Bayerischer VGH, Beschluss vom 08.09.2016 - 10 C 16.1214
Fundstelle
openJur 2020, 67357
  • Rkr:
Tenor

I.

Die Anhörungsrüge wird zurückgewiesen.

II.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Dem Antrag des Klägers auf Aussetzung des Verfahrens im Schriftsatz vom 22. August 2016 entspricht das Gericht nicht, weil die Voraussetzungen des § 94 VwGO nicht vorliegen. Die Frage, ob der Beklagte die im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht anhängige Ausweisung aufhebt, ist nicht vorgreiflich im Sinn dieser Vorschrift. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Frage, ob der Senat bei der Entscheidung über die Beschwerde des Klägers gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe das Recht des Klägers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

Die zulässige Anhörungsrüge ist unbegründet. Der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG wird durch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Juni 2016 (10 C 15.1345) nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt (§ 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht‚ sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (BVerfG‚ B.v. 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 Rn. 35). Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht‚ die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG a. a. O. Rn. 39), nicht aber dazu, den Vorstellungen eines Beteiligten zu folgen (BVerwG, B.v. 1.8.2011 - 6 C 15/11 - juris Rn. 1; BayVGH‚ B.v. 13.11.2013 - 10 C 13.2207 - juris Rn. 2). Voraussetzung für einen Erfolg der Anhörungsrüge ist weiter, dass der Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt worden ist (vgl. § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

Gemessen an diesen Maßstäben und dem Vortrag des Klägers im Rahmen des vorliegenden Verfahrens verletzt der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Juni 2016 (10 C 15.1345) nicht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör.

Die Klägerseite trägt zur Begründung der Anhörungsrüge vor, im Beschluss vom 2. Juni 2016 sei die Beschwerde mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass nie beabsichtigt gewesen sei, die erste Ausweisungsverfügung vom 5. März 2009 wieder aufleben zu lassen. Zu dieser Tatsache sei sie zuvor nicht angehört worden. Auf diese Weise sei die auf Art. 103 Abs. 1 GG beruhende Pflicht zum Hinweis auf möglicherweise entscheidungserhebliche Tatsachen verletzt worden.

Ein Verstoß gegen das Gebot auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt nicht vor.

Der klägerische Vortrag, bei dem (erneuten) Erlass einer Ausweisungsverfügung nach der Aufhebung einer früheren Ausweisungsentscheidung handele es sich um eine Rücknahme des aufhebenden Bescheides, also um die "Rücknahme einer Rücknahme", wurde bereits im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgebracht (siehe die Wiedergabe des klägerischen Vorbringens im Beschluss des VG München vom 2.6.2015, M 12 K 14.3776, S. 24 unten bis S. 25 oben). Das Verwaltungsgericht ist in den Gründen des genannten Beschlusses (S. 28 unten bis S. 29 oben) darauf eingegangen: Es handle sich hier "nicht um eine Rücknahme der Aufhebungsverfügung vom 10. Februar 2010, so dass der ursprüngliche Bescheid vom 5. März 2009 wieder aufleben würde. Der Beklagte hat vielmehr auf der Grundlage früher nicht vorhandener Unterlagen ... einen neuen Bescheid unter erneuter Beurteilung der Wiederholungsgefahr, erneuter Ermessensausübung und erneuter Prüfung der Verhältnismäßigkeit erlassen ..."

In der Beschwerdebegründung hat die Klägerseite insoweit ihren Vortrag aus der ersten Instanz wiederholt.

In dem mit der vorliegenden Anhörungsrüge angegriffenen Beschluss des Senats vom 6. Juni 2016 heißt es hierzu (S. 5 bis 6):

"Es [erg.: das Verwaltungsgericht] hat insbesondere zu Recht ausgeführt, dass es sich bei dem Erlass der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung vom 31. Juli 2014 nicht um eine Rücknahme der Aufhebungsentscheidung vom 10. Februar 2010 handelte; es war nämlich nie beabsichtigt, die erste Ausweisungsverfügung vom 5. März 2009 wieder aufleben zu lassen. Insofern greift das Vorbringen in der Beschwerdebegründung nicht. Vielmehr hat der Beklagte die Ausweisungsentscheidung vom 5. März 2009 wegen erkannter Defizite (vgl. die Ausführungen in dem Beschluss über die Gewährung von Prozesskostenhilfe vom 1.2.2010 im damaligen Verfahren M 23 K 09.1219) in der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage aufgehoben und im Anschluss sogleich mit Ermittlungen insbesondere zu den Auswirkungen einer Ausweisung des Klägers auf das Wohl seiner beiden Kinder begonnen. Bei dem Bescheid vom 31. Juli 2014 handelt es sich gegenüber demjenigen vom 5. März 2009 um einen völlig eigenständigen, erneuten Verwaltungsakt mit einer neuen Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen und neuen Ermessenserwägungen.

Der Beklagte war auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes an der erneuten Ausweisung gehindert. Zwar kann ein Verzicht auf eine Ausweisung grundsätzlich zu einem "Verbrauch" des Ausweisungsgrundes führen, wenn dem betroffenen Ausländer hierdurch Vertrauensschutz vermittelt wird, so dass er sich im Vertrauen darauf in besonderer Weise auf einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet einrichten konnte (BVerwG, U.v. 16.11.1999 - 1 C 11/99 - DVBl 2000, 425 Rn. 20). Im vorliegenden Fall jedoch konnte der Kläger keineswegs darauf vertrauen, dass der Beklagte nach der Aufhebung des ersten Ausweisungsbescheids in der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 seine Ausweisung nicht weiter betreiben würde. Es war ihm über seine Bevollmächtigte bekannt (siehe etwa Schreiben des Gutachters vom 13.9.2010; Bl. 382 der Behördenakte), dass die Ausländerbehörde die zu erwartenden Folgen einer Ausweisung bzw. Abschiebung des Klägers auf seine beiden Kinder ermittelte (siehe Art. 24 Abs. 1 BayVwVfG). Auch hat die Ausländerbehörde gegenüber der jetzigen wie auch gegenüber weiteren Bevollmächtigten des Klägers im Telefongespräch bzw. schriftlich festgestellt, dass eine Ausweisung weiterhin geplant sei (siehe etwa Bl. 431, 456, 566 der Behördenakte)."

Hieraus ist zu erkennen, dass der Senat sich mit dem Vorbringen der Klägerseite ausführlich auseinandergesetzt hat. Es wurde keineswegs eine "Tatsache" zugrunde gelegt, zu der die Klägerseite sich nicht äußern konnte; vielmehr hat der Senat nach Würdigung des Vorbringens der Beteiligten und des Inhalts der Akten aufgrund eigener rechtlicher Prüfung die vom Verwaltungsgericht getroffene Einschätzung als richtig befunden und ist somit der Meinung der Klägerseite in der Beschwerdebegründung nicht gefolgt.

Eine den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt ebenfalls nicht vor. Das ist nur dann der Fall, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 108 Rn. 24 m. w. N.). Im vorliegenden Fall hat das Gericht jedoch lediglich den Vortrag des Klägers im Beschwerdeverfahren, der auch bereits Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war, einer Würdigung unterzogen. Es besteht jedoch weder eine Pflicht für das Gericht, dem Kläger vorab seine Rechtsauffassung mitzuteilen, noch dazu, vorab darauf hinzuweisen, dass es beabsichtige, dem Vortrag des Klägers nicht zu folgen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht‚ weil für das Verfahren über die Anhörungsrüge nach Nr. 5400 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr von 60‚- Euro anfällt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO).