Bayerischer VGH, Beschluss vom 23.07.2020 - 15 ZB 20.31430
Fundstelle
openJur 2020, 71338
  • Rkr:
Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.

Gründe

I.

Die Klägerinnen - georgische Staatsangehörige - wenden sich gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. Februar 2020, mit dem ihre Anträge auf Asylanerkennung abgelehnt, ihnen die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wurden, ferner festgestellt wurde, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und die Abschiebung nach Georgien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht wurde.

Im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren fragte das angerufene Verwaltungsgericht Bayreuth mit Schreiben vom 6. Mai 2020 bei den (vormaligen) Bevollmächtigten der Klägerinnen nach, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 101 Abs. 2 VwGO bestehe; im Übrigen werde eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Erwägung gezogen, wozu Gelegenheit zur Äußerung gegeben werde. Die (vormaligen) Bevollmächtigten der Klägerinnen baten mit Schriftsatz vom 4. Juni 2020 um Fristverlängerung zum weiteren Sachvortrag und erklärten, dass "Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren" bestehe; es werde um Absetzung des bereits für den 9. Juni 2020 anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung gebeten.

Nach einer Telefonnotiz des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin zu 1 am 8. Juni 2020 von einer deutschkundigen Person telefonisch mitteilen lassen, sie sei nicht mit der Absetzung des Termins der mündlichen Verhandlung einverstanden. An demselben Tag wurde dem Verwaltungsgericht ein Schreiben des ... ... e.V. (Abteilung Retten und Teilen) vorgelegt, indem in der Sache für die Klägerin zu 1 mitgeteilt wurde, dass das Vorgehen ihres Rechtsanwalts nicht abgesprochen gewesen sei. Sie - die Klägerin zu 1 - lasse hiermit einen "Eilantrag stellen, dass das Verfahren umgehend (...) wieder in den alten Stand gesetzt" werde. Eine gerichtliche Entscheidung ohne weiteres Gehör werde nachdrücklich abgelehnt.

Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2020 ergänzten die (vormaligen) Bevollmächtigten der Klägerinnen ihren Sachvortrag und baten das Gericht mit Blick auf die vorgebrachten Argumente, nunmehr doch die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung in Erwägung zu ziehen, um die Klägerin zu 1 über die tatsächlichen Vorgänge zu befragen und den Sachverhalt weiter aufzuklären.

Mit Urteil vom 10. Juni 2020 wies das Verwaltungsgericht Bayreuth - ohne mündliche Verhandlung - die von den Klägerinnen erhobene Klage mit den gestellten Anträgen, die Beklagte unter (teilweiser) Aufhebung des Bescheids vom 14. Februar 2020 zu verpflichten, ihnen den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, hilfsweise ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen sowie weiter hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, ab. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, das Gericht habe ohne mündliche Verhandlung entscheiden könne, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt hätten. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung sei mit Eingang der Verzichtserklärung am 4. Juni 2020 wirksam geworden, da zu diesem Zeitpunkt bereits die Verzichtserklärung der Beklagten durch ihre allgemeine Prozesserklärung dem Gericht vorgelegen habe. Die anwaltlich abgegebene Verzichtserklärung, die sich die Klägerinnen zurechnen lassen müssten, sei unanfechtbar und unwiderruflich. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht möglich. Es sei weder erforderlich noch geboten gewesen, von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchzuführen, da das Gericht den klägerischen Tatsachenvortrag als wahr unterstelle.

Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Klägerinnen ihr Rechtsschutzbegehren weiter. Durch die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sei ihnen das rechtliche Gehör versagt worden. Das Verwaltungsgericht habe die Erklärung ihrer (vormaligen) Bevollmächtigten vom 4. Juni 2020 fälschlich als Verzicht i.S. von § 101 Abs. 2 VwGO ausgelegt. Tatsächlich beinhalte die Erklärung nur ein Einverständnis mit einer schriftlichen Entscheidung durch Gerichtsbescheid. Selbst wenn es sich um eine Erklärung gem. § 101 Abs. 2 VwGO gehandelt hätte, sei der Verzicht auf mündliche Verhandlung durch das spätere Anwaltsschreiben vom 8. Juni 2020 noch vor Erlass des Urteils widerrufen worden. Zudem habe die Klägerin zu 1 am 8. Juni 2020 erklärt, mit der Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung nicht einverstanden zu sein. Jedenfalls sei die Verzichtserklärung der damaligen Bevollmächtigten vom 4. Juni 2020 durch den ... ... e.V. schriftlich widerrufen worden, zumal die vormaligen Prozessbevollmächtigten dem Verwaltungsgericht am 9. Juni 2020 die Mandatsbeendigung mitgeteilt hätten. Das Verwaltungsgericht hätte richtigerweise einen neuen Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmen müssen. Es sei nicht auszuschließen, dass das Gericht zu einem für sie - die Klägerinnen - günstigeren Ergebnis gekommen wäre, wenn es die Klägerin zu 1 in einer mündlichen Verhandlung zu ihrer Verfolgungsgeschichte angehört hätte.

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der ausschließlich von den Klägerinnen geltend gemachte Berufungszulassungsgrund einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V. mit Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.

Der grundrechtlich nach Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte und für das verwaltungsgerichtliche Verfahren in § 108 Abs. 2 VwGO näher ausgestaltete Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt von den Gerichten, das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Der Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung soll den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör sichern. Die Verfahrenswahl einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verletzt daher den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie im Prozessrecht - etwa weil die Voraussetzungen des § 101 Abs. 2 VwGO zu Unrecht angenommen worden sind - keine Stütze findet (BVerwG, B.v. 4.6.2014 - 5 B 11.14 - NVwZ-RR 2014, 740 = juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 14.2.2020 - 9 A 4367/19.A - juris Rn. 6 m.w.N.).

Gemessen hieran ist eine Gehörsverletzung der Klägerinnen nicht ersichtlich. Das Verwaltungsgericht durfte gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten wirksam auf die Durchführung einer solchen verzichtet haben.

a) Die Erklärung der (vormaligen) Bevollmächtigten der Klägerinnen im Schriftsatz vom 4. Juni 2020 ist nach den Umständen eindeutig als eine Einverständniserklärung gem. § 101 Abs. 2 VwGO und nicht als bloßes Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid aufzufassen. Zwar sind die Beteiligten vor Erlass eines Gerichtsbescheids zu hören, § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Auch kann ein Beteiligter durch einen rechtzeitigen Antrag gem. §§ 78 Abs. 7 AsylG, § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO im Nachhinein die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erzwingen. Die rechtliche Zulässigkeit des Erlasses eines Gerichtsbescheids hängt aber - anders als im Fall einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gem. § 101 Abs. 2 VwGO - nicht von einer vorherigen Zustimmung ab. Zudem hat das Verwaltungsgericht im Vorhinein unter dem 6. Mai 2020 bei den (vormaligen) Bevollmächtigten der Antragsteller ausdrücklich nachgefragt, ob Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 101 Abs. 2 VwGO besteht, und im Übrigen zur Entscheidungsmöglichkeit durch Gerichtsbescheid (lediglich) Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Schon vor diesem Hintergrund kann die anwaltliche Erklärung, mit "einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren" einverstanden zu sein, nur als Einverständniserklärung i.S. von § 101 Abs. 2 VwGO verstanden werden. Hinzukommt, dass sich die Antragsbegründung mit der Darstellung im Tatbestand des angegriffenen Urteils, wonach der (vormalige) Bevollmächtigte der Klägerinnen am 4. Juni 2020 - vor Eingang der schriftsätzlichen Verzichtserklärung - dem befassten Einzelrichter telefonisch angekündigt habe, dass "evtl. noch kurzfristig das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt werden könnte", nicht substantiiert auseinandersetzt.

b) Den Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Vorliegen einer Verzichtserklärung der Beklagten durch allgemeine Prozesserklärung ist die Klägerseite in der Antragsbegründung nicht entgegengetreten.

c) Mit Eingang der letzten erforderlichen Einverständniserklärung eines Beteiligten hinsichtlich einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - hier der Klägerinnen - werden Erklärungen gem. § 101 Abs. 2 VwGO prozessual wirksam. Der danach erfolgte Widerruf geht ins Leere. Der Verzicht auf eine mündliche Verhandlung ist eine grundsätzlich unwiderrufliche Prozesshandlung (BVerwG, B.v. 13.12.2013 - 6 BN 3.13 - Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 38 = juris Rn. 8 ff.; B.v. 4.6.2014 - 5 B 11.14 - NVwZ-RR 2014, 740 = juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 21.1.2013 - 8 ZB 11.2030 - juris Rn. 28; B.v. 21.9.2017 - 4 ZB 17.31091 - juris Rn. 2; NdsOVG, B.v. 11.5.2020 - 4 LA 163/18 - juris Rn. 4; OVG NW, B.v. 14.2.2020 - 9 A 4367/19.A - juris Rn. 13). Soweit § 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO über § 173 Satz 1 VwGO entsprechend anwendbar sein sollte (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.2013 a.a.O.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 101 Rn. 7; a.A. NdsOVG, B.v. 11.5.2020 a.a.O. juris Rn. 4, wonach § 101 Abs. 2 VwGO eine eigenständige und abschließende Regelung für den Verwaltungsgerichtsprozess darstellen soll), vermag auch dies vorliegend keinen Gehörsverstoß wegen Missachtung des § 101 Abs. 2 VwGO zu begründen. Denn die Klägerinnen haben sich weder gegenüber dem Verwaltungsgericht noch im Berufungszulassungsverfahren auf eine wesentliche Änderung der Prozesslage berufen (vgl. hierzu Schübel-Pfister a.a.O.). Anhaltspunkte für einen Verbrauch des Verzichts auf mündliche Verhandlung aufgrund einer zwischenzeitlich (d.h. vor Urteilserlass) erfolgten anderweitigen Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, B.v. 4.6.2014 a.a.O.; NdsOVG, B.v. 11.5.2020 a.a.O. juris Rn. 5; Schübel-Pfister a.a.O. Rn. 9), sind weder ersichtlich noch vorgetragen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).