LAG Niedersachsen, Urteil vom 04.09.2020 - 14 Sa 864/19
Fundstelle
openJur 2020, 76423
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 12 Ca 140/19 Ö

Beschäftigungsphasen, die zum Zwecke der Anfertigung einer Doktorschrift genutzt werden, sind im Rahmen des § 2 Abs. 3 S. 1 WissZeitVG auch dann auf die gesamte zulässige Befristungsdauer nach § 2 Abs. 1 S. 1 und 4 WissZeitVG anzurechnen, wenn es sich um befristete Arbeitsverhältnisse mit nicht mehr als einem Viertel der regelmäßigen Arbeitszeit handelt.

Tenor

Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 22.10.2019 – 12 Ca 140/19 Ö – wird zurückgewiesen.

Das beklagte Land hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren wird auf 15.100,80 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob ihr Arbeitsverhältnis aufgrund des letzten befristeten Arbeitsvertrages zum 30.06.2019 beendet wurde.

Der am 00.00.1968 geborene Kläger war bei der Beklagten seit dem 01.02.2004 durchgehend als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.775,20 EUR beschäftigt. Die Parteien schlossen zunächst für folgende Zeiten im angegebenen Umfang der regelmäßigen Arbeitszeit befristete Arbeitsverträge:

01.02.2004 bis 31.01.2005

50 %   

15.03.2006 bis 14.03.2007

50 %   

15.03.2007 bis 29.02.2008

50 %   

01.03.2008 bis 31.01.2010

50 %   

01.02.2010 bis 31.07.2010

25 %   

01.08.2010 bis 31.03.2011

25 %   

01.04.2011 bis 30.09.2011

25 %   

01.10.2011 bis 31.01.2012

25 %   

01.02.2012 bis 30.09.2012

25 %   

01.10.2012 bis 31.03.2013

25 %   

01.04.2013 bis 30.09.2013

25 %   

01.10.2013 bis 30.09.2014

25 %   

01.10.2014 bis 30.09.2015

25 %   

01.03.2015 bis 26.12.2015

50 %   

27.12.2015 bis 15.07.2017

50 %   

16.07.2017 bis 30.06.2019

50 %. 

Abweichend zu oben genannten Arbeitsverträgen vereinbarten die Parteien am 31.07.2009 eine Arbeitszeitänderung auf 25 % für den Zeitraum vom 01.08.2009 bis zum 31.01.2010.

Der Kläger konzipierte und gab während der Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses durchgehend am Institut für Entwerfen und Gebäudelehre, H.Straße, H., Lehrveranstaltungen gemäß Tätigkeitsdarstellung vom Januar 2004 (Anlage K1 zum Schriftsatz vom 05.06.2020). Er betreute in dieser Zeit zwei Kinder und nahm im Zeitraum vom 20.07.2012 bis zum 19.09.2012 Elternzeit in Anspruch. Eine Nachfrage des beklagten Landes ergab, dass der Abschluss der Verträge über 25 % regelmäßige Arbeitszeit eher darauf beruhte, dass der Kläger es nicht geschafft hatte, seine Promotion innerhalb der Fristen des WissZeitVG abzuschließen und der damalige Institutsleiter ihm wohl noch die Möglichkeit hatte geben wollen, solange an der Hochschule weiterbeschäftigt zu sein, bis er mit der Promotion fertig war, wozu es allerdings nie kam.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, auch die Beschäftigungszeiten von nicht mehr ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit seien voll auf die Höchstbefristungsgrenzen des WissZeitVG anzurechnen und er stehe daher in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Befristung im Arbeitsvertrag vom 09.05.2017 mit Ablauf des 30.06.2019 enden wird;

2. das beklagte Land zu verurteilen, den Kläger nach Maßgabe des Arbeitsvertrages vom 09.05.2017 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in diesem Rechtsstreit als wissenschaftlichen Mitarbeiter entsprechend den Bestimmungen des Arbeitsvertrages vom 09.05.2017 weiterzubeschäftigen.

Das beklagte Land hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es hat die Auffassung vertreten, die Befristung sei wirksam erfolgt. Die Höchstbefristungszeit vor der Promotion habe sich um 4 Jahre auf 10 Jahre wegen der zwei Kinder des Klägers verlängert, die Arbeitsverträge mit ¼ der wöchentlichen Arbeitszeit seien nicht auf die Höchstbefristungsgrenze anzurechnen.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle vom 20.06.2019 und 22.10.2019 verwiesen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Auffassung vertreten, die gesetzgeberische Regelung in § 2 Abs. 3 S. 1 WissZeitVG sei mit europäischem Recht unvereinbar. Wegen der weiteren Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Mit seiner Berufung verfolgt das beklagte Land sein erstinstanzliches Klagabweisungsbegehren weiter: Eine richtlinienkonforme Prüfung des Anwendungsbereichs von § 2 Abs. 3 S. 1 WissZeitVG müsse von einer Begründung getragen sein, die der von der Befristungsrichtlinie 1999/70/EG intendierten Verhinderung von Missbrauch Rechnung trage. Ein nur theoretisch denkbarer Fall reiche zur Begründung nicht aus. Im Vordergrund stehe, dass nach der Wertung des Gesetzgebers solche Beschäftigungsverhältnisse nicht in die Berechnung der Befristungshöchstdauer eingerechnet werden sollten, die realistischerweise nicht zur wissenschaftlichen Qualifizierung genutzt werden könnten, was bei Arbeitsverhältnissen von bis zu ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit grundsätzlich angenommen werden müsse.

Das beklagte Land beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover (12 Ca 140/19 Ö) vom 22.10.2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil: Vom deutschen Gesetzgeber sei offenkundig übersehen worden, dass die Nichtanrechnungsregelung den Ablauf der 6-Jahres-Frist hindere, das Erreichen der Höchstbefristungsdauer damit dauerhaft verhindert werden könne und mithin die einzige Einschränkung der Befristungsmöglichkeiten entfalle. Der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt wegen familiärer Gründe den Abschluss eines befristeten Arbeitsvertrages mit lediglich 25 % der regelmäßigen Arbeitszeit angestrebt oder gewollt. Er habe mit dem vorliebnehmen müssen, was er vom beklagten Land als regelmäßige Arbeitszeit in einem neuen befristeten Arbeitsvertrag angeboten bekommen habe. Im Übrigen sei der institutionelle Rechtsmissbrauch angesichts der Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses von 15,5 Jahren und 17 Befristungen indiziert.

Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll vom 04.09.2020 verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung des beklagten Landes ist unbegründet. Die Befristung des letzten Arbeitsvertrages der Parteien ist rechtsunwirksam. Daher hat das Arbeitsgericht den Klaganträgen zu Recht stattgegeben.

Der Kläger hat die Unwirksamkeit der Befristung rechtzeitig gemäß § 17 TzBfG geltend gemacht.

Die Befristungsdauer der zwischen den Parteien abgeschlossenen Verträge überschreitet das gemäß § 2 WissZeitVG zulässige Maß. Damit ist die Befristung des allein zu überprüfenden letzten Arbeitsvertrages vom 09.05.2017 für die Zeit vom 16.07.2017 bis zum 30.06.2019 gemäß § 16 TzBfG rechtsunwirksam, der Arbeitsvertrag gilt als auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Die Überschreitung der Befristungshöchstdauer würde sich schon aus den abgeschlossenen und in der Klagschrift aufgeführten Arbeitsverträgen ergeben. Die Parteien haben jedoch in der mündlichen Verhandlung des Gerichts unstreitig gestellt, dass sie die vereinbarte Arbeitszeit mit Änderungsvertrag vom 31.07.2009 für die Zeit vom 01.08.2009 bis zum 31.01.2010 von 50 % auf 25 % einvernehmlich herabgesetzt hatten. Damit wäre die Höchstbefristungsdauer von 6 + 4 = 10 Jahren bei den zwei zu berücksichtigenden Kindern des Klägers dann nicht überschritten, wenn die Zeit vom 01.08.2009 bis einschließlich 28.02.2015 gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 WissZeitVG unberücksichtigt bliebe. Mangels eines Sachgrundes gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG wäre die gemäß dem Zitiergebot des § 2 Abs. 4 WissZeitVG ausschließlich auf dieses Gesetz gestützte Befristung nur bei Wahrung hier enthaltenen Höchstbefristungsdauer rechtswirksam.

Es kann dahinstehen, ob die 17 Befristungen mit einem 18. Änderungsvertrag in einem Zeitraum von über 15 Jahren einer Rechtsmissbrauchskontrolle zu unterziehen wären und ihr standhielten. Das Bundesarbeitsgericht unterzieht Befristungen im Anwendungsbereich des WissZeitVG nur einer sehr eingeschränkten Rechtsmissbrauchskontrolle (BAG 20.05.2020 – 7 AZR 72/19 – Rn. 41 ff.). Denn im vorliegenden Fall sind die Zeiträume der befristeten Arbeitsverhältnisse, in denen die Parteien einen Beschäftigungsumfang von 25 % der regelmäßigen Arbeitszeit vereinbarten, im Rahmen von § 2 Abs. 3 WissZeitVG auf die Gesamtbeschäftigungsdauer anzurechnen.

Die pauschale Nichtanrechnung von Beschäftigungszeiten mit Arbeitszeiten von nicht mehr als ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit begegnet verbreitet unionsrechtlichen Bedenken (ErfKo/Müller-Glöge, 20. Aufl., § 2 WissZeitVG Rn. 14; Preis/Ulber, WissZeitVG, 2. Aufl., § 2 Rn. 139). Das Erreichen der Höchstbefristungsdauer kann mit dieser Einschränkung dauerhaft verhindert werden. Daher wird vertreten, befristete Beschäftigungen, die auf § 2 Abs. 1 WissZeitVG gestützt werden, entgegen dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 WissZeitVG aus europarechtlichen Gründen auch dann auf die Höchstbefristungsdauer anzurechnen, wenn sie nicht mehr als ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit umfassten (Preis/Ulber a. a. O. Rn. 141; vgl. auch Däubler/Deinert/Zwanziger-Nebe, KSchR, § 2 WissZeitVG Rz. 22 f.). Das Bundesarbeitsgericht hat diese Frage in seiner Entscheidung vom 27.09.2017 – 7 AZR 629/15 – Rn. 19 ausdrücklich offengelassen.

Eine Berücksichtigung der auch vom Gesetzgeber gesehenen Vorgaben der Richtlinie 1999/70/EG, nach der die Mitgliedsstaaten Maßnahmen treffen müssen, um einen Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden und hierfür entweder sachliche Gründe, die insgesamt maximal zulässige Befristungsdauer oder die zulässige Zahl von Verlängerungen vorzusehen sind (vgl. BT-Drs. 18/6489, S. 14) und eine am ausdrücklich vom Gesetzgeber genannten Sinn und Zweck orientierte Auslegung ergeben für den vorliegenden Fall, dass die auf ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit herabgesetzten Zeiten der Beschäftigung des Klägers auf die Gesamtbeschäftigungsdauer anzurechnen sind.

In der BT-Drs. 16/3438 vom 16.11.2006 heißt es: „Nur solche Beschäftigungsverhältnisse dürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in die Berechnung der Befristungshöchstdauer eingerechnet werden, die realistischerweise nicht zur wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifizierung genutzt werden können, was bei Arbeitsverhältnissen bis zu ¼ der regelmäßigen Arbeitszeit angenommen wird (vgl. § 2 Abs. 3 Satz). Insbesondere Nebenbeschäftigungen bleiben damit anrechnungsfrei. Nach dem Grundprinzip des § 2 Abs. 1 Satz 2 ist aber auch diese Zeit anzurechnen, wenn diese Beschäftigungsphase zum Zwecke der Anfertigung einer Doktorschrift genutzt wird.“

Genau dieser Fall liegt nach dem vom beklagten Land zuletzt selbst erbrachten Vortrag vor. Danach hätte die Nachfrage im Zusammenhang mit der Weiterleitung der Berufungserwiderung ergeben, dass der Kläger die Verträge über 25 % regelmäßiger Arbeitszeit möglicherweise nicht aus familiären Gründen abgeschlossen habe, sondern eher, weil er es einfach nicht geschafft habe, seine Promotion innerhalb der Fristen des WissZeitVG abzuschließen und der Institutsleiter ihm wohl noch die Möglichkeit habe geben wollen, solange an der Universität weiterbeschäftigt zu sein, bis er mit der Promotion fertig gewesen wäre. Damit aber ist genau der vom Gesetzgeber gesehene Sonderfall der Nutzung der Beschäftigungsphase zum Zwecke der Anfertigung einer Doktorschrift benannt worden.

Eine Anrechnung dieser Zeiten entspricht auch der Intention des Gesetzgebers in der ab dem 17.03.2016 geltenden Neufassung der Ergänzung des ersten Satzes von § 2 Abs. 1 WissZeitVG, nach der die Befristung nur zulässig ist, wenn die befristete Beschäftigung zur Förderung der eigenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifizierung erfolgt (BT-Drs. 18/6489, S. 1 B.). Wenn aber dieses Ziel ausdrücklich klargestellt wird und mit einer Höchstbefristungsdauer belegt ist, dann müssen auch die Beschäftigungsphasen, die diesem Ziel nach den Parteivorstellungen dienen, angerechnet werden. Die zunächst vom beklagten Land angeführten familiären Gründe hat der Kläger ausdrücklich bestritten und ausgeführt, dass er überhaupt keine Einflussmöglichkeit auf den Vertragsinhalt gehabt habe. Damit verbleibt für das Gericht insbesondere auch nach den ausführlichen diesbezüglichen Erörterungen in der mündlichen Verhandlung als Grundlage der Vereinbarung der arbeitszeitlich reduzierten Beschäftigungsphase nur die Ermöglichung der Anfertigung Doktorarbeit auf Betreiben des Institutsleiters und somit die vom Gesetzgeber selbst gesehene Ausnahme von der Annahme, dass Arbeitszeiten von nicht mehr als 25 % nicht zur wissenschaftlichen Qualifizierung genutzt werden können.

Auch eine Würdigung des weiteren Sachvortrags der Parteien, von deren Darstellung im Einzelnen Abstand genommen wird, führt zu keinem abweichenden Ergebnis.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Zulassung der Revision folgt aus § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

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