Schleswig-Holsteinisches VG, Beschluss vom 23.11.2020 - 6 B 50/20
Fundstelle
openJur 2020, 77736
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.

Der Streitwert beträgt 5.000,- €.

Gründe

Bei dem von den Antragstellern formuliertem Antrag handelt es sich nach dem ausdrücklichen Vortrag in der Antragsschrift letztlich um eine Anregung, mit der das Antragsziel verdeutlich werden soll. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO findet § 938 Abs. 1 ZPO im Verfahren gem. § 123 VwGO Anwendung. Danach steht es im freien Ermessen des Gerichts, welche Anordnungen zur Erreichung des mit dem Antrag verfolgten Zwecks erforderlich sind. Dieses Ermessen ist allerdings unter verschiedenen Aspekten eingeschränkt. Wenn der Antragsteller Tatsachen glaubhaft gemacht hat, die einen Anordnungsanspruch und einen auf diesen Anspruch bezogenen Anordnungsgrund tragen, dann hat das Gericht eine Anordnung zu erlassen. Hinsichtlich des "Ob" besteht kein Ermessen. Das dem Gericht eingeräumte Ermessen bezieht sich also ausschließlich auf den Inhalt der einstweiligen Anordnung, das "Wie". Sein Ermessen ist andererseits aber auch nicht völlig frei, sondern rechtlich determiniert durch den Zweck der einstweiligen Anordnung, durch den vom Antragsteller gestellten Antrag sowie den selbstverständlichen Grundsatz, dass von der Behörde nichts verlangt werden darf, was ihr tatsächlich oder rechtlich nicht möglich ist. Das Gericht unterliegt im Rahmen der Entscheidung über die einstweilige Anordnung nicht denselben, engen rechtlichen Bindungen, die für die Entscheidung der Hauptsache gelten. Im Hinblick auf den Zweck der einstweiligen Anordnung (Offenhalten der Hauptsache) kommen vielmehr auch vorläufige Regelungen in Betracht, die in den einschlägigen materiell-gesetzlichen Regelungen so keine unmittelbare Grundlage finden. Das Gericht kann den Tenor seiner Entscheidung mithin abweichend vom Antrag fassen, wenn sich aus dem Vortrag des Antragstellers ergibt, dass eine andere Fassung des Tenors dem Rechtsschutzbegehren besser entspricht. Dabei kann das Gericht nicht nur mit der einstweiligen Anordnung hinter dem Antrag zurückbleiben (minus), sondern unter Umständen auch eine geeignete andere Regelung (aliud) treffen (Kuhla, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand: 1.7.2020, § 123 Rn. 139 ff. m.w.N.). Angesichts dessen, dass es den Antragstellern offensichtlich um eine vorläufige Regelung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes geht und eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht das wohlverstandene Ziel der Antragsteller ist, ist das Antragsbegehren nach den vorstehend dargelegten Grundsätzen dahin zu konkretisieren bzw. auszulegen, dass die Antragsteller begehren, dass der Antragsgegnerin auferlegt wird, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Einspruch der Antragsteller vom 3.11.2020 gegen die Gültigkeit der Abstimmung zu den Bürgerentscheiden in der Gemeinde C vom 27.9.2020 den Bürgerentscheid 2 sowie den Bürgerentscheid 4 vom 27.9.2020 nicht zu vollziehen und den beiden Begehren der Bürgerentscheide 1 und 3 entgegenstehende Entscheidungen nicht zu treffen und mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidungen nicht zu beginnen.

Der Antrag ist allerdings gleichwohl unzulässig.

Bedenken dahingehend, dass nicht der richtige Antragsgegner ausgewählt wurde, bestehen nicht.

Zwar sind die Antragsteller analog § 42 VwGO antragsbefugt. Dies folgt schon daraus, dass - anders als etwa in Nordrhein-Westfalen - diese als Bürger der Antragsgegnerin über die Vorschrift § 10 Abs. 3 GKAVO entsprechend der Vorschriften der Wahlprüfung objektive Rechtsverstöße betreffend den Bürgerentscheid im Grundsatz rügen können und vorliegend auch Verstöße im Vorfeld der Wahl geltend machen. Auch haben die Antragsteller innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Ergebnisse der verfahrensgegenständlichen Bürgerentscheide Einspruch erhoben (§ 10 Abs. 3 GKAVO i.V.m. § 38 GKWG i.V.m. § 64 Abs. 2 GKWO). Darauf, dass die Antragsteller die Vertrauenspersonen der Bürgerbescheide 1 und 2 waren und ob dies Ihnen eine Antragsbefugnis vermitteln kann (siehe dazu: OVG Münster, Urteil vom 27.6.2019 - 15 A 2503/18 -, BeckRS 2019, 16447 Rn. 54 ff. m.w.N.), kommt es insofern nicht an.

