VG Gießen, Beschluss vom 15.04.2011 - 2 L 5285/10.GI
Fundstelle
openJur 2020, 70930
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Beiträge

Tenor

1. Soweit der Antrag zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

2. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 29.09.2010 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.09.2010 (2. Vorausleistung) wird angeordnet.

Im Übrigen wird der Antrag als unzulässig abgelehnt.

3. Die Kosten des Verfahrens haben der Antragsteller zu 3/8 und die Antragstellerin zu 1/8 und die Antragsgegnerin zu 1/2 zu tragen.

4. Der Streitwert wird auf 56,13 € festgesetzt.

Gründe

Randnummer1I.

Die Antragstellerin und der Antragsteller wenden sich gegen die Heranziehung des Antragstellers zu einer 2. Vorausleistung auf den Abwasserbeitrag (Ergänzungsbeitrag) durch Bescheid vom 17.09.2010. Der Antragsteller ist (Mit-)Eigentümer des Grundstücks Flur _, Flurstück _ in der Gemarkung E-Stadt der Antragsgegnerin.

Randnummer2Die Antragsgegnerin hat im Jahr 2002 mit den Erneuerungs- und Erweiterungsmaßnahmen im Abwasserbereich begonnen.

Randnummer3Grundlage des Ergänzungsbeitrags sind Erneuerungs- und Erweiterungsmaßnahmen gemäß dem Bauprogramm der Antragsgegnerin. Dieses berücksichtigt die im Zeitraum 2002 bis 2009 in der Kernstadt C-Stadt und den Stadtteilen durchgeführten Baumaßnahmen.

Randnummer4Nach den vorgelegten Unterlagen der Antragsgegnerseite im Rahmen der durchgeführten Globalkalkulation im Jahre 2008 sowie eingeholter Auskünfte im Gerichtsverfahren handelt es sich bei den durchgeführten Maßnahmen um die Erneuerung von veralteten Leitungsbestandes durch Verwendung verbesserter Materialien als auch um erforderlich gewordene Höherdimensionierungen der Rohre. Weiterhin ergibt sich hieraus, dass das Kanalnetz der Stadt C-Stadt über eine Gesamtlänge von ca. 41 km verläuft, wobei im Rahmen der zugrundeliegenden Maßnahme ca. 6 km erneuert wurden und davon auf den Austausch der Leitung mit entsprechender Höherdimen-sionierung ca. 3,6 km entfallen.In § 10 Abs. 2b der Entwässerungssatzung der Antragsgegnerin vom 21.11.2008 (EWS) ist ein Ergänzungsbeitrag für die Erneuerungs- und Erweiterungsmaßnahmen gemäß dem Bauprogramm bis 2009 in Höhe von 0,81 € je Quadratmeter Maßstabs-fläche festgelegt. Gemäß Beitragsberechnung im Bescheid vom 17.09.2010 ergibt sich für das streitgegenständliche Grundstück ein Ergänzungsbeitrag in Höhe von 336,80 €, wovon die Antragsgegnerin vorliegend mit der 2. Vorausleistung 25 % in Höhe von 84,20 € geltend macht.

Randnummer5Die Antragstellerin und der Antragsteller legten mit anwaltlichem Schreiben vom 29.09.2010 Widerspruch ein und beantragten am 25.10.2010 gerichtlichen Eilrechtsschutz, nachdem der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung durch die Antragsgegnerin am 15.10.2010 abgelehnt worden war.

Randnummer6Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17.11.2010 hat die Antragstellerin den Eilantrag zurückgenommen.

Randnummer7Der Antragsteller trägt vor, die Antragsgegnerin habe erstmals mit Bescheiden vom 09.10.2009 die "Vorausleistung zur Abrechnung von Wasserbeiträgen" bzw. "zur Abrechnung von Abwasserbeiträgen" verlangt. Begründet habe sie die Forderungen mit "Kanalbaumaßnahmen, Erneuerungs- und Erweiterungsmaßnahmen im Bereich der Stadt C-Stadt". Er habe die angeforderten Beiträge vorsorglich bezahlt, gleichzeitig dagegen mit Anwaltsschreiben vom 28.10.2010 Widerspruch eingelegt und um Auskunft gebeten, um welche konkreten Maßnahmen in welchem Gebieten der Stadt es sich handele und welcher Kostenaufwand den Bescheiden zugrunde liege. Bis heute sei dieses Schreiben weder beantwortet noch eine Entscheidung über die Widersprüche ergangen. Stattdessen habe er die Bescheide vom 17.09.2010 bezüglich der zweiten Vorausleistung erhalten.

