LG München I, Beschluss vom 13.02.2019 - 14 T 16334/18
Fundstelle
openJur 2020, 72336
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts München vom 05.11.2018 (Az. 1531 M 40905/18) aufgehoben. Die Zwangsvollstreckung aus dem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts München, 1517 K 286/13 vom 28.09.2016, der Anweisung des Landgerichts München I, 14 T 1624/18 vom 05.03.2018 sowie dem notariellen Kaufvertrag des Notars Johann Kärntner - URNr. 0405/2017 vom 16.05.2017 wird auf unbestimmte Zeit eingestellt

2. Die Schuldnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf € 12.000,- festgesetzt.

Gründe

I.

Der Gläubiger betreibt aufgrund eines Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts München vom 28.09.2016 die Zwangsräumung gegen die 77-jährige Schuldnerin, eine frühere Miteigentümerin der streitgegenständlichen Wohnung. Räumungstermin durch den zuständigen Gerichtsvollzieher war ursprünglich auf den 15.05.2018 anberaumt.

Mit Schriftsatz vom 26.04.2018 beantragte die Schuldnerin die dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung bzw. Zwangsräumung mit der Begründung, sie sei räumungsunfähig. Unter Vorlage fachärztlicher Atteste führte die Schuldnerin an, sie leide an diversen somatischen Vorerkrankungen, sei zu 70% schwerbehindert, in Pflegestufe 2 eingestuft und dauerhaft auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Daneben bestehe eine anhaltende Depression mit Suizidalität, die im Falle der drohenden Zwangsräumung zu entgleisen drohe. Es sei ihr ferner aufgrund ihrer Behinderung unmöglich, in München eine behindertengerechte Wohnung zu finden.

Nach Anhörung des Gläubigers stellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 08.05.2018 die Zwangsvollstreckung vorläufig ein und gab ein Sachverständigengutachten zur behaupteten Suizidalität der Schuldnerin in Auftrag. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers wurde mit Beschluss des Einzelrichters der Kammer vom 06.06.2018 als unzulässig verworfen.

Nach Vorliegen des Gutachtens der Sachverständigen Dr. S vom 18.09.2018 wies das Amtsgericht München mit Beschluss vom 05.11.2018 den Vollstreckungsschutzantrag der Schuldnerin mit der Maßgabe zurück, dass bei Durchführung der Zwangsräumung ein Arzt hinzuzuziehen sei. Das Amtsgericht führte im Wesentlichen aus, trotz gutachterlich bestätigter Suizidalität der Schuldnerin sei eine weitergehende vorübergehende oder dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht verhältnismäßig. Nach dem vorliegenden Gutachten sei eine stationäre Therapie nicht erfolgversprechend, die ambulante Therapie der Schuldnerin dauere seit 40 Jahren an. Jedwede dauerhafte oder vorübergehende Einstellung würde eine unzumutbare Verzögerung aus dem bestandskräftigen Zuschlagsbeschluss zu Lasten des Gläubigers bedeuten. Die Wohnung der Schuldnerin sei zudem stark verwahrlost. Der Gläubiger selbst habe eine bei ihm mittlerweile entstandene Depression durch Vorlage ärztlicher Atteste glaubhaft gemacht. Bemühungen der Schuldnerin um Ersatzwohnraumsuche seien nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Allein zum Zweck der Wohnungssuche könne Räumungsschutz nach § 765a ZPO nicht bewilligt werden.

Gegen diesen ihrem anwaltlichen Vertreter am 08.11.2018 zugestellten Beschluss legte die Schuldnerin mit Schriftsatz vom 21.11.2018 sofortige Beschwerde ein. Die Schuldnerin führt zur Begründung ihrer Beschwerde im Wesentlichen aus, die Durchführung der Zwangsräumung könne nicht dazu führen, dass die dringende Gefahr lebensbeendender Maßnahmen durch Selbsttötung drohe. Das Amtsgericht verkenne, dass die Hinzuziehung eines Arztes zur Räumung als solche nicht geeignet sei, um die Suizidgefahr und damit die Verwirklichung der Selbsttötung der Schuldnerin zu verhindern oder abzumildern. Die Hinzuziehung eines Arztes zur reinen Räumungshandlung betreffe lediglich den zeitlich sehr kurzen Abschnitt der Räumungsvollstreckung als solchen. Hierdurch werde aber nicht ausgeschlossen, dass sich die Suizidgefahr nach oder insbesondere vor der Räumung verwirkliche. Gerade der Zeitraum vor einem drohenden Räumungstermin sei durch den stetig ansteigenden Räumungsdruck und dem damit verbundenen Verlust der Wohnung und des seit 50 Jahren gewohnten Umfeldes geprägt. Die Gefahr der Selbsttötung könne daher lediglich durch die dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung verhindert werden.

