher Zugang zu einem SIPROIMI (Ex-SPRAR)-Projekt erhalten hatte und später nach Italien rücküberstellt wird, erhält sie keinen Zugang zu SIPROIMI-Projekten mehr. Als einzige Ausnahme kann man beim Innenministerium einen Antrag aufgrund von neuen Vulnerabilitäten stellen (…).

Das italienische System basiert auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus sich um sich selbst kümmern können und müssen. Deshalb gibt es nur wenige Plätze in Unterkünften für sie, die generell auch nur temporär sind. Insbesondere wenn jemand bereits die maximale Dauer im Zentrum überschritten hat (maximal sechs Monate nach Erhalt des Schutzstatus) sind die Chancen, eine Unterkunft zu finden, sehr gering. Das führt dazu, dass Personen mit Schutzstatus, einschließlich Frauen, alleinerziehende Mütter, Familien und psychisch Kranke und Behinderte gefährdet sind, obdachlos zu werden.

Die Lebensbedingungen für Asylsuchende und Flüchtlinge in besetzten Häusern, Slums und auf der Strasse sind katastrophal. Sie leben am Rande der Gesellschaft ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Ihr tägliches Leben besteht darin, mittels Suche nach Essen und einem Schlafplatz ihre Grundbedürfnisse zu decken.“ (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien - Aktualisierter Bericht zur Lage von Asylsuchenden und Personen mit Schutzstatus, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, in Italien; Bern, vom Januar 2020, Seite 61, 62).

Abweichende Erkenntnisse wurden weder vom Auswärtigen Amt noch vom UNHCR übermittelt. Die Beklagte hat zu den aktuellen Erkenntnissen nichts vorgetragen.

Die Kammer geht von der Glaubhaftigkeit der Stellungnahme aus.

Sie deckt sich im Wesentlichen auch mit der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Nach der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei er gezwungen gewesen, die Unterkunft zu verlassen. Da er über keine ausreichenden finanziellen Mittel verfügt habe, habe er keine Aufenthaltsbewilligung und auch keine Gesundheitskarte erhalten können. Er sei zeitweise obdachlos gewesen und habe trotz gesundheitlicher Probleme keine medizinischen Leistungen in Anspruch nehmen können. Dies habe ihn schließlich veranlasst, Italien zu verlassen und später nach Deutschland zu reisen. Die Kammer hat keinerlei Anlass, an der Glaubhaftigkeit der Angaben zu zweifeln.

Nach den o.g. Maßstäben wäre eine Rückführung des Klägers nach Italien aktuell mit der ernsthaften Gefahr einer extremen Notlage verbunden.

Dem Kläger droht in Italien eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art.3 EMRK/Art. 4 GRC. Weder ist sichergestellt, dass bzw. wann er im Fall seiner Rückkehr einen Platz in einem SIPROIMI-Projekte erhalten kann, noch ist eine Sicherung seines Existenzminimums in Italien gewährleistet. Das Bürgergeld als staatliche Sozialhilfeleistung können nur italienische Staatsangehörige erhalten und solche Personen, die sich seit zehn Jahren in Italien aufhalten.

Es ist nicht sichergestellt, ob bzw. wann der Kläger, der Italien vor Jahren verlassen hat, eine Aufenthaltsbewilligung erhalten kann. Für die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung benötigt der Kläger u.a. ein Dokument, das die Adresse des Wohnsitzes enthält oder eine Wohnsitzdeklaration. Gleiches gilt für den Erhalt einer Gesundheitskarte, um einen Hausarzt und weitere medizinische Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Daher hängt die Beantwortung der Frage, ob sich anerkannt Schutzberechtigte im Falle ihrer Rückkehr nach Italien in einer Lage extremer Not befänden, maßgeblich davon ab, ob sie tatsächlich unmittelbar nach ihrer Rückkehr einen Platz in einem SIPROIMI-Projekt erhalten (können). Dies ist nach den aktualisierten Erkenntnissen der Kammer nicht mit der notwendigen Gewissheit gewährleistet. Die Beklagte hat weder die Anzahl der freien und verfügbaren Plätze in den SIPROIMI-Projekten nachgewiesen, geschweige denn auch nur einen einzigen Fall schildern können, in dem eine solche Unterbringung unmittelbar nach einer Rückkehr gelungen wäre.

Die gegenteilige Auffassung der Einzelrichterin der 31. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin (Beschluss vom 17. Juni 2020 – VG 31 L 173/20 –) überzeugt dagegen nicht, insbesondere begegnet die dort vertretene Auffassung, dass „eventuell drohende Obdachlosigkeit (…) nicht ohne weiteres geeignet (sei), generell eine mit den Grundsätzen des europäischen Asylrechts unvereinbare Behandlung anerkannter Flüchtlinge in Italien anzunehmen“ (Entscheidungsabdruck S. 6), im Hinblick auf die o.g. rechtlichen Maßstäbe und der aktualisierten Erkenntnisse erheblichen Bedenken.

