VG Augsburg, Urteil vom 07.08.2020 - Au 3 K 19.50624
Fundstelle
openJur 2020, 73501
  • Rkr:
Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags und die Anordnung der Abschiebung nach Italien.

Die am ... 2019 in Deutschland geborene Klägerin ist nachweislich des Auszugs aus dem Geburtenregister ... (Registernummer ...) des Standesamtes ... das Kind von Frau ... und Herrn .... Nach Angaben ihrer Eltern ist sie nigerianische Staatsangehörige.

Die Mutter der Klägerin hatte zunächst in Italien einen Asylantrag gestellt, reiste dann aber in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie einen förmlichen Asylantrag stellte. Der Vater der Klägerin hatte vor seiner Einreise in die Bundesrepublik in Italien subsidiären Schutz erhalten. Ein am 17. April 2019 an Italien gerichtetes Übernahmeersuchen im Hinblick auf die Eltern wurde positiv beantwortet, Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags der Mutter nach Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO zuständig und dem Vater sei bereits am 6. Dezember 2017 subsidiärer Schutz gewährt worden. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 2. Mai 2019 wurde der Asylantrag der Mutter als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet. Die hiergegen gerichtete Klage der Mutter (Au 9 K 19.50424) wurde mit Urteil vom 22. August 2019 abgewiesen. Im Urteil wurde festgehalten, dass das Bundesamt den Asylantrag der Mutter zutreffend als unzulässig abgelehnt habe, da Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Der Abschiebung stehe auch die Geburt der Klägerin am ... 2019 nicht entgegen. Der Vater der Klägerin hat in Italien internationalen Flüchtlingsschutz (subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG) erhalten hat. Für ihn liegt eine seinen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland ablehnende Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor.

Der Asylantrag für die Klägerin, die nach der Asylantragstellung der Eltern im Bundesgebiet geboren wurde, gilt durch die Mitteilung über die Geburt an das Bundesamt als gestellt. Ein Verzicht auf die Durchführung des Asylverfahrens für die Klägerin wurde durch ihre Eltern nicht erklärt.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juli 2019 wurde der Antrag auf Asylanerkennung als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids). Nr. 2 bestimmt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Falle der Klägerin nicht vorliegen. In Nr. 3 wird die Abschiebung nach Italien angeordnet. Nr. 4 setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest. Auf den weiteren Inhalt des Bescheides wird ergänzend verwiesen.

Die Klägerin hat gegen den vorbezeichneten Bescheid am 1. August 2019 Klage erhoben und (sinngemäß) beantragt,

den o.g. Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2019 aufzuheben und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG für sie vorliegen, sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf Null zu befristen.

Zur Begründung wurde zunächst auf den bisherigen Vortrag (gemeint wohl den Vortrag beim Bundesamt und im Verfahren der Eltern) Bezug genommen.

Das Bundesamt hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und auf die vorgelegten Verwaltungsakten im Verfahren der Klägerin wie der Eltern sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Gründe

I.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

1. Das Bundesamt hat den Asylantrag der Klägerin zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG als unzulässig abgelehnt.

Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO).

a) Für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin ist Italien zuständig.

Nach Art. 20 Abs. 3 S. 2 Dublin III-VO richtet sich die Zuständigkeit für ein nachgeborenes Kind nach der Zuständigkeit seines Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 g) Dublin III-VO. Damit ist vorliegend im Hinblick auf die Klägerin die Zuständigkeit Italiens gegeben, weil Italien für die Prüfung des Antrags der Mutter der Klägerin (Familienangehörige i.S.d. Art. 2 g) Dublin III-VO) zuständig ist (vgl. hierzu das Urteil vom 22.8.2019 im Verfahren Au 9 K 19.50424). Nach Art. 20 Abs. 3 S. 2 Dublin III-VO musste für die Klägerin kein eigenes Zuständigkeitsverfahren durchgeführt werden.

b) Systemische Mängel, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine entsprechende Pflicht der Beklagten nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a.) nicht davon auszugehen, dass das italienische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt wären (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 - 13a B 13.30295; VGH BW, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13; vgl. auch BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14).

