VG Köln, Urteil vom 25.08.2020 - 14 K 1041/17.A
Fundstelle
openJur 2020, 69069
  • Rkr:

Ein erwachsener, alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der bereits vor seiner Ausreise in Afghanistan gearbeitet hat, kann vorbehaltlich etwaiger anderer Besonderheiten in der Person des Betroffenen auch unter Berücksichtigung der Einflüsse der Corona-Pandemie seine Existenz in Kabul sichern.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist nach eigenen Angaben im Jahr 1997 oder 1998 geboren, afghanischer Staatsangehöriger, tadschikischer Volkszugehörigkeit, muslimischsunnitischen Glaubens und stammt aus dem Dorf N. L. in der Provinz Kapisa. Er verließ sein Heimatland eigenen Angaben zufolge im Dezember 2015 und reiste im Januar 2016 auf dem Landweg über Griechenland in das Bundesgebiet ein, wo er vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag stellte.

In seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger im Wesentlichen an, die Taliban seien einen Tag vor der Ausreise der Familie zu seinem Vater gekommen und hätten ihm gesagt, dass seine Söhne nun alt genug wären, um auf Seiten der Taliban zu kämpfen und den Islam zu verteidigen. Zwei Onkel väterlicherseits seien bereits zuvor von den Taliban umgebracht worden. Wenn sein Vater nicht dazu bereit wäre, würden sie die gesamte Familie umbringen. Andere Familien im Dorf seien ebenfalls davon betroffen gewesen. Noch in der Nacht habe der Vater des Klägers entschieden, dass die Familie ausreisen solle. Die Taliban würden jemand überall in Afghanistan finden. Der Kläger gab auf weitere Fragen an, selbst nicht politisch aktiv gewesen zu sein. Auch habe weder er noch seine Familie zuvor Probleme mit den Taliban gehabt. Die Taliban seien aber dafür verantwortlich, dass er nicht mehr zur Schule habe gehen könne. Zu seinem persönlichen Hintergrund führte der Kläger aus, dass er als Träger in der Landwirtschaft sowie als Fliesenleger gearbeitet habe. Er habe auch seinem Vater, der Weizen angebaut habe, häufiger geholfen. Wo er Arbeit bekommen habe, habe er diese angenommen. Fest beschäftigt sei er nicht gewesen.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 11. Januar 2017 die Anträge des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Afghanistan an. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Der Kläger hat dagegen Klage erhoben, zu deren Begründung er auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren verweist und ergänzend vorträgt, dass seine Familie den Taliban schon lange als politischer Gegner bekannt sei. Denn sein Großvater habe für den Anführer des afghanischen Widerstands gegen die Taliban (Ahmad Schah Massoud) gearbeitet. Ferner erklärt er, dass sich die Familie gegenwärtig im Iran aufhalte; in Afghanistan habe er keine Verwandten mehr. Hinsichtlich § 4 AsylG verweist er darauf, dass die erforderliche Gefahrendichte erreicht sei.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 11. Januar 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise, die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheids zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt,

weiter hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 6 des Bescheids vom 11. Januar 2017 zu verpflichten, über die Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf die Begründung des angegriffenen Bescheids.

Der Kläger ist in einer mündlichen Verhandlung am 10. Oktober 2018 von der damals zuständigen Einzelrichterin informatorisch angehört worden. Dabei gab der Kläger u. a. an, sein (Groß-)Vater sei Kommandant der Mujaheddin gewesen. Mit Beschluss vom 14. Juli 2020 ist das Verfahren auf die Kammer rückübertragen worden. Diese hat den Kläger in der Sitzung vom 25. August 2020 ebenfalls angehört. Auf Frage, ob zwischen seiner Geburt und der angeblichen Zwangsrekrutierung etwas Besonders passiert sei, gab er an, dies nicht zu verstehen und bereits alles gesagt zu haben.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung mehrere Beweisanträge gestellt, die von der Kammer durch begründete Beschlüsse abgelehnt wurden. Wegen der Einzelheiten wird auf die darüber geführte Niederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht kann trotz des Ausbleibens der Beklagten auf Grund der mündlichen Verhandlung entscheiden. Die Beklagte wurde fristgemäß geladen und darauf hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf eine Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (1.) oder festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (2.). Die Androhung der Abschiebung und die Regelung zu § 11 AufenthG sind rechtlich nicht zu beanstanden (3.). Der angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1, 5 Satz 1 VwGO.

1. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG oder subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG zu. Denn ihm steht jedenfalls in Kabul interner Schutz nach (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m.) § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Darauf, ob ihm flüchtlingsrelevante Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden in seiner Herkunftsregion drohen, kommt es deshalb nicht an. Entsprechend war den in diesem Zusammenhang gestellten Beweisanträge zu 1), 3), 4) und 6) nicht nachzugehen (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO in entsprechender Anwendung), da sie eine Vorverfolgung in der Heimatregion des Klägers belegen sollten, auf die es ausweislich des Folgenden nicht ankommt.

Nach (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m.) § 3e Abs. 1 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiärer Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 AsylG) hat bzw. ihm dort kein ernsthafter Schaden (§ 4 Abs. 1 AsylG) droht oder er Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden nach (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m.) § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Begründete Furcht vor Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG besteht, wenn dem Ausländer eine Verfolgungshandlung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner politischen Überzeugung oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Juli 2019 - 1 C 37.18 -, juris, Rn. 13 f., und vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, juris, Rn. 19, 32.

Als ernsthafter Schaden gelten die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

a) Dem Kläger droht in Kabul keine Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG. Selbst wenn die Taliban vor der Ausreise versucht haben sollten, den Kläger in seinem Heimatdorf zu rekrutieren, und dies eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründen würde, hätte der Kläger dies nach seiner Rückkehr zumindest in Kabul nicht (erneut) zu befürchten. Denn es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, sondern vielmehr ausgeschlossen, dass die Taliban willens oder in der Lage sind, jede Person, die nur die "Mitarbeit" verweigert hat, ohne in anderer Form exponiert hervorgetreten zu sein, in Kabul gezielt aufzuspüren und zu verfolgen. Dass die Taliban den Kläger zufällig in Kabul finden würden, ist ebenfalls nicht anzunehmen.

Zwar liegen Berichte darüber vor, dass die Taliban über ein Netzwerk von Informanten verfügt, um Personen auch in Städten aufspüren zu können. Jedoch ist es schwierig, Menschen in größeren Städten zu verfolgen und aufzuspüren, weshalb die dafür vorhandenen Ressourcen grundsätzlich für Menschen verwendet werden, an denen die Taliban ein gesteigertes Interesse haben. Aus diesem Grund beschränkt sich die Liste der Personen, in die die Taliban ihre Ressourcen investieren, um sie in den großen Städten zu verfolgen, landesweit auf nicht mehr als hundert Personen. Bei Personen mit geringerem Profil ist davon auszugehen, dass die Taliban sie oder ihre Familienmitglieder nach ihrer Übersiedlung in die Städte wahrscheinlich nicht ins Visier nehmen werden, es sei denn, es bestehen persönliche Feindschaften, Rivalitäten oder Streitigkeiten. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Taliban das Interesse und die Ressourcen hätten, um auch nicht in besonderem Maße hervorgetretene Gegner an anderen Orten innerhalb Afghanistans aufzuspüren, gibt es nicht. Die Beurteilung, ob eine Fluchtalternative besteht, hängt insoweit maßgeblich davon ab, in welchem Ausmaß ein Betroffener vorverfolgt ist und wie sehr er ins Visier seiner Verfolger gelangt ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2019 - 13 A 2600/18.A -, juris Rn. 13 f.; OVG Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 - 1 LB 56/20 -, juris, Rn. 54; VG Köln, Urteil vom 23. Mai 2018 - 14 K 910/17.A - sowie Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juni 2020, S. 18; EASO, Afghanistan, Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Dezember 2017, S. 69 ff.