Es ist daher davon auszugehen, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien im Fall ihrer Rückkehr (erneut) obdachlos wären und ohne Wohnsitz auch keine Gesundheitskarte erhalten können, um Hausärzte aufsuchen und weitere medizinische Leistungen in Anspruch nehmen zu können.

Zwar obliegt es in erster Linie dem italienischen Staat, die Anforderungen der EMRK und der GRC in Italien zu erfüllen. Das europäische Asylsystem beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Mindestanforderungen in allen Mitgliedstaaten gewährleistet sind. Allerdings darf diese Erwartung nicht zu Lasten des Asylsuchenden gehen, dessen Anerkennung als Flüchtling in Italien praktisch „wertlos“ ist, weil der Mitgliedstaat nach den o.g. Erkenntnissen seinen aufgrund der Richtlinien begründeten gesteigerten Schutzpflichten nicht nachkommt. Von einem formal anerkannt Schutzberechtigten kann nicht verlangt werden, in einen solchen Mitgliedstaat zurückzukehren, in dem er sich einer Gleichgültigkeit und unmenschlichen Behandlung des Mitgliedstaats gegenübersieht. Der Kläger muss sich auch nicht auf die Hilfe von karitativen Nichtregierungsorganisationen verweisen lassen, da die Pflicht zur menschenwürdigen Behandlung dem Mitgliedstaat obliegt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass er durch die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes in dem betreffenden Mitgliedstaat diesen Schutz in angemessener Zeit erhalten kann. Zwar darf der Kläger in Italien arbeiten, tatsächlich werden aber viele anerkannt Schutzberechtigte aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und Berufsausbildungen in einen nicht-regulierten Niedriglohnbereich gedrängt, in dem keine ausreichenden Einkommen erzielt werden können, um die Mieten zu zahlen. Um eine Wohnung anmieten zu können, müsste der Kläger zunächst eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, wobei ungewiss ist, wann er mit der Ausstellung einer solchen rechnen könnte. Viele Vermieter und Arbeitgeber scheuen nämlich aus Angst vor Sanktionen die Vermietung oder Beschäftigung sog. illegaler Ausländer, so dass vieles dafür spricht, dass der Kläger gezwungen wäre, zunächst auf der Straße zu leben und sich seinen Lebensunterhalt als Tagelöhner zu verdienen. Erkrankt er dabei, steht ihm unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen von einer Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall abgesehen keine hausärztliche Versorgung und weitere medizinische Leistung zur Verfügung. In diesem Fall darf der Mitgliedstaat von seiner Befugnis, den Asylantrag als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen, weil der anerkannt Schutzberechtigte in die Gefahr einer extremen Not geriete.(…)“

Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen in einem Gerichtsbescheid vom 25. Mai 2020 (– 1a K 9184/17.A –, juris) zutreffend ausgeführt:

„(…) Neben den SIPROIMI-Einrichtungen existieren auch gemeindliche Sozialwohnungen, die anerkannten Schutzberechtigten unter denselben Bedingungen offenstehen, wie sie für italienische Staatsbürger gelten. Die Stellung eines Antrags auf Zuteilung einer solchen Wohnung setzt jedoch in einigen Regionen einen Mindestaufenthalt in Italien voraus. Darüber hinaus ist die Warteliste lang, so dass es mehrere Jahre dauern kann, bis eine Person eine Wohnung erhält.

Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 146, SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 66 f.

Derzeit ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Versorgungslücken in der Unterbringung durch karitative und soziale Einrichtungen ausgeglichen werden können.(…)

In der aktuellen Situation der Corona-Krise liegen jedoch belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass die vorstehend geschilderten Defizite in der Unterbringungssituation auf absehbare Zeit nicht (mehr) durch kirchliche Organisationen oder wohltätige Nichtregierungsorganisationen effektiv ausgeglichen werden. Dies kann bereits mit Blick darauf angenommen werden, dass die von der Diözese zur Verfügung gestellten Notunterkünfte nunmehr zu einem ganz wesentlichen Anteil Personen zur Verfügung gestellt werden, die diese aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation oder aufgrund ihrer Position im Gesundheitsschutz bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie benötigen. Bereits zuvor haben die nach den vorstehend aufgeführten Zahlen vorhandenen Notunterkünfte nur eine mäßige Entlastung der Situation (vorübergehend) obdachloser Schutzberechtigter bewirkt. Nunmehr ist jedoch beachtlich wahrscheinlich, dass die Rücküberstellung des Klägers einem "real risk" der drohenden Obdachlosigkeit gleichkäme.

