VG Gießen, Beschluss vom 05.04.2012 - 4 L 745/12.GI
Fundstelle
openJur 2020, 70974
  • Rkr:

1. Die - politische - Forderung nach der Novellierung eines Normbefehls (hier: des § 8 Abs. 1 Nr. 3 des Hessischen Feiertagsgesetzes) legitimiert nicht dessen Verletzung.

2. Zur Frage, welche Art von Versammlung dem ernsten Charakter des Karfreitags widerspricht.

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.

Der Streitwert wird auf 5 000 Euro festgesetzt.

Gründe

Randnummer1I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Untersagung der für Karfreitag, den 6. April 2012, angemeldeten Kundgebung "Gegen das Tanzverbot an den Osterfeiertagen".

Randnummer2Am 16. März 2012 meldete der Antragsteller bei der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen eine Demonstration für den 6. April 2012, 18.30 Uhr bis 20.00 Uhr, auf dem Kirchenplatz in Gießen an, die unter dem Motto "Gegen das Tanzverbot an den Osterfeiertagen" stehen sollte, in den Medien aber auch unter den Mottos "Tanzen gegen das Tanz-Verbot", "Kommet und tanzet zuhauf" und "Kommt tanzend vorbei" angeführt wurde. Am 29. März 2012 fand ein Kooperationsgespräch statt, bei dem außer dem Kirchenplatz - auf dem sich außer einem Kirchturm nur noch die Silhouette einer im zweiten Weltkrieg zerstörten Kirche findet - noch der Berliner Platz vor dem Rathaus sowie die Fußgängerüberführung Seltersweg als Veranstaltungsort in Erwägung gezogen wurden. Nach internen Abstimmung(sschwierigkeit)en zwischen der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen als örtlicher Ordnungsbehörde und dem Regierungspräsidium Gießen als Bezirksordnungsbehörde übte das Regierungspräsidium Gießen sein Selbsteintrittsrecht aus und untersagte durch Verbotsverfügung vom 3. April 2012 die angemeldete Kundgebung ebenso wie Ersatzveranstaltungen an anderen Orten in Gießen unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall der Zuwiderhandlung (Blatt 5 bis 13 d. A.).

Randnummer3Am 4. April 2012 hat der Antragsteller um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht und vorsorglich am selben Tag beim Regierungspräsidium Gießen Widerspruch eingelegt.

Randnummer4Das Regierungspräsidium Gießen verteidigt seine Verbotsverfügung.

Randnummer5II.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes muss erfolglos bleiben [A.], so dass die Kosten des Verfahrens dem Antragsteller zur Last fallen [B.] und wobei der Streitwert auf den gesetzlichen Auffangstreitwert festzusetzen ist [C.].

Randnummer6A.

Der Antrag, die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung des Regierungspräsidiums Gießen vom 3. April 2012 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auszusetzen, ist zulässig [1.], aber unbegründet [2.].

Randnummer71. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob als Rechtsbehelf, der den Suspensiveffekt des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO herbeizuführen geeignet ist, dem Antragsteller allein die Anfechtungsklage zur Verfügung steht, oder ob im Hinblick auf den auslegungsfähigen Wortlaut des § 16a Abs. 2 Satz 1 des Hessischen Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (HessAGVwGO) in der Fassung vom 27. Oktober 1997 (GVBl. I S. 381), geändert durch Gesetz vom 17. Oktober 2005 (GVBl. I S. 674) - FFN 212-5 -, derzufolge es dann, wenn das Regierungspräsidium einen Verwaltungsakt erlassen hat, eines Vorverfahrens nicht "bedarf", i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO auch der kostengünstigere Widerspruch eröffnet ist, da von einer materiellen Erledigung der angegriffenen Verfügung während der Rechtsbehelfsfrist auszugehen ist und im Hinblick auf die Erfolglosigkeit des Begehrens offenbleiben kann, ob die aufschiebende Wirkung des eingelegten Widerspruchs oder die einer noch zu erhebenden Klage wiederherzustellen sei. Da die Anmeldung aufrechterhalten bleibt, kommt es nicht darauf an, ob der Antragsteller im Internet verbreitet hat, "die Demo am Karfreitag in Gießen (finde) nicht statt."

Randnummer82. Der Antrag erweist sich jedoch als unbegründet. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen, summarischen Betrachtung unter Ausrichtung an den - mangels anderer gesetzlicher Vorgaben hier entsprechend heranzuziehenden - Kriterien des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verbotsverfügung vom 3. April 2012. Das Regierungspräsidium Gießen war sachlich und örtlich zuständig [a.] und hat - bezogen auf das Begehren des Antragstellers - materiell zutreffend entschieden [b.]

Randnummer9a. Nach § 88 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung vom 14. Januar 2005 (GVBl. I S. 14) - FFN 310-63 - war das Regierungspräsidium Gießen als Bezirksordnungsbehörde im Sinne des § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HSOG ermächtigt, die Befugnisse der ihm unterstellten Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen als örtlicher Ordnungsbehörde im Sinne des § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 HSOG auszuüben und damit selbst eine Anordnung zu treffen. Das Versammlungswesen fällt nach § 1 Satz 1 Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung und zur Durchführung des Hessischen Freiwilligen-Polizeidienst-Gesetzes (HSOG-DVO) vom 12. Juni 2007 - FFN 310/105 - i.V.m. § 89 Abs. 1 Satz 1 HSOG in den Aufgabenbereich der allgemeinen Ordnungsbehörden. Auf Seite 3, zweiter und letzter Absatz, der angegriffenen Verfügung hat das Regierungspräsidium Gießen nachvollziehbar die Umstände dargelegt, die aus seiner Sicht den Selbsteintritt erforderten.

Randnummer10b. Der Ansicht des Regierungspräsidiums Gießen, der Normbefehl des § 8 Abs. 1 Nr. 3 des Hessischen Feiertagsgesetzes in der Fassung vom 29. Dezember 1971 (GVBl. I S. 343) - FFN 17-6 - stehe der geplanten Kundgebung entgegen, ist zu folgen. Danach sind am Karfreitag von 0.00 Uhr an öffentliche Veranstaltungen unter freiem Himmel sowie Aufzüge und Umzüge aller Art, wenn sie nicht den diesem Feiertag entsprechenden ernsten Charakter tragen, verboten. Diesem Verbot ist über die versammlungsrechtliche Ermächtigung des § 15 Abs. 1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789) - FNA 2180-4 -, das in Hessen nach Art. 125a Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) als Bundesrecht fortgilt, Geltung zu verschaffen, denn jede Veranstaltung - auch unter dem Privileg einer Versammlung -, die diesem ernsten Charakter des Karfreitags nicht Rechnung trüge, stellte sich ohne das Hinzutreten weiterer Umstände so als Störung der öffentlichen Sicherheit dar. Zwar handelt es sich bei der angemeldeten Kundgebung ohne Zweifel um eine Versammlung [(1)], doch ist sie - jedenfalls in der angemeldeten Form - nicht durchzuführen [(2)].

Randnummer11(1) Eine Kundgebung unter dem Motto "Gegen das Tanzverbot an den Osterfeiertagen" ist auch dann eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG, wenn sie als Ausdrucksmittel Tanzelemente zu integrieren beabsichtigt, da die Zusammenkunft auf die Teilnahme an der öffentlichen Meinungsbildung - und zwar hinsichtlich einer vom Antragsteller für geboten erachteten Novellierung des Hessischen Feiertagsgesetzes - gerichtet ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90, 2173/93, 433/96 -, BVerfGE 104, 92 <104>). Wegen dieser Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung geht sie damit über eine öffentliche Tanzveranstaltung im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Hessischen Feiertagsgesetzes hinaus, die mehr auf Tanzlustbarkeiten im Sinne von § 33b der Gewerbeordnung zielen dürfte, deren Abhaltung indes landesrechtlichen Bestimmungen vorbehalten bleibt.

Randnummer12(2) Diese Versammlung unterfällt indes dem Schrankenvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG, nach dem für Versammlungen unter freiem Himmel das Versammlungsrecht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden kann. In der angemeldeten Art und Weise verbleibt nur die Möglichkeit des Verbots [(a)], während Auflagen als milderes Mittel ausscheiden [(b)].

Randnummer13(a) Das Kundgabemittel des Tanzes als Ausdruck des Protests gegen den Normbefehl des § 8 des Hessischen Feiertagsgesetzes ist - jedenfalls in der beabsichtigten Form - mit dem gesetzlich normierten ernsten Charakter des Karfreitags nicht zu vereinbaren. Unerheblich ist dabei, dass der Antragsteller die Motive des Gesetzgebers, die insbesondere den Normbefehl des § 8 Abs. 1 Nr. 3 des Hessischen Feiertagsgesetzes tragen, offenbar nicht teilt. Denn zum einen folgt aus dem Grundrecht der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eine Schutzverpflichtung des Gesetzgebers, die durch den objektivrechtlichen Schutzauftrag für die Sonn- und Feiertage aus Art. 139 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (RGBl. S. 1383), der nach Art. 140 GG Bestandteil dieses Grundgesetzes ist, konkretisiert wird und demzufolge "der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage ... als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt" bleiben (siehe auch Bundesverfassungsgericht, Urteil des Ersten Senats vom 1. Dezember 2009 - 1 BvR 2857, 2858/07 -, BVerfGE 125, 39 <84 ff.>; Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21. Dezember 2009 - 6 B 35.09 -, juris, Abs.-Nr. 16), zum anderen legitimiert die - politische - Forderung nach der Novellierung eines Normbefehls nicht dessen Verletzung. Auch wenn dem Tanz gesellschaftlich verschiedene Funktionen zuzubilligen sind, überwiegt doch typischerweise eine ausgelassene, freudige Grundeinstellung und stellt der Antragsteller genau hierauf ab. Diese Grundeinstellung ist typischerweise mit dem ernsten Charakter des Karfreitags, an den der Normbefehl des § 8 Abs. 1 Nr. 3 des Hessischen Feiertagsgesetzes anknüpft, nicht in Einklang zu bringen.

Randnummer14(b) Möglichkeiten, durch geeignete Auflagen nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes das kommunikative Anliegen des Antragstellers mit der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit eines jedenfalls nicht unerheblichen Bevölkerungsanteils vor dem objektivrechtlich bestehenden staatlichen Schutzauftrag in praktische Konkordanz zu bringen, sind nicht erkennbar. Soweit eine Auflage des Inhalts, die Versammlung nicht am Karfreitag, dem 6. April 2012, sondern am Karsamstag, dem 7. April 2012, abzuhalten, in Erwägung zu ziehen ist (siehe Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. Januar 2001 - 1 BvQ 9/01 -, zu einer Versammlung an dem durch Proklamation des Bundespräsidenten vom 3. Januar 1996, BGBl. I S. 17, eingeführten Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus als einer Verwaltungs-, nicht Rechtsvorschrift), ist nichts dafür erkennbar, dass dies dem auf Protest gegen das Hessische Feiertagsgesetz durch dessen Zuwiderhandlung gerichteten Anliegen des Antragstellers entsprechen könnte. Auch andere Auflagen, durch die die vom Antragsteller beabsichtigte Kundgabe mit dem äußeren Erscheinungsbild des Karfreitags, wie es aus § 8 des Hessischen Feiertagsgesetzes folgt, in Einklang zu bringen sein könnte, sind nicht erkennbar: Der Normgeber will die Bevölkerung am Karfreitag nicht mit einer Kundgabe wie der vom Antragsteller beabsichtigten konfrontieren. Der Hinweis des Antragstellers darauf, dass in Fortführung der vom Regierungspräsidium Gießen vertretenen Ansicht eine "Christopher-Street-Demonstration" in einem konservativen Dorf nicht erlaubt sei, geht fehl, da insoweit mangels einer dem § 8 des Hessischen Feiertagsgesetzes entsprechenden konkreten Normierung auf die in § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes zwar auch angeführte "öffentliche Ordnung", mithin bloße Sozialnormen, abgestellt werden müsste, die freilich im Allgemeinen weder Verbote noch Auflösungen, sondern nur Auflagen zu rechtfertigen vermöchte (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschl. des Ersten Senats vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233, 341/81 -, BVerfGE 69, 315 <353>).

Randnummer15B.

Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen, weil er unterlegen ist.

Randnummer16C.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1, 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Dabei legt das Gericht wegen der faktischen Vorwegnahme einer Hauptsache den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5 000 Euro zugrunde.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte