OLG Celle, Beschluss vom 05.11.2020 - 13 Verg 7/20
Fundstelle
openJur 2020, 77742
  • Rkr:
Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der Vergabekammer Niedersachsen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung vom 11. September 2020 (VgK-23/2020) unter Nr. 3 des Tenors dahingehend abgeändert, dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für die Antragsgegnerin nicht notwendig war. Im Übrigen verbleibt es bei der angefochtenen Entscheidung.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf bis zu 4.000 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige sofortige Beschwerde der Antragstellerin gegen die angefochtene Entscheidung der Vergabekammer, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts für die Antragsgegnerin für das Verfahren vor der Vergabekammer sei notwendig gewesen, ist begründet.

I.

Die sofortige Beschwerde richtet sich sowohl ausweislich ihres Antrags als auch ausweislich ihrer Begründung allein gegen diese Feststellung nach § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG, entgegen der möglicherweise von der Antragsgegnerin vertretenen Auffassung nicht aber auch gegen die Kostengrundentscheidung im Übrigen. Ihre grundsätzliche Kostentragungspflicht nach § 182 Abs.3 Satz 5 GWB zieht die Antragstellerin nicht in Zweifel.

II.

Gegen diesen Ausspruch der Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts ist die sofortige Beschwerde nach § 171 Abs. 1 GWB statthaft (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Juli 2013 – Verg 40/12, juris Rn. 4; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. März 2015 – 15 Verg 11/14, juris Rn. 6). Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere frist- und formgerecht erhoben.

Über diese Beschwerde kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sie sich gegen eine Nebenentscheidung der Vergabekammer richtet (OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Karlsruhe, a.a.O. Rn. 7).

III.

Die sofortige Beschwerde ist begründet. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts war für die Antragsgegnerin für das Verfahren vor der Vergabekammer nach § 182 Abs. 4 Satz 4 GWB i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG nicht notwendig.

1. Die Vergabekammer hat die grundsätzlichen Maßstäbe, anhand derer sich die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Nachprüfungsverfahren durch

den Auftraggeber beurteilt, im Wesentlichen zutreffend dargestellt.

Ob die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts durch einen öffentlichen Auftraggeber notwendig war und dessen Kosten im Vergabeverfahren deshalb zu erstatten sind, kann nicht allgemein, sondern nur anhand der Umstände des Einzelfalles entschieden werden und richtet sich nach den objektiv anzuerkennenden Erfordernissen im jeweiligen Einzelfall nach einer ex-ante-Prognose. Bei der Einzelfallentscheidung darf weder von der restriktiven Tendenz bei der Erstattung von Rechtsanwaltsgebühren im Vorverfahren nach § 80 VwVfG ausgegangen werden, weil das Vorverfahren mit dem gerichtsähnlichen Verfahren vor der Vergabekammer nicht vergleichbar ist, noch im Umkehrschluss regelmäßig von der Notwendigkeit einer Zuziehung eines Rechtsanwalts. Bei der Abwägung der Einzelfallumstände ist zu berücksichtigen, ob die Problematik des Nachprüfungsverfahrens mehr auf auftragsbezogenen Sach- und Rechtsfragen beruht und der öffentliche Auftraggeber über juristisch hinreichend geschultes Personal verfügt, welches zur Bearbeitung der im jeweiligen Nachprüfungsverfahren relevanten Sach- und Rechtsfragen in der Lage ist; dann soll eher keine Notwendigkeit bestehen. Wenn aber zu den auftragsbezogenen Rechtsfragen weitere, nicht einfach gelagerte Rechtsfragen hinzutreten, spricht dies eher für die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts. Grundsätzlich trifft es auch immer noch zu, dass die Nachprüfungsverfahren unter einem enormen Beschleunigungs- und Zeitdruck stehen und das Vergaberecht eine komplexe Rechtsmaterie mit Vorschriften aus dem nationalen Recht und dem Europarecht darstellt, welche nicht immer im Gleichklang stehen. Dieser Gesichtspunkt in Verbindung mit der Gewährleistung der Waffengleichheit kann es notwendig machen, einen Rechtsanwalt beizuziehen, um der Vergabestelle eine sachgerechte Vertretung zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wird die Beauftragung eines Rechtsanwalts zur Vertretung des Auftraggebers vor der Vergabekammer regelmäßig eher nicht notwendig sein, wenn sich die darin aufgeworfenen Probleme in der Auseinandersetzung darüber erschöpfen, ob die Vergabestelle das von ihr im Rahmen des streitbefangenen Vergabeverfahrens ohnehin zu beachtende „materielle“ Vergaberecht zutreffend angewandt hat, d. h. im Wesentlichen die Bestimmungen der Verdingungsordnung eingehalten sind. Denn dann ist - zumindest bei größeren Auftraggebern, die Vergaben nicht nur in Einzelfällen ausführen - der Kernbereich der Tätigkeit betroffen, deren Ergebnisse zu rechtfertigen eine Vergabestelle grundsätzlich auch ohne anwaltlichen Beistand in der Lage sein muss (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011 – 13 Verg 17/10, juris Rn. 5 m.w.N.).

Maßgeblich ist, ob der Beteiligte unter den Umständen des Falles auch selbst in der Lage gewesen wäre, aufgrund der bekannten oder erkennbaren Tatsachen den Sachverhalt zu erfassen, der im Hinblick auf eine Missachtung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren von Bedeutung ist, hieraus die für eine sinnvolle Rechtswahrung oder -verteidigung nötigen Schlüsse zu ziehen und das danach Gebotene gegenüber der Vergabekammer vorzubringen (BGH, Beschluss vom 26. September 2006 – X ZB 14/06, juris Rn. 61).

2. Insoweit hat die Vergabekammer noch zutreffend berücksichtigt, dass Gegenstand des vorliegenden Nachprüfungsantrages Gesichtspunkte waren, die die Antragsgegnerin im Rahmen des von ihr durchzuführenden Vergabeverfahrens ohnehin zu bewerten hatte. Sie hat demgegenüber aber dem Umstand ein zu großes Gewicht beigemessen, dass die Antragsgegnerin im eigenen Haus keine Juristen beschäftigt, die Erfahrung mit der Durchführung von Vergabenachprüfungsverfahren haben.

Zwar ist nach den bereits dargestellten Grundsätzen neben Gesichtspunkten wie der Einfachheit oder Komplexität des Sachverhalts und der Überschaubarkeit oder Schwierigkeit der zu beurteilenden Rechtsfragen auch die personelle Ausstattung der Vergabestelle und ihre Erfahrung mit Vergabe- und Nachprüfungsverfahren zu berücksichtigen. Der Bundesgerichtshof hat insoweit etwa als Kriterium bezeichnet, ob die Vergabestelle über eine Rechtsabteilung oder andere Mitarbeiter verfügt, von denen erwartet werden kann, dass sie gerade oder auch Fragen des Vergaberechts sachgerecht bearbeiten können, oder ob allein ein kaufmännisch gebildeter Geschäftsinhaber sich des Falles annehmen müsse (BGH, a.a.O.; ebenso OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Oktober 2020 – Verg 36/19, juris Rn. 102).

Vorliegend hat die Antragsgegnerin aber nicht geltend gemacht, über keine Rechtsabteilung oder sonstige Mitarbeiter zu verfügen, von denen eine entsprechende Bearbeitung erwartet werden könne. Allein der von ihr vorgetragene Umstand, nicht über Juristen mit Erfahrung mit der Durchführung von Nachprüfungsverfahren zu verfügen, ist vorliegend nicht entscheidend. Dabei verkennt der Senat nicht, dass es sich bei der Antragsgegnerin auch nicht um eine „klassische“ Vergabestelle handeln dürfte, die regelmäßig vergleichbare Vergabeverfahren durchführt.

a) Grundlegend hat sich ein Auftraggeber in seinem Aufgabenbereich die Kenntnisse für auftragsbezogenen Sach- und Rechtsfragen grundsätzlich selbst zu verschaffen, weshalb die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts in Nachprüfungsverfahren, die im wesentlichen einfache auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen betreffen, regelmäßig nicht notwendig ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Juli 2013 – Verg 40/12, juris Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. März 2015 – 15 Verg 11/14, juris Rn. 9 ff.). Entsprechend sind auch beispielsweise Honorare für Architekten, Ingenieure und andere Berater, die den Auftraggeber im Hintergrund unterstützen, regelmäßig nicht erstattungsfähig (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 8. März 2005 – Verg 4/05, juris).

b) Im vorliegenden Fall beschränkte sich das Nachprüfungsverfahren auf vergleichsweise einfach zu beantwortenden Fragen. Die wesentlichen Fragen waren von der Antragsgegnerin bereits im eigentlichen Vergabeverfahren zu beurteilen und wurden von ihr bei ihrer Entscheidung vom 10./13. Juli 2020, die Ausschreibung aufzuheben, entsprechend berücksichtigt (Bl. 164 VgK-A). Diese Entscheidung hat sie der Antragstellerin – vor Einleitung des Nachprüfungsverfahrens – in der Rügeantwort vom 24. Juli 2020 (Bl. 28 VgK-A) auch näher – sogar unter zutreffender und mit Belegen versehener Darstellung der maßgeblichen rechtlichen Grundsätze – erläutert.

Die Aufgabe der Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren beschränkte sich darauf, ihre eigene Tätigkeit und diese bereits getroffene und näher begründete Entscheidung darzustellen (vgl. Summa in: jurisPK-VergR, 5. Aufl., § 182 GWB [Stand: 25. Mai 2020] Rn. 94). Nicht zuletzt aufgrund der bereits im Vergabeverfahren vorgenommenen Prüfung wäre ihr dies ohne weiteres auch ohne die Hinzuziehung von Rechtsanwälten möglich gewesen.

In diesem Zusammenhang stellten sich auch keine schwierigen Sach- und Rechtsfragen.

aa) Maßgeblich war insoweit zum einen, ob die Kostenschätzung der Antragsgegnerin vertretbar erfolgt war. Diese Voraussetzung hatte die Antragsgegnerin schon ausweislich ihrer Rügebeantwortung vom 24. Juli 2020 sogar tatsächlich erkannt. Dass die Kostenschätzung vertretbar erfolgt war, fiele ohnehin in ihren Verantwortungsbereich im Zusammenhang mit der vorgenommenen Ausschreibung und hätte auch durch sie selbst in technischer und kalkulatorischer Hinsicht näher erläutert werden müssen, wenn dies problematisch geworden wäre. Spezieller juristischer Sachverstand war hierfür nicht erforderlich.

bb) Die Abgrenzung, ab welcher Überschreitung einer solchen Kostenschätzung eine Aufhebung eines Vergabeverfahrens rechtmäßig ist, mag zwar im Einzelfall nicht ganz einfach zu beantworten sein. Aufgrund der gravierenden Überschreitung im vorliegenden Fall stellten sich insoweit gegebenenfalls problematische Abgrenzungsfragen hier aber erkennbar nicht. Der Angebotsendpreis belief sich insgesamt auf mehr als das Doppelte der Kalkulation der Antragsgegnerin.

cc) Weiter ergaben sich vorliegend zwar im Ansatzpunkt Rechtsfragen, die über die übliche Tätigkeit einer Vergabestelle bei der Ausschreibung und Vergabeentscheidung hinausgehen und rechtlich nicht ganz einfach liegen mögen. So mag vorliegend problematisiert werden, inwieweit eine Aufhebung des Vergabeverfahrens selbst ohne wichtigen Grund wirksam wäre, welches Ziel die Antragstellerin mit ihrem insoweit nicht näher begründeten Nachprüfungsantrag genau verfolgte und ob dieser überhaupt zulässig war. Angesichts des Umstandes, dass die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung aufgrund des vorliegend klaren Sachverhalts außer Zweifel stand, sofern die Kostenschätzung nur vertretbar erfolgt war, bestand jedoch vernünftiger Weise schon keine Notwendigkeit, auf diese möglicherweise nicht ganz einfach zu beantwortenden Fragen näher einzugehen.

IV.

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 175 Abs. 2 i.V.m. § 78 S. 2 GWB.

Der Streitwert ist entsprechend § 3 ZPO unter Berücksichtigung des finanziellen Interesses des Rechtsmittelführers an einer Abänderung der angefochtenen Entscheidung zu bestimmen. Da sich die sofortige Beschwerde nur gegen einen Teil der Kostenentscheidung der Vergabekammer richtet, findet § 50 Abs. 2 GKG keine Anwendung (OLG Koblenz, Beschluss vom 16. Januar 2017 – Verg 5/16, juris Rn. 25 f.). Dieses finanzielle Interesse besteht vorliegend darin, grundsätzlich erstattungsfähige Anwaltskosten der Antragsgegnerin nicht tragen zu müssen. Ausgehend von einem Brutto-Auftragswert von 4.335.285,03 €, einem danach entsprechend § 50 Abs. 2 GKG für die Rechtsanwaltsgebühren maßgeblichen Gegenstandswert von 216.764,25 € und – mangels Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor der Vergabekammer – dem Ansatz einer 1,5-fachen Geschäftsgebühr (dazu: Keppler in: Röwekamp/Kus/Portz/Prieß, GWB-Vergaberecht, 5. Aufl., § 182 Rn. 106) ist dieses Interesse daher mit bis zu 4.000 € zu beziffern.