Vgl. zur Situation eines minderjährigen Rückkehrers: BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris, Rn. 23 ff.; vgl. auch VG Minden, Urteil vom 13. November 2019 - 10 K 7608/17.A -, juris.

Dieser Gefahr werden anerkannt Schutzberechtigte, die nach Italien rückgeführt werden, voraussichtlich in absehbarer Zeit auch nicht durch die Aufnahme bezahlter Arbeit, den Bezug staatlicher Sozialleistungen, die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen oder die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes wirksam entgegenwirken können.

Insoweit ist zwar bezüglich der nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs zu stellenden Kernfrage des unter Berücksichtigung der hohen Schwelle der Erheblichkeit länger andauernden Fehlens von "Bett, Brot, Seife" auch die Möglichkeit der Arbeitsaufnahme in den Blick zu nehmen, die in Italien derzeit jedem Flüchtling 60 Tage nach Registrierung erlaubt ist. Denn kann der Betroffene nach Rücküberstellung in den grundsätzlich zuständigen Dublinstaat seine Grundbedürfnisse dort durch Arbeitseinkommen decken, kann eine Situation extremer materieller Not nicht "unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen" eintreten und damit gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch kein Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK angenommen werden.

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019- A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 118 ff.

Die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs, dass gesunde und arbeitsfähige bzw. nichtvulnerable Flüchtlinge sowohl während des Asylverfahrens als auch vor allem nach erfolgter Zuerkennung internationalen Schutzes arbeiten, deckt sich mit den Erwartungen des italienischen Asylsystems. Um die Erzielung eines Arbeitseinkommens zur Sicherung der Grundbedürfnisse zu ermöglichen, wird Flüchtlingen in Italien grundsätzlich bereits zwei Monate nach Asylantragstellung der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht.

Es ist jedoch in der derzeitigen Situation beachtlich wahrscheinlich, dass auch der nicht vulnerable Kläger bei einer Rückkehr nach Italien eine Situation vorfinden wird, in welcher er keine Arbeitsstelle findet.

Die juristisch ermöglichte Arbeitsaufnahme ließ sich bereits vor Beginn der Corona-Krise in der Praxis nicht immer einfach realisieren. Für Asylsuchende war es schon seit Jahren kaum möglich, in Italien eine legale Arbeit zu finden.

Vgl. VG Minden, Urteil vom 13. November 2019 - 10 K 7608/17.A -, juris, Rn. 129 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 68 f.

Die hohe Arbeitslosenquote Italiens, die 2019 bei zehn Prozent lag und aktuell bei 8,4 Prozent liegt,

vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160142/umfrage/arbeitslosenquote-in-den-eu-laendern/ (letzter Aufruf: 22. Mai 2020),

könnte in diesem Jahr nach ersten, in der dynamischen Situation schwierigen Prognosen auf 12,1 Prozent ansteigen und bis Ende 2021 nur geringfügig auf 11,8 Prozent sinken.

https://www.handelsblatt.com/politik/international/coronakrise-starker-abschwung-arbeitslosigkeit-in-italien-und-usa-steigt-drastisch/25768926.html?ticket=ST-5070061-ScMhGveoiWvCGAn7iiQe-ap5 (letzter Aufruf am 7.Mai 2020); https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/armut-italien-bevoelkerung-coronavirus-krise-arbeitslosigkeit (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass bereits jetzt die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie in Italien dramatisch sind. Der Internationale Währungsfonds rechnet für das Jahr 2020 mit einem Einbruch der italienischen Wirtschaftsleistung um 9,1 %.

https://www.handelsblatt.com/politik/international/coronakrise-starker-abschwung-arbeitslosigkeit-in-italien-und-usa-steigt-drastisch/25768926.html?ticket=ST-5070061-ScMhGveoiWvCGAn7iiQe-ap5 (letzter Aufruf am 7.Mai 2020); https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/armut-italien-bevoelkerung-coronavirus-krise-arbeitslosigkeit(letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Mit Blick auf die ganz erheblichen Sicherungsmaßnahmen, insbesondere dem umfänglichen sogenannten Lockdown inklusive weitgehender Ausgangssperren, erscheint der italienische Arbeitsmarkt nach Auffassung der Kammer derzeit für Flüchtlinge auf nicht absehbare Zeit nicht mehr aufnahmefähig. Aufgrund der Ausbreitung der Atemwegserkrankung COVID-19 gilt in Italien eine Notfallverordnung. Es gibt gravierende Einschränkungen im Reiseverkehr, Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die zu einem erheblichen Anstieg der Anzahl an Bedürftigen geführt haben.

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/armut-italien-bevoelkerung-coronavirus-krise-arbeitslosigkeit (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Die von der italienischen Regierung verkündeten Lockerungen der Corona-Beschränkungen für Italien zum 4. Mai 2020 betrafen insbesondere zunächst nicht die geltenden Einreisebestimmungen.

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/italien-node/italiensicherheit/211322 (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Mit Blick darauf ist beachtlich wahrscheinlich, dass die zuvor noch in den Tourismus- und Gaststätten-Sektoren vorhanden Arbeitsmöglichkeiten für Migranten in absehbarer Zukunft erheblich einbrechen werden. Auch nach einer Aufhebung der

im März 2020 in Kraft gesetzten Einreisesperre, welche für den 3. Juni 2020 geplant ist, wird mangels Touristen - eine vollständige Erholung des Wirtschaftssektors ist erst mit einem weitgehenden Zurückdrängen der Viruserkrankung etwa durch die Entwicklung eines Impfstoffes zu erwarten - eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in diesem Bereich wegfallen wird.

https://www.handelsblatt.com/politik/international/coronavirus-fuer-den-tourismus-in-italien-geht-es-ums-ueberleben/25789118.html?ticket=ST-863236-62DgkrCcSJbNzieSZdox-ap2; https://www.welt.de/politik/deutschland/article208027271/Urlauber-duerfen-einreisen-Italien-oeffnet-Grenzen-ab-3-Juni-fuer-Touristen.html (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Nicht allein durch den zu erwartenden Rückgang im Tourismussektor, sondern vor allem durch die Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage haben sich die bereits zuvor bestehenden massiven Schwierigkeiten bei der Erlangung legaler Arbeitsmöglichkeiten durch die Corona-Pandemie zum gegenwärtigen Zeitpunkt derart ausgeweitet, dass nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass ein anerkannt Schutzberechtigter in Italien die reale Möglichkeit haben wird, in absehbarer Zeit eine legale Arbeitsstelle zu finden, um sich seine Unterkunft und seinen Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Damit besteht derzeit keine Möglichkeit für den Kläger, durch Aufnahme einer Arbeit seine Grundbedürfnisse zu decken und damit im Sinne der restriktiven Vorgaben des Jawo-Urteils eine Situation extremer Not gemäß Art. 4 GR-Charta selbst abzuwenden.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit zur Aufnahme einer legalen Arbeit auch vom Vorhandensein einer gültigen Aufenthaltserlaubnis abhängen dürfte, welche wiederum ohne festen Wohnsitz bei Verlust oder Ablauf schwierig zu erlangen ist.

SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 49 f., 71 f.

Die Schwierigkeiten beruhen insoweit insbesondere auf dem Umstand, dass für die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis eine Adresse angegeben werden muss und die Einladung in die Questura für die Ausstellung sodann an diese Adresse gesendet wird.

Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 49 f.

Demgegenüber müssen sich anerkannt Schutzberechtigte nicht auf illegale, unversicherte Arbeit in der Schattenwirtschaft, in der die ständige Gefahr der Ausbeutung besteht, verweisen lassen.

Vgl. hierzu etwa VG Minden, Urteile vom 6. Februar 2020 - 12 K 491/19.A -, juris, Rn. 135, sowie vom 6. Februar 2020 - 12 K 492/19.A -, juris, Rn. 138; VG Meiningen, Urteil vom 28. Januar 2020 - 2 K648/19 -, juris, Rn. 49; VG Oldenburg, Urteil vom 20. November 2019 - 11 A 265/19 -, juris, Rn. 37; VG Magdeburg, Urteil vom 10. Oktober 2019 - 6 A 390/19 -, juris, Rn. 39; VG Aachen, Urteil vom 16. März 2020 - 10 K 157/19.A -, juris, Rn. 137 f.

Dass die italienische Regierung aktuell erwägt, Tausenden von Migranten, die sich ohne Papiere im Land aufhalten, eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, weil bedingt durch die Corona-Pandemie zahlreiche Erntehelfer aus Rumänien und Bulgarien fehlen, führt nicht zu der Annahme der Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten. Denn zum einen handelt es sich hierbei derzeit lediglich um Erwägungen, die jedoch politisch nicht einheitlich befürwortet werden. Darüber hinaus soll die Bau-, Tourismus-, Logistik- und Produktionsbranche hiervon nicht umfasst sein. Es ist mithin nicht anzunehmen, dass derlei Überlegungen, selbst wenn sie umgesetzt würden, unter dem Strich zu einer beachtlichen Erleichterung der Lage führen könnten. Zudem würde diese Regelung letztendlich nur Menschen betreffen, die schon länger in Italien leben.

https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/projekte_files/2020_05_08_STREIFLICHT%20ITALIEN%20Februar-Mai.pdf (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Dies trifft auf den Kläger jedoch nicht zu.