Das Gericht schließt sich damit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (vgl. EGMR, B.v. 18.6.2013 - Halimi./.Österreich und Italien, Nr. 53852/11). Danach lassen die zur Verfügung stehenden Informationen nicht den Schluss zu, dass einzelne Vorfälle ein systematisches Versagen des italienischen Asylsystems darstellen. Der EGMR in seiner Entscheidung vom 5. Februar 2015 im Verfahren A.M.E. ./. Niederlande (Az. 51428/10) entschieden, dass die Struktur und die Gesamtsituation des italienischen Flüchtlings- und Asylbewerberaufnahmesystems kein genereller Grund sind, eine Überstellung im Zuge des sog. Dublin-Verfahrens zu verbieten (vgl. dazu auch VG München vom 7.11.2018 - M 1 K 17.51795). Ergänzend nimmt der Einzelrichter hierzu Bezug auf die Darstellung im angegriffenen Bescheid und macht sich diese zu eigen (§ 77 Abs. 2 AsylG).

Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse lassen sich systemische Mängel der Aufnahmebedingungen auch nicht mit fehlenden Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen begründen. Dublin-Rückkehrern stehen im italienischen Unterkunftssystem derzeit Unterkünfte in hinreichender Zahl zur Verfügung (so auch VG Hamburg, B.v. 4.3.2019 - 9 AE 5844/18- juris Rn. 9, 10). Auch perspektivisch spricht derzeit Überwiegendes gegen eine gravierende Verschärfung der Unterbringungssituation für Asylbewerber in näherer Zukunft.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Hinblick darauf, dass die Klägerin als Kleinstkind (und zusammen mit ihm die Mutter) zu einer vulnerablen Schutzgruppe gehört. Auch im Hinblick auf diese vulnerable Gruppe bestehen in Italien keine systemischen Mängel. Die Zugehörigkeit der Klägerin und ihrer Mutter zu einer besonders geschützten Personengruppe können daher vorliegend eine Aussetzung der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach Italien nicht rechtfertigen.

Zwar hat der EGMR im Urteil vom 4. November 2014 im Verfahren Tarakhel ./. Schweiz (Az. 29217/12) - bezogen auf den Sachstand 2014 - entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung einer Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Zusicherungen von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Kläger in Italien in einer dem Alter der Kinder entsprechenden Weise aufgenommen werden und die Familieneinheit gewahrt wird.

Nach den Erkenntnissen des Gerichts ist in Italien aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine besondere Rücksichtnahme auf alleinstehende Frauen und Kleinkinder gewährleistet; auf die Begründung im Bescheid vom 3. Juli 2019 wird insoweit Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Mittlerweile ist die sog. Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR vom November 2014 auch insofern als überholt anzusehen, als Italien auf diese Rechtsprechung mit verschiedensten Maßnahmen reagiert hat und die Betreuungsplätze für Familien ausgebaut hat, und zum anderen es seitens Italien gesichert ist, dass das Bundesamt vor der Überstellung einer Familie im Falle mangelnder Verfügbarkeit von adäquater Unterbringung rechtzeitig informiert wird (vgl. hierzu auch EGMR, U.v. 4.10.2016 - 30474/14 - juris). Im Übrigen hat der EGMR (U.v. 4.10.2016 - 30474/14 - juris) entschieden, dass die allgemeinen Zusicherungen Italiens zum Schutz vulnerabler Personen als Garantien im Sinne seiner Tarakhel-Rechtsprechung zu akzeptieren und ausreichend sind.

Dies gilt auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt. (vgl. unlängst VG Ansbach, B.v. 15.4.2019 - AN 14 S 19.50278 - juris). Denn zum einen hat Italien hat mit Schreiben vom 8. Januar 2019 - und damit auch nach Inkrafttreten des sog. "Salvini-Dekrets" - eine allgemeine Zusicherung der adäquaten Unterbringung für alle Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden, erteilt. Diese schließt Familien mit Kindern unter drei Jahren mit ein (vgl. Antwort der Bundesregierung zu Frage 8 auf die Anfrage BT-Drs. 19/8340 vom 13. März 2019). Etwas anderes ergibt sich im Ergebnis auch nicht aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2019 im Verfahren 2 BvR 1380/19, in dem das Bundesverfassungsgericht eine Verkennung der aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) erwachsenden Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung seitens des Verwaltungsgerichts Würzburg beanstandet hat. Grund hierfür war, dass das das Verwaltungsgericht das tatsächliche Risiko einer vorübergehenden Obdachlosigkeit in Italien für den Beschwerdeführer und seine Mutter nicht thematisiert und die Einholung einer konkret-individuelle Zusicherung bei den italienischen Behörden, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, nicht für erforderlich erachtet hatte, obwohl es davon ausgegangen war, dass Dublin-Rückkehrer in Italien nach ihrer Ankunft zunächst mit Obdachlosigkeit rechnen müssten (BVerfG, B.v. 10.10 2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 25). Ausgangspunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war mithin die tatsächliche Annahme des Verwaltungsgerichts, dass Dublin-Rückkehrer in Italien nach ihrer Ankunft zunächst mit Obdachlosigkeit rechnen müssten. Dass diese Annahme gerade im Hinblick auf die vulnerable Gruppe der Familien mit minderjährigen Kindern nicht richtig ist, ergibt sich inzwischen aus dem ausführlichen Bericht des Bundesamts zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2. April 2020, der seitens des Bundesamts schriftsätzlich in das hiesige Verfahren eingeführt und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde. Aufgrund umfangreicher Vor-Ort-Recherchen rechtlicher wie tatsächlicher Natur wird darin aufgezeigt, dass die Sorge, eine Familie könne nach ihrer Dublin-Rückkehr ungewollt auf der Straße landen unbegründet und eine angemessene Unterbringung von Dublin-Rückkehrern in Aufnahmeeinrichtungen gewährleistet ist (vgl. Bericht des Bundesamts zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2. April 2020, S. 5 f., 18, 26 ff., 28, 51). Angesichts dieser in jüngster Zeit gewonnenen tatsächlichen Erkenntnisse ist die Einholung einer konkret-individuellen Zusicherung im vorliegenden Fall nicht erforderlich.

Auch im Hinblick auf medizinische Betreuung und Versorgung ergibt sich keine Verpflichtung der Beklagten, das Asylverfahren durchzuführen, da Italien über eine umfassende Gesundheitsfürsorge verfügt, die italienischen Staatsbürgern sowie Flüchtlingen, Asylbewerbern und unter humanitären Schutz stehenden Personen gleichermaßen zugänglich ist. Nach der bestehenden Auskunftslage funktioniert die notfallmedizinische Versorgung und der Zugang zu Hausärzten grundsätzlich ebenso wie das Angebot von psychologischer und psychiatrischer Behandlung (vgl. dazu insgesamt VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 - AN 14 K 15.50316; VG Augsburg, Beschluss vom 30.5.2017 - Au 7 S 17.50041; Bericht des Bundesamts zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2. April 2020, S. 15).

2. Auch ein Anspruch auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG besteht nicht. Insoweit wird auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, die sich auch der Einzelrichter zu Eigen macht (§ 77 Abs. 2 AsylG).

3. Schließlich sind auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die Bundesrepublik im Verfahren nach § 34a AsylG selbst zu berücksichtigen hat, weder vorgetragen noch ersichtlich. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Lebensgemeinschaft der Klägerin mit den Eltern, da die Abschiebung nach Italien im Familienverband mit den Eltern durchzuführen ist und so die familiäre Lebensgemeinschaft sichergestellt ist. Da für die Mutter der Klägerin Abschiebungsverbote zu Recht verneint wurden (vgl. hierzu das Urteil vom 23.8.2019 im Verfahren Au 9 K 19.50424) und der Vater der Klägerin in Italien internationalen Flüchtlingsschutz (subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG) erhalten hat und sein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt wurde, erscheint es auch nicht ausgeschlossen bzw. unzumutbar, die familiäre Lebensgemeinschaft in Italien fortzusetzen.

Die Abschiebung nach Italien ist auch durchführbar. Die Verpflichtung der italienischen Behörden, die Eltern der Klägerin wiederaufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen (Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO) umfasst auch die Klägerin als Familienangehörige.

4. Der Klägerin steht auch kein Anspruch auf Festsetzung einer kürzeren Frist für das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot zu.

Das Bundesamt hat hier gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen eine Frist von 15 Monaten festgesetzt. Fehler insoweit sind nicht ersichtlich. Das Bundesamt hat seiner Ermessensentscheidung zu Recht die Annahme zu Grunde gelegt, die Klägerin verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen.

II.

Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.