VG Augsburg, Urteil vom 02.09.2020 - Au 4 K 19.31398
Fundstelle
openJur 2020, 77518
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die positive Verbescheidung ihrer Asylanträge.

Die Klägerin ist nach Angaben ihrer gesetzlichen Vertreter Staatsangehörige Sierra Leones und muslimischer Religionszugehörigkeit. Ihr Vater sei dem Volk der Timni, die Mutter dem Volk der Fulla zugehörig. Die Klägerin wurde am ... 2018 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Am ... 2018 wurde ein Asylantrag aufgrund der Antragsfiktion als gestellt erachtet.

Zur Begründung wurde für die Klägerin von ihren Eltern im Wesentlichen vorgetragen, dass ihr in Sierra Leone eine Genitalverstümmelung (FGM) drohe. Dies sei allgemeiner Brauch und Gesetz in Sierra Leone und würde daher auch überall im Land praktiziert.

Mit am 17. Oktober 2019 zugestellten Bescheid vom 10. Oktober 2019 lehnte das Bundesamt für ... den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Abschiebung nach Sierra Leone wurde angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).

Hiergegen hat die Klägerin am 21. Oktober 2019 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt zuletzt,

1. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2019 wird aufgehoben.

2. Unter Aufhebung des Bescheides wird die Be klagte verpflichtet, festzustellen, dass die Klägerin asylberechtigt ist, die Flüchtlingseigenschaft bei ihr vorliegt, der subsidiäre Schutzstatus bei ihr vorliegt bzw. Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bei ihr vorliegen.

Zur Begründung werde auf das bisherige Vorbringen Bezug genommen.

Die Beklagte hat die Behördenakte vorgelegt, sich jedoch in der Sache nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Verwaltungsakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 2. September 2020 verwiesen. Weiter wird Bezug genommen auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisgrundlagen.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes. Sie hat auch keinen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insgesamt rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).

Das Gericht ist der Überzeugung, dass das Vorbringen der Klägerin vor dem Bundesamt sowie die Situation in Sierra Leone, insbesondere im Hinblick auf politische, wirtschaftliche und humanitäre Aspekte und auch die Folgen für die Klägerin bei einer Rückkehr in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend dargestellt, gewürdigt und beurteilt wurden. Das Gericht nimmt daher Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids, folgt ihr und sieht insoweit von einer Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Die Klage der Mutter der Klägerin gegen ihren ablehnenden Asylbescheid wurde mit Urteil vom 10. Oktober 2019 (Az. Au 4 K 19.30780) rechtskräftig abgewiesen. Die Klage des Vaters der Klägerin gegen seinen ablehnenden Asylbescheid wurde mit Urteil vom 3. September 2020 (Az. Au 4 K 19.30761) abgewiesen. Da für die in Deutschland geborene Klägerin keine eigenen Asylgründe vorgetragen bzw. ersichtlich sind und sie ihr Verfolgungsschicksal demnach gänzlich von ihren Eltern ableitet, muss die vorliegende Klage somit letztlich das rechtliche Schicksal der Klage der Eltern teilen. Insbesondere kommt im Fall der Klägerin auch keine Zuerkennung von Familienasyl nach § 26 Abs. 2 oder Abs. 5 AsylG in Betracht, da die Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags der Eltern gerichtlich bestätigt wurde. Hierzu wie auch im Übrigen wird vollumfänglich auf die Gründe des Urteils im Verfahren der Mutter (Az. Au 4 K 19.30780) und des Urteils im Verfahren des Vaters (Az. Au 4 K 19.30761) verwiesen (vgl. zum Ganzen auch VG Augsburg, U.v. 24.9.2012 - Au 6 K 12.30147 - juris: nachgeborenes Kind ohne eigene Fluchtgründe).

Ergänzend wird noch Folgendes ausgeführt:

1. Soweit die Klägerin im Fall einer Rückkehr nach Sierra Leone die Gefahr einer Genitalverstümmelung (FGM) befürchtet, stellt eine solche zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.

Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen in den Traditionen der Gesellschaft Sierra Leones nach wie vor stark verbreitet ist. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung auch der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat sowie der Hygiene. Zur Erreichung der "Heiratsfähigkeit" sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen.

Im vorliegenden Fall hat das Gericht jedoch nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Durchführung einer Genitalverstümmelung bei der Klägerin im Fall der Rückkehr in das Heimatland beachtlich wahrscheinlich ist. Eine "Vorverfolgung" fand nicht statt, da die Klägerin in Deutschland geboren wurde.

Sowohl die Mutter als auch der Vater bestätigten glaubhaft gegenüber dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung, dass sie selbst gegen eine Beschneidung ihrer Tochter sind. Die Gefahr gehe von der gesamten Gesellschaft Sierra Leones und auch von Angehörigen der Familie der Mutter und/oder des Vaters aus. Trotz mehrfacher Nachfragen konnten die Eltern der Klägerin keinen konkreten Personenkreis benennen, von dem eine solche individuelle Gefahr für die Klägerin ausgeht. Lediglich die Großmutter mütterlicherseits neige dazu, diese Tradition durchzuführen. Im Übrigen wurde ausgeführt, dass die weibliche Genitalverstümmelung Gesetz und Brauch in ganz Sierra Leone sei. Es ist anzunehmen, dass eine Genitalverstümmelung von den Familienangehörigen wohl nicht vehement und mit Nachdruck eingefordert wird.

Der Vortrag, dass Sierra Leone viel zu klein sei, um sich dieser Tradition ent ziehen oder sich verstecken zu können, ist nicht glaubhaft. Nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel geht das Gericht davon aus, dass die Eltern eine Genitalverstümmelung ihrer Tochter jedenfalls verhindern können, wenn sie sich in Städten und außerhalb der unmittelbaren Einflussmöglichkeit der Familien aufhalten. FGM wird vorwiegend von Angehörigen von Geheimgesellschaften, deren Mitglieder Frauen sind, durchgeführt. Der soziale Druck der Zugehörigkeit ist in den Städten geringer, entsprechend sind auch die Zahlen der Mädchen, die beschnitten werden, dort niedriger als im ländlichen Raum (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Sierra Leone, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Republik Österreich vom 4.7.2018, S. 15). Das Gericht ist davon überzeugt, dass bezüglich der von der Gesellschaft und auch von Seiten der Familienangehörigen ausgehenden Gefahr einer FGM eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass sich die Eltern der Klägerin einer etwaigen Forderung nach Beschneidung nicht würden widersetzen können, ggfs. durch Wahl eines Aufenthaltsorts, der nicht im direkten Einflussbereich der Familie liegt (vgl. auch § 3e AsylG, ggfs. 2. V.m. § 4 Abs. 3 AsylG). Somit ist jedenfalls aufgrund des Bestehens einer internen Schutzmöglichkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Beschneidung der Klägerin bei einer Rückkehr nach Sierra Leone auszugehen.

2. Es besteht auch kein Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Wie bereits im parallelen Verfahren der Eltern ausgeführt, ist davon auszugehen, dass jedenfalls das Existenzminimum für die Klägerin und deren Familie gesichert werden kann. Die gemeinsame Rückkehr ist - auch wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden sein wird - zumutbar. Insoweit gelten die Ausführungen in den Gründen des Urteils im Verfahren der Mutter der Klägerin (Az. Au 4 K 19.30780) und des Vaters der Klägerin (Az. Au 4 K 19.30761).

Bei Zugrundelegung einer zwar notwendig hypothetischen, aber doch realitätsnahen Rückkehrsituation (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 16 m.w.N.) ist davon auszugehen, dass die Klägerin zusammen mit ihren Eltern nach Sierra Leone zurückkehren würde. Die Eltern leben in Deutschland zusammen und üben ausweislich der vorgelegten Sorgerechtserklärung und der Angaben im gerichtlichen Verfahren gemeinsam die Sorge für ihre Tochter aus. Sowohl der Vater als auch die Mutter der Klägerin konnten bereits vor ihrer Ausreise über viele Jahre hinweg in Sierra Leone ihren Lebensunterhalt sichern.

3. Die auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandro hung ist ebenfalls rechtmäßig, da die Voraussetzungen dieser Bestimmungen vorliegen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG.

4. Die Entscheidung des Bundesamts, das gesetzliche Einreise- und Aufenthalts verbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung zu befristen, weist keine Rechtsfehler auf. Die Länge der Frist liegt im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Dass insoweit besondere Umstände vorlägen, die eine Verkürzung der Frist als zwingend erscheinen ließen, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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