Randnummer8Der Antragsteller ist der Auffassung, die im angefochtenen Bescheid angeführte Kanalbaumaßnahme sei nicht beitragspflichtig. Seines Wissens betreffe die Baumaßnahme nicht die Entwässerung im Ortsteil E-Stadt. Die Gemeinde E-Stadt habe eine eigene Entwässerungsanlage, die vor ca. 19 Jahren erweitert und grundlegend erneuert worden sei, separat betrieben werde und keine Verbindung mit dem Wasser- und Kanalsystem in der Kernstadt C-Stadt oder mit anderen Stadtteilen aufweise. Die Entwässerung seines Grundstücks erfolge über die Entwässerungsleistung in der F-Straße bzw. dem G-Straße, die von den streitbefangenen Kanalarbeiten nicht betroffen seien.

Randnummer9Die damaligen Anliegerbeiträge seien von den Grundstückseigentümern in E-Stadt getragen worden.Auch hinsichtlich der Höhe sei der Bescheid fehlerhaft. Die Antragsgegnerin habe keine Auskunft erteilt, wo sie welche Arbeiten durchführen wolle oder durchgeführt habe und wie hoch die Kosten zu veranschlagen seien. Außerdem sei er nur Miteigentümer des herangezogenen Grundstücks.

Randnummer10Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17.09.2010 anzuordnen unddie Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 09.10.2009 über die Vorausleistung zur Abrechnung von Abwasserbeiträgen für das Grundstück Flur _, Flurstück _ in Höhe von 84,20 € aufzuheben.

Randnummer11Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Randnummer12Sie geht von der Rechtmäßigkeit ihres Bescheides aus. Die Antragsgegnerin betreibe sowohl im Wasser- als auch im Abwasserbereich eine öffentliche Einrichtung. Von daher sei die Solidargemeinschaft der Beitragspflichtigen auf diese Einrichtung zu beziehen. Die nunmehr streitgegenständliche Maßnahme beziehe sich nicht auf die öffentliche Einrichtung des Stadtteils E-Stadt, sondern auf die öffentliche Einrichtung der Stadt C-Stadt insgesamt. Eine technische Einrichtung für den Stadtteil E-Stadt sei nicht vorhanden. Die Bescheide seien auch der Höhe nach nicht fehlerhaft. Es handele sich bei den Beiträgen für leitungsgebundene Einrichtungen nicht um die Abrechnung von Kosten nach dem sogenannten Kostenerstattungsprinzip wie bei Straßen und Erschließungsbeiträgen. Vielmehr seien die Beitragssätze in der Satzung auf der Grundlage einer Globalberechnung festgesetzt worden. Die Bemessungsgrundlagen für die einzelnen Grundstücke ergebe sich daher aus der Beitragssatzung selbst. Die beitragsfähige Maßnahme sei auf eine Neuordnung der öffentlichen Einrichtung im gesamten Stadtgebiet gerichtet. Aufgrund dieser Neuordnung entstehe eine insgesamt bessere öffentliche Einrichtung.

Randnummer13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, das zur Gerichtsakte 2 L 5283/10.GI genommene Schreiben der Antragsgegnerin vom 16.12.2010 zur Erläuterung des Bauprogramms, sowie die beigezogenen Behördenvorgänge, die allesamt der Entscheidung zugrunde gelegt worden sind.

Randnummer14II.

Nachdem der Antrag von der Antragstellerin zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren insoweit in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Randnummer15Soweit der Antragsteller die Aufhebung der Vollziehung des Bescheides vom 09.10.2009 begehrt, ist der Antrag unzulässig. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO beinhaltet grundsätzlich auch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, denn die Aussetzung der Vollziehung setzt die aufschiebende Wirkung des Verwaltungsaktes, dessen Vollzugsfolgen rückgängig gemacht werden sollen, voraus. Vorliegend fehlt es jedoch am erforderlichen Antrag bei der Behörde gemäß § 80 Abs. 6 VwGO.

Randnummer16In der Sache führt der Antrag im Übrigen zum Erfolg.

Randnummer17Widerspruch und Anfechtungsklage haben grundsätzlich gem. § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, es sei denn, es liegt ein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vor. Eine solche Ausnahme ist vorliegend gegeben, da die Heranziehung zu Wasserbeiträgen eine Forderung von öffentlichen Abgaben im Sinne von § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO darstellt.

Randnummer18Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs anordnen, wobei mangels anderer gesetzlicher Entscheidungskriterien auf den in § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO enthaltenen Maßstab zurückgegriffen werden kann (vgl. dazu Hess.VGH, 15.02.1994 5 TH 1921/92, HessVGRspr 1994, 81 = ESVGH 44, 312 = HSGZ 1994, 356 = NVwZ-RR 1995, 235 ; VGH Baden-Württemberg, 08.01.1990 2 S 3193/89 ; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Auflage, § 80 Rdnr. 116 und 157). Danach soll bei öffentlichen Abgaben die Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Pflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte bewirken würde. Ernstliche Zweifel bestehen, wenn die Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides derart überwiegen, dass der Erfolg des Rechtsmittelführers in einem Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als sein Unterliegen, nicht bereits dann, wenn der Erfolg ebenso wahrscheinlich ist. Dem liegt die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass Abgaben im Zweifel zunächst zu erbringen sind und der Zahlungspflichtige das Risiko zu tragen hat, im Ergebnis möglicherweise zu Unrecht in Anspruch genommen worden zu sein (vgl. ThürOVG, 23.04.1998 4 EO 6/97, ThürVBl 1998, 184; VGH Baden-Württemberg, 18.08.1997 2 S 1518/97 ; Hess.VGH, 04.04.1997 - 12 TZ 1079/97, ESVGH 47, 190 = NVwZ 1998, 195 = EZAR 625 Nr. 1; OVG Münster, 17.03.1994 15 B 3022/93, NVwZ-RR 1994, 617; OVG Koblenz, 12.01.1994 12 B 10412/93, NVwZ 1996, 90).

Randnummer19Bei Anwendung dieser Grundsätze und der im Eilverfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Überprüfung des Sachstandes gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass die Heranziehung des Antragstellers zu einer Vorausleistung auf den Wasserbeitrag rechtswidrig ist, so dass im Klageverfahren ein Obsiegen wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen.

Randnummer20Die Heranziehung beruht auf § 11 Hess. KAG (Hessisches Kommunalabgabengesetz) und den §§ 10 und 20 der Entwässerungssatzung (im Folgenden: EWS) der Antragsgegnerin vom 21.11.2008.

Randnummer21Formelle oder materielle Bedenken gegen die Wirksamkeit der Entwässerungssatzung sieht das Gericht im Rahmen der summarischen Überprüfung nicht.

Randnummer22Auch weist die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass sie sowohl im Wasser- als auch im Abwasserbereich e i n e öffentliche Einrichtung betreibt (§ 1 WVS, § 1 EWS) und es deshalb nicht darauf ankommt, dass das Leitungsnetz im Bereich des klägerischen Grundstücks nicht unmittelbar betroffen ist. Die zulässige organisatorische Verklammerung mehrerer Systeme führt dazu, dass Bezugspunkt des den Grundstückseigentümern vermittelten Vorteils nicht - etwa nur - das einzelne System ist, mit dem das Grundstück in leitungsmäßiger Verbindung steht, sondern die Gesamtheit der organisatorisch verbundenen Systeme (vgl. Driehaus, KAG, § 8, Rn. 827 a).

Randnummer23Allerdings gelangt das Gericht im Rahmen des Eilverfahrens zu der Auffassung, dass es sich bei den der Kalkulation des Beitragssatzes zu Grunde liegenden Baumaßnahmen nicht um eine beitragsfähige Maßnahme im Sinne von § 11 Abs. 1 Hess. KAG handelt. Aufgrund der vorliegenden Unterlagen und Auskünfte der Antragsgegnerin ist vielmehr anzunehmen, dass es sich bei den durchgeführten Maßnahmen um Maßnahmen der laufenden Unterhaltung und Instandsetzung handelt, deren Kosten nicht über Beiträge, sondern nur über Benutzungsgebühren umgelegt werden können. Die Beitragsfähigkeit der Gesamtmaßnahme scheitert vorliegend daran, dass der Austausch des Leitungsnetzes lediglich ca. 15 % des vorhandenen Leitungsnetzes umfasst, wobei auf den Austausch durch Rohre mit einer Höherdimensionierung lediglich ca. 9 % entfallen und damit weit unter der hier maßgeblichen Grenze von 50 % liegt. Der VGH Kassel hat seine in den 1980er Jahren entwickelte Rechtsprechung (Urteil VGH vom 21.01.1987 - 5 UE 999/86, HSGZ 1988, 367), nach der der Anteil der erneuerten Leitungen über 50 % des vorhandenen Leitungsbestandes betreffen muss, um von einer beitragsfähigen Netzerneuerung auszugehen, in späteren Entscheidungen dahingehend präzisiert, dass sich dieses Kriterium auf den Fall der Auswechslung von Leitungen, die als solche abgenutzt sind oder einzeln eine zu geringe Dimensionierung aufweisen, beschränkt (Urteile des VGH Kassel vom 02.11.1995 - 5 UE 758/93, HSGZ 1996, 171; vom 04.05.1999 - 5 TG 170/98, HSGZ 1999, 296 f.; Driehaus a. a. O., § 8 Rdnr. 839 ff.). Nach diesen Kriterien bestehen hier erhebliche Bedenken an der grundsätzlichen Beitragsfähigkeit der abgerechneten Maßnahme, da es sich vorliegend allein um eine geringfügige Netzerneuerung handelt. Insbesondere ist auch nicht absehbar, dass das Bauprogramm insoweit fortgeschrieben wird, als in größerem Umfang ein weiterer Austausch am Leitungsnetz erfolgen wird. Vielmehr heißt es in der Tisch-Vorlage an die Stadtverordnetenversammlung zum Betr. ‚Neufassung der Entwässerungssatzung der Stadt C-Stadt: "Eine Fortschreibung des Bauprogramms wird dann eventuell nach der nächsten turnusmäßigen Kanaldurchfahrung gemäß EKVO erforderlich. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, dass die weiteren Maßnahmen im Rahmen von Unterhaltungsmaßnahmen im Rahmen mit der in 2006 vorgenommenen Gebührenanpassung (gültig ab 01. Januar 2007) abgedeckt werden können". In der Entscheidung des VGH Kassel vom 04.05.1999 (5 TG 170/98, a. a. 0.) ging es um die bauliche Anpassung des Abwassernetzes eines einzelnen Ortsteils an gestiegene hydraulische Anforderungen, die sich aus der den Anschluss an die gemeindliche Kläranlage vermittelnden Anbindung anderer Ortsteile an dieses Abwassernetz ergaben. Die baulichen Maßnahmen bestanden in einem Austausch von knapp 39 % der Leitungen, wobei unter anderem der durch den Ortsteil führende Hauptsammler höher dimensioniert wurde, ferner in der Erneuerung mehrerer Regenüberlaufbecken und der Errichtung eines weiteren Überlaufwerks.

Randnummer24Bezogen auf das gesamte Netz von ca. 41 km sind die hier relevanten Baumaßnahmen von ca. 3,6 km (Austausch mit Höherdimensionierung aufgrund hydraulischer Berechnung) nach Auffassung des Gerichts zu geringfügig, um als Verbesserung eingeschätzt werden zu können, zumal diese Höherdimensionierung laut fernmündlicher Auskunft der Antragsgegnerin vom 12.04.2011 nichts mit der Erschließung von Neubaugebieten zu tun hat.

Randnummer25Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 1, 2 VwGO und berücksichtigt das jeweilige Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten sowie die Antragsrücknahme der Antragstellerin.

Randnummer26Der Streitwert wurde gemäß § 52, 53 GKG festgesetzt und berücksichtigt durch die Drittelung der angefochtenen Beträge für die 1. und 2. Vorausleistung den Umstand, dass nur eine vorläufige Entscheidung begehrt wird.

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