Der Zulässigkeit steht jedoch entgegen, dass im Wahlrecht der Grundsatz herrscht, dass Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, regelmäßig allein mit den in den Wahlvorschriften vorgesehenen Rechtsbehelfen im nachträglichen Wahlprüfungsverfahren angefochten werden können (vgl. etwa: BVerfG, Beschluss vom 15.12.1986 - 2 BvE 1/87 -, NJW 1987, 769 f.; LVerfG SH, Beschluss vom 23.10.2009 - LVerfG 5/09 -, Juris Rn. 24 ff.; VerfGH Sachsen, Urteil vom 16.8.2019 - Vf. 76-IV-9 (HS) u.a. -, Juris Rn. 41 ff. m.w.N.). Dieser Grundsatz gilt ebenso im Schleswig-Holsteinischen Kommunalwahlrecht, da nach § 38 GKWG gegen die Gültigkeit einer Wahl Einspruch durch die Wahlberechtigte eingelegt werden kann (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 19.11.2020 - 6 B 53/20 -; so auch zum rheinland-pfälzischem Kommunalwahlrecht im Grundsatz: OVG Koblenz, Beschluss vom 12.5.2014 - 10 B 10454/14.OVG -, KommJur 2014, 329 ff.). Dies ist ebenfalls vorliegend zu berücksichtigen, da in diesem Fall nach § 10 Abs. 3 GKAVO die Vorschriften des GKWG sowie der GKWO entsprechend anzuwenden sind (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 19.11.2020 - 6 B 53/20 -).

Nichts Anderes folgt daraus, dass vertreten wird, dass ein einstweiliger Rechtsschutz vor dem Wahlvorgang jedenfalls dann ausnahmsweise zulässig sein soll, wenn das Wahlverfahren an einem offensichtlichen Fehler bzw. einem Fehler von außerordentlichem Gewicht leidet, der in einem Wahlprüfungsverfahren zur Erklärung der Ungültigkeit der Wahl führen muss, also die gerügte Entscheidung rechtlich und tatsächlich auch nicht "noch vertretbar" ist (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 12.5.2014 - 10 B 10454/14.OVG -, KommJur 2014, 329 ff.; vgl. mit ausführlicher Begründung: VerfGH Sachsen, Urteil vom 16.8.2019 - Vf. 76-IV-9 (HS) u.a. -, Juris Rn. 60 ff. m.w.N.). Hintergrund ist letztlich, dass nicht eine Wahl durchgeführt werden soll, bei der schon vor der Durchführung klar ist, dass sie im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahren keinen Bestand haben wird, da diese eine erhebliche Herausforderung für das Vertrauen sowohl in das Wahl-, als auch in das Rechtsschutzsystem darstelle (vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 16.8.2019 - Vf. 76-IV-9 (HS) u.a. -, Juris Rn. 69). Diese Rechtsprechung ist aber - unabhängig davon, ob man sich ihr generell anschließen wollte - nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar. Hier wurde ein entsprechendes Prüfungsverfahren nach durchgeführter Abstimmung zwar eingeleitet, abgeschlossen ist es indes noch nicht. In dieser Situation kann das Ziel der vorstehend zitierten Rechtsprechung nicht mehr erreicht werden, da die Wahl bzw. Abstimmung bereits durchgeführt ist. Eine eventuelle Fehlerbehaftung der Wahl ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vermeidbar. Ein Bedürfnis für eine ausnahmsweise Durchbrechung des Vorrangs der Wahlprüfung besteht deshalb nicht (mehr). Dies gilt auch angesichts dessen, dass in einem solchen Fall durchaus denkbar wäre, dass in Folge des festgestellten Abstimmungsergebnisses Fakten geschaffen werden, die gegebenenfalls auch bei einer nachträglichen Feststellung eines relevanten und zur Wiederholung der Abstimmung führenden Wahlfehlers nicht mehr geändert werden könnten. Dies ist dem Wahlprüfungsverfahren immanent und so letztlich - wie sich etwa an der Regelung des § 43 Abs. 3 GKWG zeigt, nach den Vertreterinnen oder Vertreter auch bei einer ungültigen Wahl solange den Sitz behalten, bis ein neues Wahlergebnis festgestellt wurde - vom Gesetz- und Verordnungsgeber gewollt.

Da aus den vorstehenden Gründen eine Überprüfung der Abstimmung in Bezug auf die gerügten Wahlfehler durch das Gericht jedenfalls vor der Entscheidung über den Einspruch gegen die Wahl/Abstimmung durch die zuständige Körperschaft nicht zu erfolgen hat, erübrigen sich gegenwärtig jegliche Ausführungen dazu, ob einer oder mehrere der gerügten Wahl- bzw. Abstimmungsfehler überhaupt vorliegen und für den Ausgang der Abstimmung entscheidungserheblich waren und insofern überhaupt ein Anordnungsanspruch vorliegt.

Ebenso kommt es insoweit letztlich nicht auf die Frage an, ob die Antragsteller einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht haben. Ob bei einem überlangen Wahlprüfungsverfahren ausnahmsweise dennoch ein einstweiliger Rechtsschutz möglich sein könnte, braucht hier nicht geklärt zu werden, da ein solches hier nicht im Ansatz vorliegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 159 Satz 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 63 Abs. 2 GKG. Die Kammer hat den vollen Auffangstreitwert (5.000,- €) eines möglichen Hauptsacheverfahrens angesetzt. Eine Halbierung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kommt mangels gesetzlichem Anhalt nicht in Betracht (vgl. OVG Schleswig, Beschluss vom 13.1.2020 - 4 O 2/20 -).