Weiter kommt in der gegenwärtigen Situation erschwerend hinzu, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben, wie sie in Deutschland üblich sind. Zwar ergibt sich hieraus im Grunde noch kein Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK nach den vorstehend dargestellten Maßstäben. Anerkannte Schutzberechtigte sind in Italien nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen in der Regel ab dem Moment der Schutzgewährung sowohl hinsichtlich sozialer Unterstützung als auch in Bezug auf medizinische Versorgung italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt.

Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 35 und 69; Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 62 ff., 67; aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 147 ff.

Dies gilt jedoch faktisch nicht hinsichtlich des zum 1. Mai 2019 eingeführten Bürgergeldes (Reditto di cittadinanza). Dieses Bürgergeld, das einschließlich eines Mietzuschusses in Höhe von bis zu 200,- EUR für Alleinstehende bis zu 780,- EUR und für eine Familie mit zwei Kindern bis zu 1.180,- EUR beträgt, erhalten Ausländer, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzen, erst, wenn sie einen permanenten Aufenthaltsstatus haben und seit zehn Jahren ihren Wohnsitz in Italien haben. Darüber hinaus müssen diese Ausländer zusätzliche Nachweise vorlegen; zum einen einen Nachweis, dass sie innerhalb der letzten zwei Jahre ununterbrochen einen Wohnsitz in Italien hatten, und zum anderen einen Nachweis der Behörden ihres Heimatlandes über ihre dortige Vermögenslage.

Vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 147 f.; Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 63 f.

Damit haben anerkannte Schutzberechtigte, die - wie der Kläger - diese Voraussetzungen nicht erfüllen, anders als italienische Staatsangehörige grundsätzlich keinen Anspruch auf Unterstützung zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts.

Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 49.(…)

Im maßgeblichen Zeitpunkt ist jedoch darüber hinaus zu berücksichtigen, dass das Fehlen staatlicher Unterstützung durch Sozialleistungen in der gegenwärtigen Situation zu einer nicht mehr vertretbaren Verschlechterung der existentiellen Situation des Klägers führen wird, da dieser auch mangels real bestehender legaler Arbeitsmöglichkeiten keine realistische Chance haben wird, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen und die derzeitigen Angebote karitativer Einrichtungen nach den vorstehenden Ausführungen zu einem wesentlichen Anteil bei der Nothilfe im Rahmen der Corona-Pandemie benötigt und eingesetzt werden.

Darüber hinaus ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Defizite in der Versorgung und die dadurch bedingte existentielle Notsituation durch den Kläger mittels Geltendmachung von Ansprüchen auf Gewährung von Unterstützung gegenüber den italienischen Behörden oder vor den Gerichten realistisch abgewendet werden kann. Wie aus den vorstehenden Ausführungen folgt, steht anerkannten Schutzberechtigten nach dem italienischen Recht in der Regel kein Anspruch auf Gewährung von Unterstützung zu. Dass Behörden gesetzlich nicht vorgesehene Leistungen gewähren, erscheint ausgeschlossen. Dementsprechend müssten anerkannte Schutzberechtigte den Rechtsweg beschreiten, um zu versuchen, derartige Ansprüche gestützt auf Unionsrecht oder die Europäische Menschenrechtskonvention geltend zu machen. Dabei geht die Kammer davon aus, dass Italien grundsätzlich ein funktionierendes Rechtssystem aufweist. Doch dauern Gerichtsverfahren in Italien außerordentlich lange, wofür Italien in der Vergangenheit wiederholt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt wurde. Zudem werden Anträge auf unentgeltliche Rechtspflege in der Regel als unzulässig abgelehnt, wenn keine vom Konsulat des Herkunftsstaates erteilte Einkommensbestätigung vorgelegt wird. Angesichts dessen ist die gerichtliche Geltendmachung von Leistungsansprüchen für anerkannte Schutzberechtigte, die unter prekären Bedingungen leben, mit unüberwindlichen Hindernissen verbunden.

Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 77; VG Minden, Urteil vom 13. November 2019 - 10 K 7608/17.A -, juris, Rn. 146 f.

Zudem geht die Kammer davon aus, dass die Möglichkeiten, effektiven Rechtsschutz zu erlangen, im Falle der in der aktuellen Situation und aus den vorstehenden Ausführungen über einen nicht absehbaren Zeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Wohnungslosigkeit voraussichtlich stark eingeschränkt sind, weil bereits eine durchgängige Erreichbarkeit des Schutzberechtigten für Behörden und Gerichte nicht gewährleistet werden kann.