Der Kläger hat sich zwar durch seine Flucht dem angeblichen Zwangsrekrutierungsversuch - von dem auch andere Personen im Dorf des Klägers betroffen gewesen sein sollen - entzogen. Hierdurch hat er sich aber nicht derart exponiert, dass noch fünf Jahre später von einem gesteigerten Interesse der Taliban gerade an seiner Person auszugehen ist. Der Kläger hat nach seinen Angaben die Taliban nicht bekämpft und ist auch nicht in anderer Form besonders auffällig geworden. Er war bei seiner Flucht noch minderjährig und nach eigenem Bekunden nicht politisch aktiv.

Ein besonderes Verfolgungsinteresse der Taliban an dem Kläger folgt auch nicht aus einer behaupteten politischen Feindschaft seiner Familie mit den Taliban. Das Gericht geht nicht davon aus, dass eine solche bestanden hat. Der diesbezügliche Vortrag des Klägers ist unglaubhaft, weil er seinen Vortrag im Gerichtsverfahren gesteigert hat.

An der Glaubhaftigkeit eines Verfolgungsschicksals fehlt es in aller Regel, wenn der Asylsuchende sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens erheblich steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Mai 1996 - 9 B 273.96 -, juris, Rn. 2; Hess.VGH, Urteil vom 25. September 2019 - 8 A 638/17.A -, juris, Rn. 39.

So liegt der Fall hier. Vor dem Bundesamt führte der Kläger auf Nachfrage, ob er oder seine Familie bereits einmal Probleme mit den Taliban gehabt hätten, nur aus, dass die Taliban verantwortlich dafür gewesen seien, dass er nicht mehr zu Schule habe gehen können. Erst nachdem das Bundesamt seinen Asylantrag abgelehnt hatte und zur Begründung auf die Möglichkeit verwies, in einem anderen Landesteil Zuflucht nehmen zu können, berichtete er erstmals im Gerichtsverfahren näher von einer angeblich lange bestehenden politischen Feindschaft der Familie mit den Taliban, ohne aber vernünftig zu erklären, warum er hiervon trotz der ausdrücklichen Frage des Bundesamtes nach früheren Problemen mit den Taliban nicht berichtet hatte.

Die allein angeführte vermeintlich herausgehobene Stellung des Großvaters liegt überdies mehr als 20 Jahre zurück. Inwieweit diese im Zusammenhang zum angeblichen Tod zweier Onkel steht, hat der Kläger ebenso wenig erläutert wie die Frage, warum die Familie noch nahezu eine Generation lang in Afghanistan leben konnte, ohne dass sich nach den eigenen Angaben des Klägers irgendein nennenswerter Vorfall ereignet hätte. Es ist zudem unschlüssig, dass die Taliban angeblich eine lange Feindschaft mit der Familie hegten, dann aber gerade den Kläger rekrutieren wollten. Selbst wenn eine Feindschaft mit der Familie also bestanden haben sollte, bezog diese sich zumindest ganz offenbar nicht auf den Kläger.

Den in diesem Zusammenhang gestellten Beweisantrag zu 2) konnte die Kammer jedenfalls als unzulässigen Ausforschungsbeweis (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO in entsprechender Anwendung) ablehnen. Dies ist immer dann möglich, wenn nur Tatsachenbehauptungen vorgebracht werden, für deren Wahrheitsgehalt nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, die mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich "aus der Luft gegriffen", "ins Blaue hinein", also "erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage" erhoben worden sind.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Juni 2017 - 6 B 54.16 -, juris, Rn. 7, juris; OVG NRW, Beschluss vom 15. Januar 2018 - 13 A 3157/17.A -, juris, Rn. 16.

So liegt der Fall hier, weil der Vortrag des Klägers aus den vorstehend genannten Gründen unglaubhaft ist und auch nicht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für den Wahrheitsgehalt besteht. Ob der Beweisantrag auch deshalb abgelehnt werden konnte, weil der als Zeuge benannte Vater des Klägers, der sich im Iran aufhalten soll, für die Kammer nicht zuverlässig erreichbar ist, kann demnach dahinstehen.

b) Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG wegen einer Straftat gesucht wird und bei der Niederlassung in Kabul die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe besteht, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

c) Dem Kläger droht im Fall der Niederlassung in Kabul aus den zu 2. a) genannten Gründen auch nicht Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung wegen der von ihm geltend gemachten Bedrohung, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.

d) Dem Kläger droht in Kabul auch nicht eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.

In Afghanistan herrscht - jedenfalls in einigen Landesteilen - ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Liegen in der Person des Schutzsuchenden - wie hier - keine besonderen, gefahrerhöhenden Merkmale vor, kann eine ernsthafte individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG jedoch nur angenommen werden, wenn der Grad willkürlicher Gewalt ein derart hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson liefe bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr, einer Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit ausgesetzt zu sein.

Vgl. EuGH, Urteile vom 17. Februar 2009 - C-465/07 -, juris, Rn. 35 ff., und vom 30. Januar 2014 - C-285/12 -, juris, Rn. 30.

Eine entsprechende Gefahrendichte kann nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Zustand permanenter Gefährdungen der Bevölkerung und schwerer Menschenrechtsverletzungen im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts festgestellt wird. Vielmehr erfordert die Bestimmung der Gefahrendichte eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Verletzten und getöteten Zivilpersonen im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Im Rahmen der quantitativen Bewertung hat das Bundesverwaltungsgericht ein Risiko von ca. 1/800 (0,125 %) oder 1/1000 (0,1 %) verletzt oder getötet zu werden als bei weitem nicht ausreichend angesehen, um von einer individuellen Bedrohung ausgehen zu können.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris, Rn. 22, und vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, juris, Rn. 32 f.

Weder der EASO Bericht aus Juni 2019 noch die zuletzt von UNAMA im Februar 2020 bekannt gegebenen Zahlen weisen für Kabul unter Berücksichtigung der dortigen Einwohnerzahl ein entsprechend hohes Risiko aus.

Vgl. UNAMA, Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual Report 2019, S. 94 sowie EASO, Country Guidance Afghanistan, Stand Juni 2019, dort S. 101; zu der Einwohnerzahl (ca. 5.029.850 Einwohner) für das Jahr 2019-20, Afghanistan National Statistics and Information Authority, Population Estimates for the year 1398, April 2019, S. 4.

Auch unter Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlags liegt das entsprechende Risiko im - rechtlich insoweit irrelevanten - Promillebereich. Dem Gericht ist dabei bewusst, dass sich bei den in die Bewertung eingestellten Daten nur um Näherungen handelt, da sowohl bei der Erfassung als auch in Bezug auf die einzelnen Erhebungszeitpunkte sowie die Zuordnung der Opfer zu den einzelnen Anschlägen notwendig Unschärfen bestehen. Diese sind bei dem - allerdings unumgänglichen - statistischen Abgleich unvermeidbar. Dass die Opferzahlen - bei anderer Zählweise - höher liegen können, ändert diese Bewertung nicht. Denn die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar, weil sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Juni 2019 - 13 A 3741/18.A -, juris. Rn. 118 ff.

Die von dem Kläger vorgeschlagenen Daten zur Ermittlung des Gewaltniveaus sind hierfür nicht geeignet. Er möchte zusätzlich zu den von UNAMA erfassten Fällen noch psychisch Erkrankte in die Bewertung einstellen. Es ist schon widersprüchlich, einerseits das Fehlen einer verlässlichen Datenbasis zu den Opfer- und Einwohnerzahlen in Afghanistan zu bemängeln und andererseits dann zu fordern, noch weniger verlässliche Daten zum Vorliegen psychischer Erkrankungen zu berücksichtigen. Eine quantitative Betrachtung unter Einbeziehung psychisch Kranker ist in der Sache bereits deswegen abzulehnen, da es bei der vorliegenden Risikoanalyse darum geht zu ermitteln, in welchem Maße dem Kläger droht, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Eine verlässliche Korrelation zu psychischen Erkrankungen, die Aufschluss über das Maß willkürlicher Gewalt geben könnte, ist nicht feststellbar und wird von dem Kläger, ohne dies nachvollziehbar zu belegen, nur behauptet. Im Übrigen hat der Kläger ungeachtet dessen auch nicht substantiiert dargelegt, um welche Methoden der quantitativen Erfassung von psychischen Verletzungen infolge eines innerstaatlichen bewaffneten Konfliktes es sich handeln soll und zu welchen Ergebnissen diese Methoden im konkreten Fall führen. Entsprechend geht das Gericht allein davon aus, dass die kumulativen Effekte lang andauernder bewaffneter Konflikte, zu denen auch psychische Erkrankungen als Folge der dauerhaften Bedrohungssituation gehören, mangels einer angemessenen statistischen Erfassung nicht bei der quantitativen Betrachtung, sondern allenfalls bei der qualitativen Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen sind, die hier für Kabul im Fall des Klägers zu keinem anderen Ergebnis führt.

Denn individuell gefahrerhöhende Umstände liegen beim Kläger nicht vor. Hierunter fallen in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Schutzsuchenden von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe an der Gefahrenquelle aufzuhalten. Es können aber auch persönliche Umstände sein, aufgrund derer der Schutzsuchende als Zielperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 -, juris, Rn. 33; und vom 17. November 2011 - 10 C 13/10 -, juris, Rn. 22.

Solche Umstände sind nicht feststellbar.

e) Es kann vom Kläger auch vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in Kabul niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die humanitäre Situation steht dem nicht entgegen

Nicht vernünftigerweise erwartet werden kann von einem Ausländer, sich an einem Ort niederzulassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG) jedenfalls dann, wenn an dem betroffenen Ort auf Basis der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse die Existenzsicherung nicht möglich ist. Denn dann würde hierin sowohl ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK als auch gegen Art. 4 Grundrechte-Charta liegen.

Zumutbar ist eine Rückkehr folglich nur dann, wenn der Ort der inländischen Schutzalternative ein wirtschaftliches Existenzminimum ermöglicht. Nach der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung geht dieser Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und 2 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 20; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -, juris Rn. 35; OVG Lüneburg, Urteil vom 19. September 2016 - 9 LB 100/15 -, juris Rn. 75; OVG NRW, Beschluss vom 6. Juni 2016 - 13 A 1882/15.A -, juris Rn. 14.

Das Bundesverwaltungsgericht hat insoweit zwar bislang offen gelassen, welche darüber hinausgehenden konkreten Standards erfüllt sein müssen, geklärt ist indes, dass ein verfolgungssicherer Ort dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich immer dann bietet, wenn er dort durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und der Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, etwa in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor ausgeübt werden. Nicht mehr gesichert ist das wirtschaftliche Existenzminimum, wenn der Ausländer am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums".

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 17. Mai 2006 - 1 B 100.05 - und vom 21. Mai 2003 - 1 B 298.02 - sowie Urteile vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - und vom 31. März 2013 - 10 C 15.12 -, alle juris.

Entscheidend ist insoweit, ob im Einzelfall sichergestellt ist, dass der Betroffene nicht aufgrund unzumutbarer Zustände in eine ausweglose Lage gerät, die ihm objektiv keine andere Wahl lässt, als die sichere Aufnahmeregion zu verlassen.

Vgl. VGH Bad-Württ, Urteil vom 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 -, juris Rn. 29 f.

Erforderlich ist hierfür eine Prüfung des Einzelfalls unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Asylsuchenden wie z.B. Sprache, Bildung, persönliche Fähigkeiten, vorangegangene Aufenthalte in dem in Betracht kommenden Landesteil, örtliche und familiäre Bindungen, Geschlecht, Alter, ziviler Status, Lebenserfahrung und verfügbares Vermögen.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. Juni 2017 - 13 A 1182/17.A -, juris, Rn. 35; Bay.VGH, Beschluss vom 25. Januar 2017 - 13a ZB 16.30374 -, juris, Rn. 8.

Ausgehend hiervon war in der Rechtsprechung der Kammer in Übereinstimmung mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung nach Auswertung umfangreicher Erkenntnismittel für den Zeitraum vor der Covid-19 Pandemie geklärt, dass erwachsene und arbeitsfähige (junge) Männer die Existenz in Kabul sichern können. Dies gilt auch unter Berücksichtigung dessen, dass Rückkehrer aus Europa ohne familiäres Netzwerk besonderen Herausforderungen und zum Teil auch zusätzlichen Diskriminierungen ausgesetzt sind.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A -, juris, Rn. 196 (zu Kabul und Herat); OVG RP, Urteil vom 22. Januar 2020 - 13 A 11356/19 -, juris, Rn. 68 ff. (für Kabul und Mazare Sharif); VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 -, juris, Rn. 73 ff., 92 ff., 100 ff. (zu Kabul, Herat und Mazare Sharif); Bay.VGH, Urteil vom 14. November 2019 - 13a B 19.33359 -, juris, Rn. 31 ff. (zu ganz Afghanistan); Hess.VGH, Urteile vom 23. August 2019 - 7 A 2750/15.A -, juris, Rn. 149, und vom 27. September 2019 - 7 A 1923/14.A -, juris, Rn. 139 ff. (zu ganz Afghanistan); OVG Nds., Urteil vom 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 -, juris, Rn. 55 ff. (zu Kabul, Herat und Mazare Sharif).

Der EGMR hat mit Urteil vom 25. Februar 2020 - indessen ohne nähere Erörterung der vor Ort maßgeblichen Lage - entschieden, dass bei einer der ethnischreligiösen Minderheit der Sikh zugehörigen Familie mit 2 minderjährigen Kindern und einer pflegebedürftigen Großmutter, welche in Afghanistan über kein soziales Netzwerk verfügt, die für eine Verletzung von Art. 3 EMRK hohe Schwelle bei einer Rückführung nach Kabul nicht erreicht sei.

Vgl. EGMR; Urteil vom 25. Februar 2020 - 68377/17 und 530-18 [A.S.N. and Others v. the Netherlands] -, online abrufbar unter http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-201330, Rn. 125 ff, Verweisungsantrag an die Große Kammer anhängig.

Der Bayrische Verwaltungsgerichtshof hat im Juli 2020 daran festgehalten, dass für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige auch angesichts der aktuellen Auskunftslage zumindest nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots i. R. d. § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben seien.

Vgl. Bay.VGH, Urteil vom 6. Juli 2020 - 13a B 18.32817 -, juris, Rn. 57 ff. (allerdings ohne Auseinandersetzung mit den Folgen der COVID-19 Pandemie).

In der erstinstanzlichen Rechtsprechung ist die Bewertung der humanitären Situation im Jahr 2020 in Afghanistan hingegen umstritten. Ein Teil der Gerichte nimmt an, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots vorliegen, weil sich durch die Pandemie die Situation in Afghanistan nochmals erheblich verschlechtert habe.