Der Gläubiger beantragt Zurückweisung der Beschwerde. Er bestreitet die bestehende Suizidalität der Schuldnerin. Selbst bei bestehender konkreter Suizidgefahr sei es überdies der Schuldnerin zuzumuten, in einer betreuten Wohneinrichtung untergebracht zu werden. Notfalls sei die Räumungsvollstreckung als Überraschungsvollstreckung durchzuführen, um der Schuldnerin den psychischen Druck hinsichtlich des Verlustes der Wohnung vor der Durchführung der Zwangsvollstreckung zu nehmen. Ferner trägt der Gläubiger vor, er habe die Wohnung im Wege der Zwangsvollstreckung erworben, um sie wirtschaftlich zu verwerten. Gewinn sei nur zu erzielen, wenn er sie renoviere bzw. umfangreich saniere und im leeren Zustand weiterveräußern könne. Die Wohnung sei fremdfinanziert, mittlerweile anfallende Strafzinsen bei Banken in Österreich würden bei ihm zur wirtschaftlichen Existenzgefährdung führen. Diese wirtschaftliche bedrohliche Situation habe mittlerweile dazu geführt, dass er, der Gläubiger, selbst in Depression verfallen sei, die in regelmäßigen Abständen zur Arbeitsunfähigkeit führe. Zudem erhalte er vom Sozialamt für die Schuldnerin eine viel zu niedrige Miete bzw. Nutzungsentschädigung als auf dem freien Wohnungsmietmarkt bei Vermietung der streitgegenständlichen Wohnung zu erzielen sei.

Der Einzelrichter der Kammer hat mit Beschluss vom 11.02.2019 das Verfahren gem. § 568 ZPO auf das Beschwerdegericht übertragen. Die Sachverständige Dr. S wurde zudem von der Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019 ergänzend angehört. Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019 Bezug genommen.

II.

Die nach §§ 793, 567 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Schuldnerin erweist sich als begründet. Aufgrund der dauerhaften, nicht anders abwendbaren und auch nicht behandelbaren Selbsttötungsgefahr der Schuldnerin war das Vollstreckungsverfahren im hier vorliegenden Einzelfall ausnahmsweise unter Würdigung aller Umstände auf unbestimmte Zeit einzustellen.

1) Das Vollstreckungsgericht kann wegen ganz besonderer Umstände Maßnahmen nach § 765a ZPO treffen, wenn die konkrete Zwangsvollstreckungsmaßnahme (hier die drohende Zwangsräumung) für den Schuldner eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Anzuwenden ist § 765a ZPO nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, nämlich nur dann, wenn im Einzelfall die drohende Vollstreckungsmaßnahme und das Vorgehen des Gläubigers zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde (vgl. Zöller/Seibel § 765 ZPO Rn. 5). Mit Härten, die jede Zwangsvollstreckung mit sich bringt, muss der Schuldner sich grundsätzlich abfinden. Für die Anwendung des § 765a ZPO genügen daher weder allgemeine wirtschaftliche Erwägungen noch soziale Gesichtspunkte. Dies gilt grundsätzlich auch bei einem drohenden Verlust der Wohnung. Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO kann nur gewährt werden, wenn die vorzunehmende Abwägung eindeutig zu Gunsten des Schuldners ausfällt (vgl. Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765a ZPO Rn. 12).

Die Zwangsvollstreckung muss für den Schuldner hierbei unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers eine sittenwidrige Härte darstellen. In Zweifelsfällen gebührt den Interessen des Gläubigers stets der Vorrang. Denn der Gläubiger hat gem. Artikel 19 Abs. 4 GG einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz (BGH NZM 2010, 836, 837). Ihm dürfen nicht die Aufgaben überbürdet werden, die aufgrund des Sozialstaatsprinzips dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen. Vielmehr ist es Aufgabe des Staates, das Eigentumsrecht des Gläubigers zu wahren, titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen (BGH NZM 2010, 836, 837). Hieraus folgt, dass nicht jede Vollstreckungsmaßnahme, die für den Schuldner eine unbillige Härte bedeutet, die Anwendung von Vollstreckungsschutzmaßnahmen nach § 765a ZPO rechtfertigt. Die Vollstreckung macht vielmehr erst an der Grenze der Sittenwidrigkeit Halt (HK-ZV-Bendtsen § 765a ZPO Rn. 35).