Weiter führen auch die derzeitigen Verhältnisse im Rahmen der medizinischen Versorgung zu der Annahme eines Verstoßes gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK im Falle einer Rückführung anerkannt Schutzberechtigter. Zwar haben sowohl die innerhalb eines Unterkunftszentrums als auch die außerhalb einer solchen Einrichtung lebenden Schutzberechtigten in Italien grundsätzlich einen Anspruch auf eine den Anforderungen aus Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK jedenfalls genügenden kostenfreien Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall sowie auf eine Präventivbehandlung zur Wahrung der individuellen und öffentlichen Gesundheit.

Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Seite 54, und Anfragebeantwortung an VG Berlin vom 16. Dezember 2019, Seite 4.

Sie haben in Bezug auf die medizinische Versorgung dieselben Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger.

Vgl. BAMF, Länderinformation: Italien, Stand: Mai 2017, Seite 3.

Um von einem weiterführenden Leistungsangebot profitieren zu können, müssen sich Schutzsuchende in den SSN ("Servizio Sanitario Nazionale") einschreiben. Nach der Einschreibung in den SSN erhalten Schutzsuchende dieselbe medizinische Behandlung wie (arbeitslose) italienische Staatsbürger.

Vgl. dazu SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 54; Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 77 f.

Bereits vor der Corona-Pandemie bestanden insbesondere für anerkannte Schutzberechtigte mit Aufenthaltserlaubnis als auch andere Migranten in informellen Unterkünften und Obdachlose in der praktischen Umsetzung jedoch Hürden und Einschränkungen bei der Wahrnehmung und Geltendmachung dieses Rechts auf medizinische Behandlung. Denn diese Personengruppe kann aufgrund bürokratischer Hürden reduzierte Möglichkeiten beim Zugang zum Gesundheitssystem haben, was Allgemeinmedizin einschließt. Die Notaufnahme der Krankenhäuser ist dann häufig die einzige Zugangsmöglichkeit zum Italian National Healthcare Service (SSN).

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 73 unter Hinweis auf MSF, "OUT of sight" - Second edition", Stand: 8. Februar 2018; Vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 77 ff., 94.

Problematisch ist insbesondere das Vorgehen bei der Beantragung einer Gesundheitskarte. Hierfür werden ein Ausweis und ein dauerhafter Wohnsitz verlangt. Es gibt einen Selbstbehalt, der in vielen Fällen von den Patienten getragen werden muss und der das Budget Asylsuchender und von Personen mit Schutzstatus oft übersteigt.

Vgl SFH, Länderinformation Italien, August 2016, S. 55-57, Anfragebeantwortung an das VG Berlin vom 16. Dezember 2019, S. 5.

Insoweit ist zwar zu berücksichtigen, dass es nach der restriktiven Linie des Europäische Gerichtshof keinen Verstoß gegen Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK darstellt, wenn - jedenfalls für nicht vulnerable Schutzberechtigte wie den Kläger - kein Zugang zu einem weiterführenden medizinischen Leistungsangebot gegeben ist. Folglich waren auch die dargestellten Mängel und Defizite im Bereich der medizinischen Versorgung für Asylbewerber für sich genommen jedenfalls vor der Corona-Pandemie insgesamt noch nicht als so gravierend zu bewerten, dass sie für einen anerkannt Schutzberechtigten nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Artikel 3 EMRK oder Artikel 4 GR-Charta mit dem dafür notwendigen Schweregrad zur Folge gehabt hätten.

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019- A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 104 ff.

Angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesundheitsversorgung in Italien ist jedoch davon auszugehen, dass auch einem anerkannt Schutzberechtigten in der Situation des Klägers aufgrund der nunmehr und für die absehbare Zukunft defizitären Möglichkeiten medizinischer Versorgung in Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche Verletzung von Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK droht.

Die Krankenhäuser in Italien - insbesondere in Norditalien - haben ihre Kapazitätsgrenze erreicht. So gibt es beispielsweise in der Notaufnahme des Krankenhauses in Lodi aktuell achtzig Betten. Doch trotz der zusätzlichen Bettenkapazität kann ein neuer Patient nur dann überwiesen werden, wenn sich ein anderer erholt oder stirbt.

https://www.msf.ch/de/neueste-beitraege/artikel/medizinisches-personal-italien-am-limit; https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Italien#%C3%96konomische_Folgen; https://de.euronews.com/2020/03/19/italien-krankenhauser-sind-am-limit (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Zwar lässt der Druck auf die Krankenhäuser zwischenzeitlich nach, doch ist die Lage gleichwohl nicht stabil.

Vgl. https://www.fr.de/panorama/corona-pandemie-italien-ausgangssperren-werden-gelockert-zr-13591649.html zur Situation am Sonntag, 12.04.2020, 18:30 Uhr (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Darüber hinaus hat sich in Italien auch eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitern des Gesundheitssystems mit dem Corona-Virus infiziert, was eine zusätzliche Belastung für das ohnehin derzeit stark angespannte Gesundheitssystem darstellt.

https://www.fr.de/panorama/corona-pandemie-italien-ausgangssperren-werden-gelockert-zr-13591649.html; https://www.sueddeutsche.de/panorama/coronavirus-italien-bergamo-1.4851056 (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).

Mit den zu erwartenden bzw. bereits in Kraft gesetzten Lockerungen von Ausgangsbeschränkungen ist für die Zeit bis zur überwiegenden Eindämmung des Virus eine fortdauernd hohe Auslastung des Gesundheitssystems zu erwarten. Dies gilt insbesondere, als nach Überwindung der ersten, heftigen Infektionsphase auch die Behandlung anderer Erkrankungen nicht mehr aufgeschoben werden wird, sondern zur Vermeidung anderweitiger Gesundheitsnotstände fortzusetzen sein wird.

Der Umstand, dass beispielsweise "Ärzte ohne Grenzen" in Italien bei der Bewältigung der Corona-Pandemie Hilfe leistet, kann an der Kapazitätsauslastung nichts ändern.

Dies zeigt sich auch daran, dass das italienische Gesundheitssystem zeitweise derart stark belastet war, dass an Covid19 Erkrankte zur Behandlung ins Ausland geflogen werden mussten.

Vgl. https://www.freiepresse.de/nachrichten/sachsen/sachsen-hilft-italien-in-corona-krise-artikel10756566; https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Italien#%C3%96konomische_Folgen (letzter Aufruf: 22. Mai 2020).(…)“

Auch dem schließt sich die Kammer an.

In Bezug auf die SIPRIOMI ist noch Folgendes zu beachten:

„Es haben aber immer noch wesentlich mehr anerkannte Schutzberechtigte einen Anspruch auf Aufnahme in einer solchen Einrichtung, als Plätze zur Verfügung stehen. Dies führt dazu, dass viele anerkannte Schutzberechtigte ihren Unterbringungsplatz in einer Erstaufnahmeeinrichtung mit ihrer Anerkennung als schutzberechtigt verlieren, obwohl für sie (noch) kein Platz in einer SIPROIMI-Einrichtung zur Verfügung steht, so dass diese Personen mit ihrer Anerkennung obdachlos werden.

Vgl. aida, Country Report: Italy, März 2018, S. 126, sowie April 2019, S. 143 f.; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 28.

Darüber hinaus erschweren administrative Hürden die Aufnahme in eine SIPROIMI- Einrichtung. Die Anmeldung in einer solchen Einrichtung kann nur über eine Behörde oder einen Anwalt erfolgen. Da es zudem keine Warteliste gibt, muss die Anmeldung - sofern sie nicht zur Aufnahme in eine SIPROIMI-Einrichtung führt - jeden Monat wiederholt werden. Dies führt dazu, dass die Aufnahme in eine solche Einrichtung sich häufig langwierig gestaltet; zudem sind die betroffenen Personen auf eine Behörde angewiesen, die sich durchgehend um sie "kümmert".

Vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 28.“

(VG Minden, Urteil vom 13. November 2019 – 10 K 7608/17.A –, Rn. 92 - 95, juris; so auch: VG Köln, Beschluss vom 27. August 2020 – 8 L 1429/20.A –, Rn. 41, juris)

Der italienische Staat dürfte schließlich der (häufig eintretenden) sozialen Not anerkannt Schutzberechtigter (nunmehr) mit einer Gleichgültigkeit gegenüberstehen, die er gegenüber der eigenen Bevölkerung (und Menschen, die seit geraumer Zeit im Land leben) nicht (mehr) zeigt. Dies ergibt sich daraus, dass die Grundsicherung in Form des „Bürgergeldes“ vom Staat zur Sicherung des Existenzminimums offensichtlich als notwendig angesehen wurde bzw. wird. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der italienische Staat mit dem faktischen Ausschluss anerkannt Schutzberechtigter vom „Bürgergeld“ (s. o.), die Existenzbedrohung der Schutzberechtigten tatenlos und damit gleichgültig hinnimmt.

Aus den vorstehenden Gründen haben sich die Verhältnisse in Italien derart verändert, dass die bisherige Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 6. April 2018, – 10 LB 109/18 –, juris) – wonach zum damaligen Zeitpunkt die Aufnahmebedingungen für in Italien bereits anerkannte Schutzberechtigte keine systemischen Mängel aufgewiesen hätten, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrCh und Art. 3 EMRK bei ihrer Rücküberstellung nach Italien begründeten – überholt ist. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in einem Beschluss vom 29. Mai 2020 (– 10 LA 114/20 –, nicht veröffentlicht) selbst ausgeführt, dass eine von ihrer bisherigen Rechtsprechung abweichende, neuere Entscheidung nicht den Berufungszulassungsgrund der Divergenz erfülle, „(…) weil das Verwaltungsgericht [Braunschweig] sein Urteil – neben einer neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – nach Auswertung neuerer Erkenntnismittel auf gegenüber der [vorbezeichneten] Entscheidung des Senats teilweise geänderte Verhältnisse in Italien gestützt hat und damit keine unterschiedliche Würdigung einer nicht wesentlich geänderten Tatsachengrundlage vorliegt (…)“.

b) Angesichts dessen würde auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 EuGR-Charta, Art. 3 EMRK bestehen. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass er dort ein Leben ohne Obdach, zureichende Nahrungsmittelversorgung, sanitäre Einrichtungen und gesundheitliche Grundversorgung, also mithin in extremer materieller Not fristen müsste, sodass es ihm nicht einmal möglich wäre, seine elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Nach den zuvor dargestellten Gegebenheiten wäre die Situation nur anders zu beurteilen, wenn er in einem SIPRIOMI aufgenommen würde und dort verbleiben könnte. Beim Kläger kommt noch erschwerend zu der schlechten Arbeitsmarktsituation hinzu, dass er aufgrund der Sprachbarriere (er hat nach seinen glaubhaften Ausführungen nicht die Möglichkeit gehabt, die italienische Sprache zu erlernen) und dem Umstand, dass er sich bereits seit über fünf Jahren nicht mehr in Italien aufhält und damit nicht auf persönliche Verbindungen wird zurückgreifen können, noch geringere Chancen haben wird eine (legale) Arbeit zu finden. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Kläger seine Aufenthaltserlaubnis wohl wird verlängern müssen, da eine solche für anerkannt Schutzberechtigte mit Flüchtlingsstatus oder Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lediglich fünf Jahre gilt, wobei der Verlängerungsantrag grundsätzlich 60 Tage vor Ablauf zu stellen ist (vgl.: VG Köln, Beschluss vom 27. August 2020, a. a. O., Rn. 31, juris), wodurch der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu medizinischer Versorgung noch in erheblichem Maße weiter verengt ist. Ein Anspruch auf Sozialleistungen, namentlich auf das neu eingeführte „Bürgergeld“ als Form der Sozialhilfe, besteht nicht.

In Ermangelung einer individuellen Zusicherung seitens des italienischen Staates ist es aus den o. g. Gründen wahrscheinlich, dass er zumindest eine gewisse Wartedauer hinnehmen müsste, um in einem SIPRIOMI unterzukommen. Hierbei kann nicht sicher prognostiziert werden, wie lange dies dauern würde; nach derzeitigem Kenntnisstand ist mit einem langwierigen Verfahren zu rechnen, wobei es dann auch noch darauf ankommt, ob der Kläger das Glück hat, auf eine Behörde zu treffen, die sich um ihn „kümmert“. Schon vor diesem Hintergrund ist eine Rücküberstellung nach Italien rechtlich ausgeschlossen.

Jedenfalls würde der Kläger aber nur über einen Zeitraum von sechs Monaten in einem SIPRIOMI untergebracht werden. Da bei ihm keine Konstellation vorliegt, bei der mit einer Verlängerung dieses Zeitraumes zu rechnen ist, bestünde für ihn spätestens dann die o. g. Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Es muss bei der Frage, ob eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung im vorgenannten Sinne besteht, auch beachtet werden, ob diese in Zukunft droht. Bei der vorliegenden (höchstwahrscheinlichen) Dauer von sechs Monaten handelt es sich sogar um die nahe Zukunft. Dass es nicht nur auf die Situation unmittelbar nach der Ankunft ankommen kann, hat der Europäische Gerichtshof erst neuerlich wieder betont; er führt in seiner Entscheidung aus, dass es für die Anwendung von Art. 4 EuGR-Charta gleichgültig sei, ob es in sog. „Dublin-Fällen“ zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Rs. „Jawo“, – C-163/17 –, Rn. 88, juris).

2. Aufgrund der Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung sind auch die darauf beruhende Abschiebungsandrohung in Ziffer 2. sowie die ebenfalls darauf beruhende Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 3. des Tenors des Bescheides vom 17. Mai 2016 rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, weshalb auch diese aufzuheben sind.

Die in Ziffer 2. des Tenors getroffene Feststellung, dass der Kläger nicht in den Sudan (Südsudan) abgeschoben werden darf, ist davon nicht betroffen und verletzt diesen auch nicht in seinen Rechten, weshalb diese nicht aufzuheben ist.

3. Da der Kläger mit seinem Hauptantrag Erfolg hat, ist über die gestellten Hilfsanträge nicht zu entscheiden.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.