Vgl. (mit erheblichen Abweichungen in der Begründung): VG Hannover, Urteil vom 9. Juli 2020 - 19 A 11909/17 -, juris, Rn. 21; VG Arnsberg, Urteil vom 2. Juli 2020 - 6 K 2576/17.A -, juris, Rn. 20 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 15. Mai 2020 - A 19 K 16467/17 -, juris, Rn. 107 ff.;a. A.: VG Ansbach, Urteil vom 26. Mai 2020 - AN 18 K 17.31944 -, juris, Rn. 43; VG Augsburg, Urteil vom 26. Mai 2020 - Au 3 K 17.32611 -, juris, Rn. 39 ff. (ohne Berücksichtigung der Pandemie); VG Freiburg, Urteil vom 19. Mai 2020 - A 8 K 9604/17 -, juris, Rn. 40 ff.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass ein erwachsener, alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der bereits vor seiner Ausreise in Afghanistan gearbeitet hat, vorbehaltlich etwaiger anderer Besonderheiten in der Person des Betroffenen auch unter Berücksichtigung der Einflüsse der Corona-Pandemie seine Existenz in Kabul wird sichern können.

aa) Mit Blick auf die Pandemiebedingten Opferzahlen verzeichnet die letzte aktuelle, offiziell bestätigte Erhebung zum 23. August 2020 insgesamt 37.999 positiv auf das Corona-Virus getestete Personen in allen 34 afghanischen Provinzen. 28.180 Personen sind danach wieder genesen, 1.387 gestorben, wobei davon 54 Personen im Gesundheitswesen tätige Mitarbeiter waren. Insgesamt sind bislang 100.960 Personen von einer geschätzten Gesamtpersonenzahl von 37,6 Millionen Einwohnern getestet worden. Von allen getesteten Personen weisen damit statistisch 37 % einen positiven Befund auf, davon entfallen wiederum 10 % auf im Gesundheitswesen tätige Mitarbeiter. Nach den statistischen Erhebungen ist die Mehrzahl der bestätigten Toten zwischen 50 und 79 Jahre alt, wobei Männer dieser Altersgruppe 50 % aller Todesfälle darstellen. Insgesamt sind 70,5 % aller Infizierten Männer, wobei das festgestellte Ungleichgewicht auch aus einem prozentual höheren Testanteil resultieren kann. Kabul ist bezogen auf die Gesamtzahl der bekannten Fälle der am meisten betroffene Landesteil. Die vorgenannten Zahlen wurden zum Stichtag 23. August 2020 vom afghanischen Gesundheitsministerium an UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) gemeldet.

Vgl. die wöchentlich aktualisierten Reporte auf https://www.unocha.org/afghanistan.

Ausweislich einer Hochrechnung durch das Gesundheitsministerium in Kabul haben sich bislang schätzungsweise zehn Millionen Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert. Landesweit bedeute dies einen Infektionsgrad von 31,5 % der mehr als 30 Millionen Einwohner. In Kabul sei die Infektionsrate laut Ministerium mit geschätzt mehr als 50 Prozent besonders hoch. Für die Hochrechnung wurden in den 34 Provinzen Afghanistans aus 5.760 Familien jeweils ein junges und ein altes Familienmitglied per Zufallsverfahren ermittelt und auf Antikörper getestet. Danach seien die Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet worden.

Vgl. die Wiedergabe der Meldung etwa auf ntv, online abrufbar unter: https://www.ntv.de/panorama/Fastjeder-Drittesollinfiziertgewesenseinarticle21954553.html.

Die WHO hat diese Zahlen bislang nicht bestätigt, verweist jedoch aufgrund der Angaben von UNOCHA darauf, dass bei einer Überlastung des Gesundheitssystems, wie sie in Afghanistan zu beobachten sei, sowohl die direkte Sterblichkeit aufgrund des Ausbruchs der Pandemie als auch die indirekte Sterblichkeit aufgrund von eigentlich vermeidbaren und behandelbaren Zuständen dramatisch zunehme.

Vgl. UNOCHA, 23. August 2020, Strategic Situation Report: COVID-19, No. 70.

Indirekt bestätigt wird die hohe Infektionsrate etwa durch das Internationale Rote Kreuz. Dieses berichtete am 14. Juli 2020 davon, dass die Covid-19-Pandemie zu einer erheblichen Belastung führe. Der Mangel an persönlicher Schutzausrüstung für die vor Ort tätigen Mitarbeiter sei die größte Herausforderung für die tägliche Arbeit der Organisation. Afghanistan habe einen Höhepunkt der Infektionen erreicht und es sei zu befürchten, dass dies in den kommenden Wochen so bleibe. Man bemühe sich daher, die Aufdeckung von Fällen weiter zu intensivieren.

Vgl. IFRC, race to avert COVID-19 caused catastrophes in Afghanistan, online abrufbar unter: https://media.ifrc.org/ifrc/pressrelease/raceavertcovidcausedcatastrophesafghanistan/.

Das Auswärtige Amt verweist in diesem Zusammenhang ferner darauf, dass die Ausstattung der afghanischen Krankenhäuser nicht den internationalen Standards entspreche, weshalb an der Reisewarnung betreffend Afghanistan u.a. festgehalten werde.

Vgl. Auswärtiges Amt, Reisewarnung Afghanistan, gültig seit 24. Juli 2020, vgl. https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/afghanistannode/afghanistansicherheit/204692.

Mit Blick auf die Sterbezahlen bzw. die Letalitätsrate fehlt es an belastbaren Erkenntnissen. Social-Media-Seiten und Friedhöfe sollen ausweislich eines Zeitungsberichts vom 29. Juli 2020 einen Anstieg von COVID-19-Patienten und Todesfällen ausweisen, auch seien dem Bericht eines Augenzeugen zufolge in der Zeit von Mai bis Juli viermal mehr Beerdigungen erfolgt.

Vgl. Mehrdad in: The Diplomat, 29.7.2020, online abrufbar unter: https://thediplomat.com/2020/07/herdimmunitycantsaveafghanistanfromcovid-19/.

Hierbei handele es sich auch nach den vorgenannten Angaben indessen überwiegend um ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Dafür, dass auch unter der jüngeren Bevölkerung ein weitaus höheres letales Infektionsgeschehen herrsche, gibt es derzeit - unter Anknüpfung an die zuvor genannten statistischen Daten des afghanischen Gesundheitsministeriums - keine Anhaltspunkte. Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. statuiert in ihrer Länderanalyse von Juli 2020 allein, dass Afghanistan sich aufgrund mangelnder staatlicher Kapazitäten bei Kontroll- und Präventionsmaßnahmen unter ohnehin schon oftmals schwierigen Hygienebedingungen, anhaltender Kämpfe ohne Aussicht auf einen von der Regierung geforderten "humanitären Waffenstillstand", anhaltend hoher und teils unkontrollierter Rückwanderung afghanischer Flüchtlinge und Gastarbeiter aus den Nachbarländern Iran und Pakistan und einer teils geringen sozialen Toleranz für Schutz- und Quarantänemaßnahmen sowie der sozialen Stigmatisierung von Corona-Erkrankten zum Land mit den höchsten Infektionszahlen entwickeln "könnte" (Seite 2). Relativierend wird auf Seite 3 der Analyse darauf verwiesen, dass - bei einem möglicherweise bereits erreichten Infizierungsgrad der Bevölkerung von 80 % - der Krankheitsverlauf in den meisten Fällen unproblematisch sei, was voraussichtlich an der überdurchschnittlich jungen Bevölkerung Afghanistans liege.

Vgl. Dr. Ellinor Zeino, KAS Länderanalyse Juli 2020, Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage?

bb) Nach der von UNOCHA zum Stichtag 30. Juni 2020 veröffentlichten Lockdown-Übersicht sowie den Feststellungen im UNOCHA-Report vom 23. August 2020 bestehen afghanistanweit konkret nur noch wenige Lockdown-Maßnahmen. Die von der Regierung bereits am 6. Juni 2020 angekündigten zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen bleiben zwar offiziell bestehen, werden jedoch nicht strikt durchgesetzt. In den meisten Städten sind Geschäfte und Restaurants geöffnet, wobei Einzelpersonen die regierungsseitig angeordnete Masken- sowie Abstandspflicht weitgehend nicht einhalten. Schulen bleiben bis Ende August und in einigen Fällen Hochzeitssäle geschlossen. Die Regierungsbüros wurden wiedereröffnet und Beamte nahmen in zwei Schichten und an wechselnden Tagen an der Arbeit teil. In Kabul sollen zudem Autos mit geraden und ungeraden Kennzeichen jeweils nur an unterschiedlichen Tagen fahren.

Vgl. UNOCHA C.-19 Access Impediment Report (Zeitraum 8 - 30. Juni 2020), online abrufbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/afghanistan_covid-19_access_impediment_report_ii_07_-_30_jun_2020.pdf sowie den Zeitraum 17. Mai bis 7. Juni 2020 betreffend: https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistanc-19-accessimpedimentreportcoveringperiod-17-may-07-june-2020.

Nach dreimonatiger Einstellung ist zum 15. Juli 2020 der innerafghanische Flugverkehr von Kam Air wieder aufgenommen worden. Der United Nations Humanitarian Air Service verkehrt im Regelfall nunmehr an vier anstelle von fünf Tagen die Woche. Sofern notwendig findet täglicher Flugverkehr statt. Die die Städte Kabul und Doha verbindende Luftbrücke fliegt sonntags, dienstags und donnerstags. Emirates und Turkish Airlines bedienen wieder in regelmäßigen Zyklen den internationalen Flugverkehr, weitere Fluggesellschaften bieten Einzelflüge an. Die Grenzübergänge bei Nimroz und Herat wurden für Gewerbetreibende und ausgewiesene afghanische Privatpersonen wieder eröffnet. Entsprechendes gilt für die Grenzübergänge nach Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. In Richtung Pakistan wurden 2 von 3 Grenzübergängen für den gewerblichen Warenverkehr wieder geöffnet. Diese waren aufgrund der Flüchtlingsströme zu Beginn der Krise geschlossen worden.

Vgl. UNOCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 63 (19. Juli 2020), online abrufbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/strategic_sitrep_covid-19_19_july_2020_final.pdf; vgl. zu Grenzöffnungen auch die Informationen der amerikanischen Botschaft, online abrufbar unter: https://af.usembassy.gov/covid-19-information/.

cc) Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen und das afghanische Ministerium für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht haben im Juni 2020 eine gemeinsame schnelle Folgenabschätzung von COVID-19 für die landwirtschaftliche Produktion und die Märkte in Afghanistan durchgeführt. Hiernach gaben über 20 Prozent der befragten Landwirte an, dass sie voraussichtlich ihre nächste Ernte nicht anbauen können, wobei der fehlende Zugang zu landwirtschaftlichen Betriebsmitteln und die COVID-19-Beschränkungen als Hauptursachen genannt wurden. Darüber hinaus berichteten die befragten Landwirte, dass die meisten Weizen-, Obst-, Gemüse- und Milchverarbeitungsbetriebe derzeit mit einer Teil-/Nullkapazität betrieben werden, wobei die COVID-19-Beschränkungen als Hauptgrund für die Reduzierung angeführt wurden. Die große Mehrheit der befragten Händler berichtete zudem über höhere Preise für Weizen, frische Lebensmittel, Schafe/Ziegen, Rinder und Transport im Vergleich zur Vorjahreszeit.

Vgl. UNOCHA, Strategic Situation Report: COVID-19 No. 63 (19. Juli 2020), online abrufbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/strategic_sitrep_covid-19_19_july_2020_final.pdf; siehe auch Afghanistan Food Security & Agriculture Cluster, Monthly Meeting Presentation, Juli 2020, S 15 ff., https://fscluster.org/sites/default/files/documents/fsac_presentation_for_monthly_meeting_july_2020.pdf

Konkrete Datensätze zur Entwicklung der Lebensmittelpreise sind auf der Homepage des Welternährungsprogramms online abrufbar.

Vgl. VAM food security analysis, online abrufbar unter: https://dataviz.vam.wfp.org/economic_explorer/prices?adm0=1; vgl. zudem FEWS.NET, Afghanistan Price Bulletin, Juli 2020 sowie die Zusammenfassung auf https://fews.net/sites/default/files/documents/reports/Afghanistan_2020_07_PB.pdf.

Betrachtet man den Markt Kabul, klassifiziert das Welternährungsprogramm die Preisentwicklung für den Monat Juli (Stand 24. August 2020) bei Brot als "stress", wobei die Stufungen normal, stress, alert oder crisis lauten. Der Einzelhandelspreis für Weizen ist - wie seitens des Welternährungsprogramms erwartet worden war - nach den Lockdownbedingten Preissteigerungen gefallen. Der Preis für Reis ist insgesamt im Vergleich zum Monat März gefallen, steigt aktuell indessen wieder. Selbst die maximale Preissteigerungserwartung wird jedoch niedriger angesetzt, als der zuletzt ermittelte Wert im Monat März.

Vgl. https://dataviz.vam.wfp.org/economic_explorer/priceforecastsalerts?adm0=1.

Eine vom Samuel Hall Think Tank in Auftrag gegebene Befragung über ein Call-Center in Kabul, bei der Informationen von 401 zufällig ausgewählten Afghanen im Juni 2020 ausgewertet wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass die Ernährungsunsicherheit landesweit zunehme. Obwohl 90% der Befragten angaben, noch alle Grundnahrungsmittel in Geschäften zu finden, seien die Preissteigerungen ein Problem. Die meisten Befragten hätten daher die Quantität und/oder Qualität ihrer Lebensmittel reduziert, die Hälfte der Befragten habe weniger Lebensmittel als gewöhnlich gekauft. Inländisch Vertriebene gaben dabei leicht häufiger als andere an, weniger Lebensmittel gekauft zu haben (54%, im Vergleich zu 49% insgesamt). Unter Bezugnahme auf Aussagen von Experten der Weltbank sei davon auszugehen, dass nunmehr bis zu 80% der Haushalte unter der Armutsgrenze lebe, was bedeuten könne, dass mehr Haushalte Schwierigkeiten haben werden, die Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Vgl. Samuel Hall, Covid-19 in Afghanistan: Knowledge, Attitudes, Practices and Implications, online verfügbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/afg_sh_covid19_research_brief_july_2020.pdf.

Nach Angaben des afghanischen Wirtschaftsministeriums liege eine Familie mit sieben bis acht Mitgliedern mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 35.000 Afghani unterhalb der Armutsgrenze. Hierbei würden neben dem Bedarf an Nahrungsmitteln und Unterkünften auch der Bedarf an Gesundheitsversorgung und Bildung zur Bestimmung der Armutsgrenze im Land berücksichtigt. Ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der Grenzwert für die Armutsgrenze in der Vergangenheit mit 1,25 US-Dollar, aber nach einem Anstieg der Warenpreise mit weniger als 2,00 US-Dollar zu bemessen sei. 2,00 US-Dollar seien der Index, der Preiserhöhungen und -bedürfnisse berücksichtige und einen globalen Standard darstelle.

Vgl. https://tolonews.com/business/ministryconfirms-90-afghanslivebelowpovertyline.

dd) Die in Washington ansässige Weltbank bewertete die ökonomische Lage in Afghanistan zum 1. April 2020 dahingehend, dass die Wirtschaft im Jahr 2019 insgesamt um 2,9 % gewachsen war, was vorrangig durch starkes Wachstum auf dem Agrarsektor bedingt sei. Letzteres sei eine Folge dessen, dass sich Afghanistan in 2019 von einer Dürre erholt habe. Substantielle Fortschritte habe das Land seit 2001 insbesondere in den Bereichen Zugang zu Wasser, Sanitäreinrichtungen, Bildung und Gesundheitsversorgung gemacht. Negativ beeinflusst sei die Wirtschaft indessen weiterhin durch die politisch instabile Lage.

Die Corona-Pandemie habe die afghanische Wirtschaft nunmehr aufgrund der negativen Auswirkungen auf Konsum, Export und Geldverkehr hart getroffen. Es werde erwartet, dass die Wirtschaft im Jahr 2020 um bis zu vier Prozent schrumpfe, wobei die negativen Auswirkungen des COVID-19-Virus die Verbesserung der Klimabedingungen überschatten würden. Weitere erhebliche Abwärtsrisiken bestünden in politischer Instabilität, Verschlechterung der Sicherheitsbedingungen, vorzeitiger Verringerung der Hilfsströme und weiterer nachteiliger regionaler wirtschaftlicher oder politischer Entwicklungen. Es wird ferner erwartet, dass die Armut hoch bleibe, was auf die schwache Nachfrage nach Arbeitskräften und sicherheitsrelevante Einschränkungen bei der Auslieferung von Dienstleistungen zurückzuführen sei.

Vgl. The world Bank in afghanistan, online abrufbar unter: https://www.worldbank.org/en/country/afghanistan/overview.

In verschiedenen Mikrosimulationsszenarien wurde seitens der Weltbank zudem versucht, die Auswirkung der Covid-19-Pandemie auf das Haushaltseinkommen einzuschätzen. Dabei zeigte sich, dass insbesondere Lockdown-Maßnahmen wie auch Grenzschließungen eine erhebliche Auswirkung auf das Haushaltseinkommen insbesondere in urbanen Gebieten zeigen können. So seien Haushalte, welche ihr Einkommen aus Tätigkeiten wie Ladenbesitzer, Straßen- oder Marktverkäufe oder tägliche Arbeit im Baugewerbe, in der Landwirtschaft oder persönliche Dienstleistungen beziehen würden, besonders empfindlich für Maßnahmen zur Eindämmung des Virus.

Vgl. World Bank Group, Afghanistan Development Update July 2020, Surviving the storm, online abrufbar unter: http://documents1.worldbank.org/curated/en/132851594655294015/pdf/Afghanistan-Development-Update-Survivingthe-Storm.pdf.

Die Weltbank genehmigte daher bereits im Juli zwei Zuschüsse der International Development Association (IDA) in Höhe von insgesamt 210 Mio. US-Dollar als Teil eines größeren Finanzpakets von 380 Mio. US-Dollar, um Afghanistan dabei zu helfen, die Auswirkungen von COVID-19 zu mildern und Hilfen für schutzbedürftige Menschen und Unternehmen bereitzustellen.

Ferner werden derzeit seitens der Weltbank bestehende Mittel und Aktivitäten neu formiert, um schutzbedürftigen Haushalten in der aktuellen Krise zu helfen. Dies beinhaltet etwa die Ausweitung von Bürgerprojekten zur Bereitstellung von Nahrungsmitteln (oder Bargeld) sowie die Unterstützung ländlicher Gemeinden durch die Bereitstellung von Partnern im Bereich des Programms REACH. Die Weltbank evaluiert ferner, wie die REACH-Operation Grundnahrungsmittel liefern oder Geldkörbe in städtischen Gebieten (einschließlich Kabul) durch Community-Plattformen bereitstellen kann. Auch mobile / digitale Geldtransfer sollen ermöglicht werden. Durch die Aktion (ENETAWF) soll zusätzlich ein System eingerichtet werden, das eine Routineunterstützung für 500.000 ernährungsunsichere Haushalte leisten soll.

Vgl. UNOCHA, Humanitarian Response Plan Afghanistan 2018 - 2021, Juni 2020, dort S. 2.

Auch die afghanische Regierung hat reagiert, um die in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft zu stabilisieren. Mehreren Medienberichten zufolge beschäftigt die Regierung derzeit mehr als 40.000 Arbeitslose, um die Grundwasserversorgung für die Hauptstadt Kabul zu sanieren.

Vgl. Reuters Meldung, online abrufbar unter: https://www.reuters.com/article/ushealthcoronavirusafghanistanclimat/afghanistanusesgreenstimulustohirelockdownjoblessboostkabulswatersupplyidUSKBN23W0XD.

Ausweislich des SIGAR (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction) beginne die COVID-19-Pandemie die afghanische Wirtschaft auch über die sozialen Auswirkungen hinaus zu beeinträchtigen. Die Schätzungen zum Ausmaß der wirtschaftlichen Störungen seien dabei im Quartal unterschiedlich ausgefallen. Der IWF prognostiziere, dass Afghanistan wahrscheinlich in eine Rezession falle und das BIP Afghanistans 2020 um 3% schrumpfen würde. Der wirtschaftliche Rückgang durch andere Experten sei mit Werten zwischen 3% und 10% angesetzt worden. Die Weltbank Südasien prognostiziere, dass Afghanistan abgesehen von den Malediven im Jahr 2020 die schlechteste regionale Leistung erbringen werde. Die Pandemie verursache demnach einen schweren wirtschaftlichen und sozialen Schaden, dessen Tiefe und Dauer - so der IWF - mit großer Unsicherheit behaftet sei.

Vgl. SIGAR, Quarterly Report, Juli 2020, S. 130.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung verweist in ihrer Länderanalyse aus Juli 2020 darauf, dass insbesondere Grenzschließungen für die afghanische Wirtschaft und die humanitäre Lage einschneidende Maßnahmen darstellten. Insbesondere der Grenzhandel mit Iran und Pakistan und der Warenverkehr über Pakistan nach Indien seien für das Binnenland Afghanistan von vitalem Interesse. Iran und Pakistan seien die größten Handelspartner Afghanistans. Die Hälfte der afghanischen Exporte (56 Prozent) gehe nach Indien. Auch die Grenzschließungen der zentralasiatischen Nachbarstaaten seien bedeutsam. Kasachstan als Hauptweizenexporteur für Afghanistan habe im März alle Weizenexporte gestoppt, in Sorge um die eigenen Weizenvorräte. Ersatz sei aus Indien gekommen, das Weizenvorräte an Afghanistan gespendet und diese über den iranischen Chabahar-Hafen eingeführt habe. Pakistan habe daraufhin seinen Hafen bei Gwadar für humanitäre Hilfe geöffnet.

Vgl. Dr. Ellinor Zeino, KAS Länderanalyse Juli 2020, Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage?

ee) Mit Blick auf weitere Hilfsprogramme berichtete das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen, dass sich in Kabul aus der COVID-19-Krise heraus ein "Solidaritätsprogramm" entwickelt habe, welches später in anderen Provinzen repliziert worden sei. Eine afghanische Tageszeitung habe Hausbesitzer dazu aufgerufen, jenen ihrer Mieter/innen die Miete zu reduzieren oder zu erlassen, die aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht arbeiten konnten. Viele Hausbesitzer seien dem Aufruf gefolgt (AF 24.6.2020). Bei der Spendenaktion "Kocha Ba Kocha" seien junge Freiwillige zusammen gekommen, um auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu reagieren, indem sie Spenden für bedürftige Familien sammelten und ihnen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellten. In einem weiteren Fall habe eine Privatbank eine Spendenkampagne gestartet, durch die 10.000 Haushalte in Kabul und andere Provinzen monatlich mit Lebensmitteln versorgt worden seien. Außerdem habe die afghanische Regierung das sogenannte "kostenlose Brot"-Programm, bei dem bedürftige Familien - ausgewählt durch Gemeindeälteste - rund einen Monat lang mit kostenlosem Brot versorgt werden (AF 24.6.2020), initiiert. In dem mehrphasigen Projekt erhält täglich jede Person innerhalb einer Familie zwei Stück traditionellen Brots von einer Bäckerei in der Nähe ihres Wohnortes (TN 15.6.2020). Die Regierung habe angekündigt, das Programm um einen weiteren Monat zu verlängern (AF 24.6.2020; vgl. TN 15.6.2020).

Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation COVID-19 Afghanistan; Stand: 29.6.2020 unter Verweis auf AF - Asia Foundation (24.6.2020): Afghanistan’s Covid-19 Bargain, online abrufbar unter: https://asiafoundation.org/2020/06/24/afghanistanscovid-19-bargain sowie TN - Tolonews (15.6.2020): Govt Will Resume Bread Distribution: Palace, online abrufbar unter: https://tolonews.com/afghanistan/govtwillresumebreaddistributionpalace.

Einen Überblick über weitere Hilfsmaßnahmen im Gesundheitsbereich bietet UNOCHA im monatlichen Report, hier betreffend den Zeitraum 20 bis 26. Juli 2020,

https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/operational_sitrep_covid-19_29_july_2020.pdf.

Ungeachtet der laufenden Projekte im Bereich der Entwicklungshilfe besteht indessen ein erheblicher Finanzierungsbedarf. Die sog. Humanitäre Finanzierungslücke belief sich nach UNOCHA Angaben im August 2020 auf 23 Prozent gegenüber 27 Prozent zur Jahresmitte 2019. Dies bedeutet, dass bislang nur 23 Prozent der als notwendig erachteten Projekte etwa in den Bereichen, Wasser, Bildung oder Nahrungsmittelsicherheit finanziert sind.

Vgl. UNOCHA, 24. July 2020, Afghanistan, Immediate Humanitarian Funding Gaps, online abrufbar unter: https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/afghanistan_immediate_humanitarian_funding_priorities_augoct.pdf.

ff) Ausweislich eines Berichts vom 2. August 2020 der Internationalen Organisation für Migration der UN (IOM) sind seit dem 1. Januar 2020 insgesamt 431.595 Personen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wovon 429.632 auf den Iran und 1.963 auf Pakistan entfallen.

Vgl. https://afghanistan.iom.int/sites/default/files/Reports/iom_afghanistanreturn_of_undocumented_afghans-_situation_report_02-08_aug_2020.pdf.

Der UNHCR hat diese Rückkehrer im Rahmen seines sog. Border Monitoring Updates befragt und diese Aussagen statistisch ausgewertet. 90,7% der Befragten aus Pakistan und 66,4% aus dem Iran gaben an, erst weniger als ein Jahr im Ausland zu leben. Die Mehrzahl der Befragten Rückkehrer aus dem Iran, nämlich 84%, gab an, dort Arbeit gesucht zu haben. Die Mehrzahl der Rückkehrer aus Pakistan (34%) gab an, sich im Ausland für medizinische Behandlungen aufgehalten zu haben. Als Gründe für ihre Rückkehr gaben 39,9% der Befragten aus dem Iran und 54,2% aus Pakistan an, wieder vereint mit der Familie sein zu wollen. 84% der Befragten gaben an, dass sie in Afghanistan in ihrem eigenen Haus wohnen würden, 11% gaben an, dass sie eines mieten würden und 4%, dass sie bei Verwandten unterkommen würden. 92% der Befragten aus dem Iran und 56% aus Pakistan gaben an, dass sie versuchen würden, in ihrer Heimatprovinz einen Job zu finden. Als Rückkehrziel benannten 70% derjenigen aus dem Iran Herat, Faryab, Nimroz, Takhar, Kunduz, Ghor, Farah, Balkh, Badakhshan, und Badghis. 87% der Befragten aus Pakistan Kandahar, Nangarhar, Kabul, Ghazni, Helmand, Kunduz, Paktika, Paktya, Kunar und Laghman.

gg) Ausgehend hiervon ist die Kammer davon überzeugt, dass sich für einen erwachsenen, alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen Mann, der bereits vor seiner Ausreise in Afghanistan gearbeitet hat, vorbehaltlich etwaiger anderer Besonderheiten in der Person des Betroffenen die Möglichkeiten, die Existenz in Kabul zu sichern, durch die Corona-Pandemie nicht entscheidend verändert haben.

Zwar hat die Corona-Pandemie die ohnehin schwierige Situation in Afghanistan durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie weiter verschärft und insbesondere den Bedarf an humanitärer Hilfe steigen und noch mehr Haushalte unter die Armutsgrenze rutschen lassen. Gleichwohl zeigt die Erkenntnislage nicht, dass die Wirtschaftstätigkeit etwa in Kabul vollständig zum Erliegen gekommen und eine Nachfrage nach Tagelöhnern komplett eingebrochen wäre. Der Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten für Tagelöhner von März bis Mai 2020 resultierte aus den von der Regierung angeordneten "Lockdown-Maßnahmen". Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bzw. Grenzschließungen sind von mehreren Seiten als kritischster Faktor für die Möglichkeit, Arbeit zu finden, klassifiziert worden. Entsprechende Einschränkungen finden zwischenzeitlich aber nur noch in einem begrenzten Umfang statt, was sich im Ergebnis durch die hohen Infektionszahlen bestätigt. Sofern Maßnahmen formell aufrechterhalten werden, werden diese ausweislich der aktuellen Berichte faktisch nicht durchgesetzt. Demnach sieht die Kammer im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine wesentlichen Veränderungen gegenüber dem Jahr 2019 in den Möglichkeiten, ein Einkommen durch Gelegenheitsarbeiten zu erzielen.

Das im Jahr 2020 durch Gelegenheitsarbeiten erzielbare Einkommen reicht aus, um das Existenzminimum zu sichern. Auch insofern hat sich die Situation in Afghanistan nicht entscheidend gegenüber dem Jahr 2019 verändert. Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln hat zwar aufgrund der vorangegangenen Grenzschließungen insbesondere während der Monate März bis Juni und dem damit einhergehenden Beschränkungen des Warenverkehrs zu einzelnen Preissteigerungen geführt. Da auch insoweit die Maßnahmen zurückgefahren werden, ist eine weitere Verschärfung nicht zu erwarten, zumindest im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung lag eine solche nicht vor, sondern der Trend ging wieder in Richtung eines sinkenden Preisniveaus. Preissteigerungen bei Lebensmitteln allein bedeuten zudem keine Zunahme des Armutsrisikos, wenn die erhöhten Preise gleichsam den dort Beschäftigten wieder zu Gute kommen. Auch zeigt etwa die Hall Studie, dass es den Menschen gelingt, ausgleichende Maßnahmen zu ergreifen. Dies beinhaltet zwar eine qualitativ wie quantitativ schlechtere Ernährung. Dass mit dieser indessen keine Sicherung der elementaren Bedürfnisse im Bereich Lebensmittelversorgung mehr geleistet werden könne, folgt hieraus nicht. Es ist daher zu konstatieren, dass die hohen Infektionszahlen als solche - welche nicht mit einer hohen Letalität, wahrscheinlich aufgrund des jungen Durchschnittsalters der Bevölkerung, einhergehen - keine für den vorliegenden Maßstab relevanten Auswirkungen auf die Versorgungslage zeigen. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass ein hoher Infektionsgrad in der Bevölkerung sowohl psychisch als auch physisch eine hohe individuelle Bürde für den Einzelnen als auch eine Belastung für die Wirtschaftstätigkeit eines Landes und dessen Zukunftsperspektive darstellt. Dass die Pandemie jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit relevante Auswirkungen auf den hier zu beurteilenden Arbeits- und Versorgungsmarkt junger Männer im Tagelöhner-Bereich haben wird, ist nicht erkennbar oder indiziert. Auch die Rückkehrer aus den Nachbarländern Iran und Pakistan üben keine relevante Beeinflussung des Arbeits- und Versorgungsmarkts in Kabul aus. Denn die deutliche Mehrzahl der Rückkehrer wird nicht nach Kabul, sondern in andere Heimatprovinzen zurückkehren. Im Bereich Wohnen stellen die Rückkehrer zudem - da die ganz überwiegende Zahl der Rückkehrer in privates Eigentum zurückkehrt - bereits keine Konkurrenz dar.

Daneben boten und bieten sowohl nationale wie auch internationale Organisationen Hilfen an, um kurzfristige Engpässe zu kompensieren und langfristige Lösungen zu erarbeiten. Es ist zwar zutreffend, dass insbesondere Hilfsorganisationen vor einer bevorstehenden humanitären Katastrophe warnen. Dass diese aktuell bereits vorliegt, ist indessen nicht belegt. Auch die von Stahlmann in ihrem zum Beginn der Pandemie erstellten "Gutachten"

(online abrufbar unter: https://www.fluechtlingsratthr.de/sites/fluechtlingsrat/files/pdf/Afghanistan/Stahlmann-Corona-Afghanistan.pdf)

prognostizierte Entwicklung lässt sich anhand der vorliegenden Erkenntnismittel nicht verifizieren. Selbst wenn die tatsächlichen Fallzahlen im Bereich des Infektionsgeschehens höher liegen, folgt hieraus nicht zwingend eine verfahrensrechtlich relevante Verschlechterung der humanitären Lage. So ist etwa die von Stahlmann auf Seite 3 des Gutachtens angeführte (nicht belegte) Preissteigerung bei Mehl um 92 % mit den Daten des Welternährungsprogramms nicht in Einklang zu bringen. Zumindest für den Markt Kabul wurde ein entsprechender Wert im Jahr 2020 bislang zu keinem Zeitpunkt erreicht. Es bleibt zudem offen, ob es sich bei den von Stahlmann angeführten Werten um private Einkäufe handelte und in welchen Bezug diese gesetzt wurden. Das vermeintliche Gutachten genügt insoweit keinen international anerkannten Standards, da weder nachvollzogen werden kann, wie, wann und auf welche Weise Fakten ermittelt wurden, noch deutlich wird, mit welchem methodischen Ansatz und unter welchem Gesichtspunkt diese evaluiert wurden. Das gesamte Gutachten bietet eine durchaus anschauliche private Inneneinsicht der afghanischen Gesellschaft. Als belastbare Quelle vermag es jenseits dieser Privatmeinung indessen nicht zu dienen. Für den vorliegenden Fall rechtfertigt es keine abweichende Bewertung.

Der Kläger ist mit dem afghanischen Arbeitsmarkt bereits vertraut und hat vorher u. a. im Bereich der Landwirtschaft sowie als Fliesenleger typische Tagelöhnertätigkeiten ausgeübt. Er unterliegt weder körperlich noch intellektuell etwaigen Einschränkungen und bringt damit alle Voraussetzungen mit, die notwendig sind, um sich auch auf dem afghanischen Arbeitsmarkt zu behaupten. Da es mithin beim Kläger nicht auf das Vorhandensein unterstützungsfähiger Verwandtschaft in Afghanistan ankommt, war auch der Beweisantrag zu 5) mangels Erheblichkeit abzulehnen, § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO in entsprechender Anwendung.

Der Kläger läuft aufgrund seines jungen Alters und mangels relevanter Vorerkrankungen auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, durch die Covid-19-Pandemie verursachte Gesundheitseinschränkungen zu erleiden, welche sich wiederum entscheidend auf seine persönliche Erwerbsfähigkeit auswirken würden.

Welche über die Sicherung des Existenzminimums hinausgehenden konkreten Standards für den Verweis darauf, internen Schutz in Anspruch zu nehmen, erfüllt sein müssen, kann dahinstehen. Interner Schutz könnte höchstens in besonderen Ausnahmefällen ausscheiden, wenn zwar die Existenzsicherung möglich ist, also kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 Grundrechte-Charta droht, aber die Niederlassung für den Betroffenen zur Verletzung anderer Rechte führen bzw. aus anderen Gründen eine unerträgliche Härte darstellen würde.

Vgl. zum Rechtsprechungsstand VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 -, juris, Rn. 42 ff., m. w. N.

Dies bedarf hier aber keiner weiteren Betrachtung, weil Anhaltspunkte, die einen solchen besonderen Ausnahmefall im Fall des Klägers begründen könnten, nicht ersichtlich sind.

2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In Betracht kommt insoweit insbesondere ein Verbot aus Art. 3 EMRK, wonach niemand unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden darf.

Dem Kläger droht jedenfalls in Kabul keine Verletzung aus Art. 3 EMRK. Eine Gefährdung aus individuellen Gründen ist aus den unter 1. a) genannten Gründen nicht anzunehmen. Dem Kläger droht auch keine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der Sicherheitslage (vgl. oben 1. d) oder der humanitären Situation (vgl. oben 1. e).

Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Abschiebungsschutz auch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Soweit es um die allgemeine Sicherheitslage und humanitäre Situation in Afghanistan geht, gelten die obigen Ausführungen hier entsprechend (zumal nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG diesbezüglich ein hier nochmals verschärfter Maßstab gilt, nämlich der Maßstab der alsbaldigen Realisierung einer extremen Gefahrenlage mit hoher Wahrscheinlichkeit).

Vgl. BVerwG, Urteile vom 8. November 2011 - 10 C 14.10 - juris, Rn. 22 ff. und vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, juris Rn. 38 ff.

Eine solche läge dann vor, wenn der Kläger in Afghanistan einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle einer Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 2011 - 10 C 24.10 -, juris, Rn. 19 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 28. August 2017 - 13 A 2020/17.A -, juris, Rn. 17 ff.

Trotz hoher Infektionszahlen liegen Anhaltspunkte für eine entsprechend hohe Letalität nicht vor. Der Kläger zählt insoweit jedenfalls nicht zu einer Risikogruppe.

Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen liegen ebenfalls nicht vor, weil der Kläger an keiner behandlungsbedürftigen Erkrankung leidet und - wie bereits zuvor ausgeführt - aufgrund seiner Konstitution und seines Alters eine solche auch mit Blick auf die Corona-Pandemie nicht zu erwarten ist. Denn eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.

3. Rechtmäßig sind auch die impliziten Anordnungen der Einreise- und Aufenthaltsverbote gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Ziffer 6 des Bescheides vom 11. Januar 2017. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit der Abschiebungsandrohung unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung, spätestens mit der Abschiebung erlassen werden.

Die Formulierung in und die Begründung zu Ziffer 6 des angefochtene Bescheids geht zwar von einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot aus und entspricht damit nicht dem Wortlaut des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden und nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorliegend maßgeblichen Fassung. Dies ist aber unschädlich.

Denn die nunmehr durch § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG geforderte Einzelfallentscheidung über die Verhängung eines Einreiseverbots von bestimmter Dauer ist in unionsrechtskonformer Auslegung anhand des Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungs-RL) regelmäßig in einer behördlichen Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu sehen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - 1 VR 3.17 - juris, Rn. 72; BVerwG, Urteil vom 21. August 2018 - 1 C 21.17 -, juris, Rn. 25 ff.

Ebenfalls rechtmäßig ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Die Entscheidung über die Befristung hat gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen bei Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu ergehen und ist nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Ermessensentscheidung. Das Gericht prüft die Festsetzung in zeitlicher Hinsicht nur auf Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO). Solche sind nicht feststellbar. Insbesondere sind keine für eine Fristverkürzung sprechenden Belange vorgetragen oder ersichtlich.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 80 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) erfolgen.

Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.

Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.

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