2) Eine vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO wegen einer sittenwidrigen Härte kommt indes grundsätzlich in Betracht, wenn der Schuldner oder einer seiner mit ihm wohnenden Angehörigen für den Fall der Räumung mit Selbstmord droht (ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt BVerfG NJW 2016, 3090; BGH NJW-RR 2017, 695). Denn das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet auch die Vollstreckungsgerichte, bei der Auslegung und Anwendung der vollstreckungsrechtlichen Verfahrensvorschrift den Wertentscheidungen des Grundgesetzes Rechnung zu tragen und die einem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG konkret zu besorgen ist und eine an dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung zwischen den widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen der an der Vollstreckung Beteiligten zu einem Vorrang der Belange des Schuldners führt (BVerfG NJW 2013, 290). Die Vollstreckungsgerichte haben im Rahmen von Anträgen nach § 765a ZPO bei ihrer Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und dadurch der sich aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird (BVerfG NJW-RR 2012, 393). Dies kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Räumungsvollstreckung für einen gewissen auch längeren Zeitraum (BVerfG NJW 2013, 290) oder in einem noch engeren Kreis von Ausnahmefällen auch auf Dauer einzustellen ist (BVerfG NJW 2016, 3090).

3) Vorliegend liegt aufgrund des erholten schriftlichen Sachverständigengutachtens von Frau Dr. S, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie der ergänzenden Anhörung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 13.02.2019 eine bestehende und nicht anders abwendbare Suizidgefahr der Schuldnerin vor, die ausnahmsweise unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles zu einer Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Dauer führt.

Nach dem vorliegenden psychiatrischen Sachverständigengutachten Dr. S leidet die Schuldnerin (u. a.) an folgenden somatischen und psychosomatischen Erkrankungen:

- Rezidivierende depressive Störung, derzeitig mittelgradig bis schwere depressive Episode (ICD-10: F 33.2) mit latenter Suizidalität

- Chronisches Schmerzsyndrom bei multiplem degenerativen Veränderungen des Skelettsystems

- Kognitive Defizite bei Altersinvolution des Gehirns (Differenzialdiagnose: Normaldruckhydrozephalus)

- Claudicatio spinalis bei lumbaler Spinalkanalstenose mit Versorgung durch Elektrostuhl

- Polyneuropathie

- Zustand nach zweimaliger TEP bei Coxarthrose beidseits

- Gonarthrose beidseits

- Herzinsuffizienz

- Arterielle Hypertonie.

Die Schuldnerin ist aufgrund der genannten Erkrankungen zu 70% schwerbehindert, in Pflegestufe 2 eingeordnet und auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Nach den mündlichen Ausführungen der Sachverständigen besteht zudem eine Störung des Sehnervs auf beiden Augen, wobei diese Augenerkrankung nicht mit herkömmlichen Hilfsmitteln korrigiert werden kann. Aufgrund der persönlichen Untersuchung durch die Sachverständige kann die Schuldnerin sich nur mit Mühe aus dem Rollstuhl erheben und nur wenige Schritte gehen.

In ihrem schriftlichen Gutachten kommt die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass aufgrund der bestehenden und aus ihrer Sicht nachgewiesenen Diagnose bei der Schuldnerin die akute Gefahr einer Suizidalität im Zusammenhang mit der Zwangsräumung vor dem Hintergrund der depressiven Symptomatik bestehe. Die akute Suizidalität der Schuldnerin sei hierbei auch nicht auf andere Ursachen zurückzuführen, bei der Schuldnerin bestehe vielmehr seit der Kindheit eine depressive Erkrankung, die in Belastungssituationen zu einer Verschlechterung führe und bereits 1975 zu einem Suizidversuch geführt habe. Aus Sicht der Gutachterin sei daher ernsthaft mit einem erneuten Suizidversuch bei einer Zwangsräumung zu rechnen. Der Gefahr der Selbsttötung könne nicht durch die Räumung begleitende Maßnahmen begegnet werden, so die Sachverständige, da es sich bei dem Wohnungsverlust um einen bleibenden Belastungsfaktor handele, der zu einer anhaltenden Suizidgefahr führe. Die Kammer schließt sich den Ausführungen der Sachverständigen, einer aus einer Vielzahl von Gutachten der Kammer persönlich bekannten Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie des gerichtsärztlichen Dienstes beim Oberlandesgericht München, in vollem Umfange an. Wie die Sachverständige in ihrer mündlichen Anhörung ergänzend ausgeführt hat, bestehen bei der Schuldnerin aufgrund ihres Alters und des diagnostizierten Normaldruckhydrozephalus zunehmend auftretende kognitive Defizite (Abbau des Gehirns aufgrund des Alters), wodurch die Fähigkeit der Schuldnerin zur Einsicht in die Krankheit und in eine stationäre Behandlung weiter abnehme. Die Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass im Zusammenspiel zwischen der bestehenden depressiven Symptomatik und der mit dem Alter zunehmenden kognitiven Defizite weder eine ambulante noch eine stationäre Behandlung Aussicht auf Erfolg biete und auch in Zukunft nicht mehr zu erwarten sei. Die Schuldnerin sei seit 40 Jahren durchgehend in ambulanter Behandlung und nehme auch ihr verordnete Psychopharmaka regelmäßig ein, ohne dass eine Verbesserung des Zustandes eingetreten sei. Eine stationäre Behandlung der Schuldnerin sei aufgrund der festgestellten kognitiven Defizite und der Dauer der Verfestigung der Depression nicht erfolgversprechend, die Suizidgefahr könne lediglich während der Dauer der stationären Behandlung eingedämmt werden. Im Falle einer Entlassung der Schuldnerin aus der stationären Behandlung sei aber dann im Zusammenhang mit dem eingetretenen Verlust der Wohnung erneut mit einer konkreten Suizidalität zu rechnen. Wie die Sachverständige im Rahmen ihrer mündlichen Anhörung weiter ausgeführt hat, schätzt sie aufgrund der von ihr durchgeführten Exploration die Gefahr eines Suizids weiterhin als sehr hoch ein. Es liege eine chronifizierte Depression und eine eingeschränkte kognitive Situation vor, die die Einsichtsfähigkeit der Schuldnerin im Hinblick auf die Aussichtslosigkeit ihrer Lage beim Verlust ihrer Wohnung weiter eskalieren lasse.

Damit ist aufgrund des erholten Sachverständigengutachtens und der ergänzenden Anhörung der Sachverständigen Dr. S die konkrete Gefahr einer Selbsttötung für den Fall einer drohenden Zwangsräumung erwiesen, die Kammer schließt sich den Feststellungen der Sachverständigen in vollem Umfange an. Die Kammer ist verpflichtet, die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände muss im vorliegenden Fall zu einer Einstellung der Vollstreckung führen.

4) Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles war die Zwangsvollstreckung auch auf unbestimmte Zeit einzustellen, da keinerlei Aussicht auf Abwendbarkeit der Suizidalität besteht (vgl. BVG NJW 2016, 3090) und der Gefahr der Selbsttötung auch nicht auf andere Art und Weise begegnet werden kann (vgl. BGH NJW-RR 2017, 695, 696):

a) Nach dem erholten Sachverständigengutachten besteht keinerlei Behandlungsmöglichkeit der Schuldnerin. Die Schuldnerin befindet sich seit 40 Jahren in ambulanter Therapie, wobei die depressive Symptomatik nach den Äußerungen der Sachverständigen auch mehrfach im Rahmen von durchgeführten Reha-Maßnahmen therapiert wurden, ohne dass eine Verbesserung der chronifizierten depressiven Symptomatik eingetreten ist. Aufgrund der nunmehr hinzukommenden altersbedingten Einschränkung ihrer kognitiven Fähigkeit ist die schwere depressive Episode mit Suizidalität weder ambulant noch stationär behandelbar. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen machen daher etwaige Auflagen dahingehend, dass er alles ihm zumutbare unternehme, um Gefahren für Leib und Gesundheit möglichst auszuschließen, keinen Sinn mehr. Zwar ist der Schuldner grundsätzlich gehalten, an Maßnahmen zur Verringerung seines Krankheitsrisikos mitzuwirken (BVerfG NZM 2004, 153), eine Mitwirkungspflicht, insbesondere eine Bereitschaft hinsichtlich einer freiwilligen stationären Unterbringung, besteht aber dann nicht, wenn diese - wie vorliegend - ohne Aussicht auf Erfolg ist und der Gefahr der Selbsttötung nur durch eine außer Verhältnis stehende jahrelange Unterbringung ohne erkennbaren therapeutischen Nutzen begegnet werden kann (BGH NJW-RR 2016, 336 Rn. 8; BGH NJW-RR 2017, 695 unter Rn. 8).

b) Auch eine begleitende Räumung unter Mitwirkung oder Beiziehung eines Arztes oder eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie würde nach den überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen das Suizidrisiko nicht eindämmen. Die Sachverständige hat hierzu im Rahmen ihrer Anhörung ausgeführt, dass die Beiziehung eines Arztes oder Facharztes nur dazu führen würde, dass sich die Schuldnerin in diesem Zeitpunkt nicht umbringen kann. Weder wäre dadurch das Suizidrisiko vor der drohenden Zwangsräumung noch das Suizidrisiko im Anschluss an die durchgeführte Räumung reduziert. Bereits in ihrem schriftlichen Gutachten hat die Sachverständige überzeugend ausgeführt, dass der Gefahr der Selbsttötung nicht durch die Räumung begleitende Maßnahmen begegnet werden kann, da es sich bei dem Wohnungsverlust um einen bleibenden Belastungsfaktor handelt, der zu einer anhaltenden Suizidgefahr führt.

c) Auch eine etwaige andere Wohnform (Betreutes Wohnen) kann der Schuldnerin nach den Äußerungen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2019 nicht zugemutet werden und führt ebenfalls nicht zu einer Verringerung der Suizidgefahr. Gerade die Erhaltung des bisherigen Wohnumfelds sei für derart somatisch und psychosomatisch kranke Menschen wie die Schuldnerin sehr wichtig, so dass der Verlust der Wohnung mit vorhandener Suizidalität in gleichem Maße bleibe, wenn die Schuldnerin einen erzwungenen Umzug in ein Pflegewohnheim oder eine betreute Wohneinrichtung über sich ergehen lassen müsse. Auch die Unterbringung in einem Pflegeheim, so die Sachverständige, würde bei der Schuldnerin mit Sicherheit zu einer deutlichen Verschlechterung der depressiven Symptomatik führen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die im Einzelfall vorzunehmende Würdigung in besonders gelagerten Einzelfällen (enger Kreis von Ausnahmefällen) zu einer Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit führen (BVerfG NJW 2016, 3090 unter Rn. 11 und 17). Ein solcher absoluter Ausnahmefall ist vorliegend unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles gegeben. Die fast 78-jährige, auf einen Elektrorollstuhl angewiesene Schuldnerin leidet schon an einer derartigen Vielzahl an somatischen Erkrankungen, so dass auch ohne die vorhandene depressive Symptomatik eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a Abs. 1 ZPO jedenfalls für einen befristeten Zeitraum in Betracht gekommen wäre. Hinzu kommt die von der Sachverständigen bestätigte chronifizierte depressive Symptomatik, die im Falle einer drohenden Zwangsräumung mit hoher Wahrscheinlichkeit zur konkreten Gefahr eines Selbsttötungsversuches bei der Schuldnerin führen würde. Nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen ist eine Besserung der suizidalen Situation aufgrund des Alters der Schuldnerin aber auch der zunehmend auftretenden kognitiven Beeinträchtigung nicht mehr gegeben. Weder bestehen ambulante noch stationäre Behandlungsmöglichkeiten. Die bei der Schuldnerin bestehende Suizidgefahr kann daher nicht anders als durch eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit abgewendet werden.

5) Eine dauerhafte Einstellung der Zwangsvollstreckung ist auch unter Berücksichtigung der Interessen des Gläubigers im vorliegenden Fall geboten. Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass der Gläubiger gem. Art. 19 Abs. 4 GG einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz hat und ihm kein Sonderopfer dergestalt überbürdet werden kann, das eigentlich dem Sozialstaatsprinzip und damit der Allgemeinheit obliegt. Gleichwohl kann auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Gläubigers zu seiner eigenen Depression und Zeiten zunehmend bestehender Arbeitsunfähigkeit zu keiner anderen Entscheidung führen. Die Kammer hat hierbei zu Gunsten des Gläubigers als zutreffend unterstellt, dass er aufgrund der existentiell bedrohenden wirtschaftlichen Situation im Hinblick auf die Finanzierung der streitgegenständlichen Wohnung selbst depressiv wurde und mit Selbstmordgedanken spielt. Denn selbst wenn man zu seinen Gunsten einen erheblichen Belastungsdruck durch die existentiell bedrohende Situation unterstellt, hat es der Gläubiger - im Gegensatz zu der Schuldnerin - letztlich selbst in der Hand, die Ursache hierfür zu beseitigen.

Die Suizidgefahr der Schuldnerin kann - nach den obigen Ausführungen - nicht anders abgewendet werden, als durch ihren Verbleib in der Wohnung. Der Gläubiger indes hat die streitgegenständliche Wohnung nicht zum Zwecke des Eigenbedarfs, sondern deshalb erworben, um sie zu sanieren und möglichst gewinnbringend wieder zu veräußern. Die Veräußerung der Wohnung ist ihm aber grundsätzlich auch im unsanierten Zustand mit der Schuldnerin als Nutzerin möglich. Es mag sein, dass der Gläubiger den von ihm ursprünglich beabsichtigten Gewinn nicht realisieren kann, wenn er gezwungen ist, die streitgegenständliche Wohnung im unrenovierten Zustand und mit der Schuldnerin als Besitzerin wieder zu veräußern, eine Abwägung zwischen der Gewinnmaximierung des Gläubigers und dem Grundrecht auf Leben der Schuldnerin führt jedoch eindeutig zu einem Vorrang der Interessen der Schuldnerin. Im Übrigen ist es gerichtsbekannt, dass aufgrund des großen Nachfrageüberhangs an Wohnungen in München zum Zwecke der Kapitalanlage derzeit jede Wohnung verkauft werden kann, ohne dass alleine aufgrund des Umstandes, dass sie unrenoviert ist und sich eine nicht räumungsfähige Person darin befindet, per se als unverkäuflich anzusehen ist.

Aber selbst wenn dem so wäre, muss der Gläubiger sich im Hinblick auf die Schuldnerin nicht mit der derzeit vom Job-Center bezahlten geringen Nutzungsentschädigung zufrieden geben. Da zwischen den Parteien kein Mietverhältnis besteht und auch zu keinem Zeitpunkt bestand, steht ihm als Eigentümer ein Anspruch auf Herausgabe der Gebrauchsvorteile der streitgegenständlichen Wohnung nach § 987 ff., 100 BGB zu. Diese erschöpfen sich regelmäßig nicht in den von den Sozialbehörden zu zahlenden Höchstsätzen, vielmehr hat der Gläubiger als Eigentümer gegen die Schuldnerin als rechtsgrundlose Besitzerin einen Anspruch auf Herausgabe der Gebrauchsvorteile in Höhe der bei einer Neuvermietung erzielbaren Marktmiete. Auch unter Würdigung dieser Umstände ist dem Gläubiger zuzumuten, die Schuldnerin hieraus in Anspruch zu nehmen. Auch erscheint nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass die Sozialbehörden im Hinblick auf die Vielzahl an somatischen und psychosomatischen Erkrankungen der Schuldnerin einen erhöhten Wohnbedarf anerkennen, darüber können grundsätzlich auch die Abkömmlinge der Schuldnerin in Anspruch genommen werden (§ 1601 BGB). Auch einer Modernisierung der Wohnung dürfte die Schuldnerin jedenfalls in entsprechender Anwendung von § 555d BGB zu dulden haben.

Nach alledem war auch unter voller Würdigung der Interessen des Gläubigers die Räumungsvollstreckung auf unbestimmte Dauer einzustellen. Entsprechend war der Beschluss des Amtsgerichts München auf die Beschwerde der Schuldnerin hin aufzuheben und die Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Dauer auszusprechen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 788 ZPO. Auch bei einer erfolgreichen Beschwerde der Schuldnerin sind die Kosten regelmäßig als Kosten der Zwangsvollstreckung anzusehen, die von der Schuldnerin zu tragen sind.

IV.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Kammer in Anwendung der §§ 47 Abs. 1, 3, 9 ZPO mit dem Gegenwert des Wertes der einjährigen Nutzung der streitgegenständlichen Wohnung geschätzt.

V.

Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen, § 574 ZPO. Die Voraussetzungen einer Einstellung der Zwangsvollstreckung wegen Suizidgefahr sind von der höchstrichterlichen und verfassungsrechtlichen Rechtsprechung geklärt. Es handelt sich ersichtlich um einen Einzelfall der Rechtsanwendung nach Erholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens und Anhörung der Sachverständigen im Termin.