Hessischer VGH, Beschluss vom 08.09.2020 - 7 B 1568/20
Fundstelle
openJur 2020, 48240
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 27. Mai 2020 - 7 L 1062/20.F - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung abgeändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig, bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, verpflichtet, dass der Antragsteller durch die Schule am Sommerhoffpark im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen beschult wird und bis zur vollständigen Wiederaufnahme des Schulbetriebs wegen der Corona-Pandemie mit entsprechenden Unterrichtsmaterialien des Förderschwerpunktes Lernen versorgt wird.

Der Antragsgegner hat die Kosten des gesamten Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten erstinstanzlichen Beschluss, über die der Berichterstatter gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Senats entscheiden kann, ist begründet.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts ist in dem im Tenor bezeichneten Umfang abzuändern, da nach dem Erkenntnisstand des Beschwerdegerichts im Zeitpunkt seiner Entscheidung die Voraussetzungen für die vom Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis vorliegen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ein Grund für eine notwendige vorläufige gerichtliche Regelung (Anordnungsgrund) sowie ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Handlung (Anordnungsanspruch) gegeben sind.

Ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Dem Antragsteller im vorliegenden schulrechtlichen Verfahren ist unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erforderliche Anordnungsanspruch ist gegeben, da es für das Beschwerdegericht nach der gebotenen summarischen Überprüfung überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Beschulung im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen gemäß §§ 49 Abs. 2, 50 Abs. 2, 54 Abs. 2 HSchulG, § 8 Satz 1 VOSB zur Seite steht.

Im Einzelnen gilt Folgendes:

Nach der Vorschrift des § 49 Abs. 2 HSchulG erfüllen die allgemein bildenden und beruflichen Schulen nach § 11 Abs. 3 HSchulG, die nicht Förderschulen sind (allgemeine Schulen), sowie die Förderschulen mit ihren verschiedenen Förderschwerpunkten den Anspruch auf sonderpädagogische Förderung nach § 50 Abs. 1 HSchulG.

Gemäß § 50 Abs. 2 HSchulG ist es Aufgabe im Förderschwerpunkt Lernen, Kinder und Jugendliche mit einer erheblichen und lang andauernden Lernbeeinträchtigung zu einem den Zielsetzungen entsprechenden Abschluss zu führen, soweit nicht der Übergang in den Bildungsgang einer allgemeinen Schule möglich ist.

Demgegenüber ist es nach § 50 Abs. 3 HSchulG Aufgabe im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe anzustreben, indem Schülerinnen und Schülern Kompetenzen und Kulturtechniken vermittelt werden, die sie befähigen, selbstbestimmt soziale Bezüge mit zu gestalten und zur eigenen Existenzsicherung beizutragen.

Kommt ein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung bei einer Schülerin oder einem Schüler in Betracht und reichen allgemeine Maßnahmen der Prävention und der Förderung nicht aus oder sind solche nicht möglich, wird nach § 54 Abs. 2 HSchulG unverzüglich ein Förderausschuss nach Abs. 3 dieser Vorschrift einberufen. Auf der Grundlage von dessen Empfehlung entscheidet die Schulleiterin oder der Schulleiter der allgemeinen Schule nach Anhörung der Eltern im Benehmen mit der Schulaufsichtsbehörde über Art, Umfang und Organisation der sonderpädagogischen Förderung. Der Empfehlung sind eine Stellungnahme des sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentrums und, wenn erforderlich, ein schulärztliches sowie in Zweifelsfällen ein schulpsychologisches Gutachten zugrunde zu legen. Vor der Entscheidung ist die Empfehlung durch die Schulaufsichtsbehörde zu genehmigen. Bestehen gegen die Empfehlung erhebliche Bedenken, kann die Schulaufsichtsbehörde die Empfehlung zur erneuten Beratung zurückverweisen oder erforderlichenfalls selbst entscheiden. Kann sich der Förderausschuss nicht auf eine Empfehlung einigen, entscheidet die Schulaufsichtsbehörde im Benehmen mit der Schulleiterin oder dem Schulleiter auf der Grundlage der Stellungnahme und des gegebenenfalls eingeholten Gutachtens nach Satz 3 nach Anhörung der Eltern.

Nach § 8 Satz 1 der Verordnung über Unterricht, Erziehung und sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen vom 15. Mai 2012, zuletzt geändert durch Artikel 24 des Gesetzes vom 18. Juni 2020, GVBl. S. 402, 421 (im Folgenden: VOSB), kommt ein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung nach §§ 49 Abs. 2 und 54 Abs. 2 HSchulG in Betracht, wenn aufgrund der umfassenden und lang andauernden Beeinträchtigung des Kindes oder Jugendlichen davon auszugehen ist, dass ohne die Erfüllung dieses Anspruchs die Schulleistungen in dem besuchten Bildungsgang oder das Arbeits- und Sozialverhalten erheblich gefährdet sind und Maßnahmen der sonderpädagogischen Beratung und Förderung nach §§ 3 und 4 VOSB nicht ausreichen.

Danach hat der Antragsteller einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt "Lernen" glaubhaft gemacht (im Folgenden: 1.) und zugleich hinreichend dargetan, dass er nicht dem Förderschwerpunkt "Geistige Entwicklung" zugeordnet werden kann (im Folgenden: 2.).

1. Gemäß § 50 Abs. 2 HSchulG ist es Aufgabe im Förderschwerpunkt Lernen, Kinder und Jugendliche mit einer erheblichen und lang andauernden Lernbeeinträchtigung zu einem den Zielsetzungen entsprechenden Abschluss zu führen, soweit nicht der Übergang in den Bildungsgang einer allgemeinen Schule möglich ist.

Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 18. März 2011 - 7 A 2010/10.Z -, juris, Rdnr. 13) ist eine umfassende Lernbehinderung eines Schülers - wie vorliegend - bei einem lang andauernden Versagen im Leistungsbereich anzunehmen, welches eine Vielzahl der schulischen Unterrichtsfächer betrifft und dessen Ursache in weiterreichenden Störungen als in andauernden Schwierigkeiten beim Erlernen und Gebrauch der Schriftsprache oder im Bereich des Rechnens liegt. Die schwerwiegenden und umfänglichen Lern- und Leistungsausfälle müssen sich also aus einer generalisierten Lernbeeinträchtigung ergeben. Damit unterscheidet sich die umfassende Lernbehinderung von isolierten Behinderungen, die nur einen konkreten Teilbereich des Lernverhaltens beeinträchtigen.

Schulisches Leistungsversagen ist hiernach insbesondere dann als Ausdruck einer Lernbehinderung anzusehen, wenn die Leistungsrückstände des Schülers über mehrere Jahre andauern, die Rückstände mehr als zwei bis drei Schuljahre betragen, sie mehrere Unterrichtsfächer erfassen und sie nicht Folge eines unzureichenden schulischen Lernangebotes sind. Eine solche umfassende Lernbehinderung erfordert besondere Fördermaßnahmen, wie sie für die öffentlichen Schulen in Hessen in den Regelungen über die sonderpädagogische Förderung abschließend geregelt sind (vgl. Beschluss des Senats vom 18. März 2011, a. a. O., Rdnr. 14).

Im Beschluss vom 8. Dezember 2014 - 7 B 1669/14 - (juris, Rdnr. 5 f.) hat der Senat noch einmal bekräftigt, dass bei solchen Schülern mit Anspruch auf sonderpädagogische Förderung nicht zwingend ein Abschluss erlangt werden muss.

Dass in Bezug auf den Antragsteller eine erhebliche und lang andauernde Lernbeeinträchtigung im Sinne der vorgenannten Vorschriften besteht, ist nach der Aktenlage aufgrund summarischer Prüfung ebenfalls glaubhaft gemacht und wird auch vom Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss bejaht (vgl. S. 5 des Beschlussabdrucks).

2. Zudem hat der Antragsteller hinreichend dargetan, dass er nicht dem Förderschwerpunkt "geistige Entwicklung" zugeordnet werden kann.

Nach § 50 Abs. 3 HSchulG ist es Aufgabe im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe anzustreben, indem Schülerinnen und Schülern Kompetenzen und Kulturtechniken vermittelt werden, die sie befähigen, selbstbestimmt soziale Bezüge mit zu gestalten und zur eigenen Existenzsicherung beizutragen.

Der Antragsteller ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren der Annahme hinreichend entgegengetreten, bei ihm liege eine geistige Behinderung im vorgenannten Sinne vor. Insbesondere kann aus dem Umstand, wonach beim Antragsteller eine sog. Trisomie 21 vorliegt, nicht ohne weiteres abgeleitet werden, er sei im schulrechtlichen Sinne geistig behindert. Überdies fehlen auch zureichende Feststellungen des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts, wonach der Antragsteller geistig behindert und der Tatbestand des § 50 Abs. 3 HSchulG deshalb erfüllt sei.

Gemäß Nr. II. der Regelung der Diagnostik im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (GE) im Entscheidungsverfahren zum Anspruch auf sonderpädagogische Förderung (Erlass vom 16. Juli 2019, III.A.l - 170.000.027 - 00249, ABl. 08/19 S. 783 ff., 794, im Folgenden: Erlass) sollen für einen Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung alle vorliegenden Informationsquellen zu einem umfassenden und vernetzten mehrperspektivischen Bild der Schülerin oder des Schülers zusammengeführt werden. Auf der Grundlage von Gesprächen, Beobachtungen, Beschreibungen der schulischen Leistung sowie durch den Einsatz standardisierter Testverfahren sind die lntelligenzentwicklung (Faktor 1) und die sozial-adaptiven Kompetenzen (Faktor 2) darzustellen. Aus einer umfassenden, schweren und lang andauernden Beeinträchtigung beider Faktoren ergibt sich der Anspruch auf eine Beschulung nach den Richtlinien für Unterricht und Erziehung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung vom 24. Januar 2013 (ABl. S. 101).

Diesen Erlass, durch den das Kultusministerium in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sowie der regionalen Beratungs- und Förderzentren aus allen Staatlichen Schulämtern fachliche Kriterien für die Diagnostik sowie davon ausgehend Formulare und Unterlagen entwickelt hat (vgl. Erlass, a. a. O., S. 783), wird vom Beschwerdegericht als Orientierungshilfe für die Abgrenzung, ob eine Beschulung im Förderschwerpunkt Lernen oder im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung angezeigt ist, zugrunde gelegt.

Danach kommt ein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung - und damit auch die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals einer geistigen Behinderung im Sinne von § 50 Abs. 3 HSchulG - bezogen auf die Intelligenzentwickung des Schülers nur in Betracht, wenn die nonverbal fluide lntelligenz der Schülerin oder des Schülers mindestens unterhalb eines Wertes von 70 (vgl. ICD-10 F70-F79) unter Berücksichtigung des durch das Testverfahren vorgegebenen Konfi-denzintervalls liegt (vgl. Erlass, a. a. O., S. 794).

Ein solcher IQ-Wert von unter 70 lässt sich vorliegend nicht feststellen. Unstreitig - insbesondere auch nach den Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angegriffenen Beschluss (vgl. S. 4 des Beschlussabdrucks) - wurde der Antragsteller einem Testverfahren durch die Diplom-Sonder- und Heilpädagogin/ Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Ilona Levin unterzogen, durch welches dem Antragsteller am 17. November 2017 ein IQ-Wert von 80 bescheinigt wurde. Außerdem wird in der Förderdiagnostischen Stellungnahme der Anne-Frank-Schule vom 2. Juni 2019, die sich über 20 Seiten erstreckt, die Feststellung eines Anspruchs des Antragstellers im Förderschwerpunkt Lernen empfohlen.

Diesen Feststellungen und Empfehlungen ist der Antragsgegner nicht hinreichend entgegengetreten.

In seinem "Bescheid" vom 21. Februar 2020, bei dem es sich der Sache nach um einen Widerspruchsbescheid handelt, stellt der Antragsgegner auf S. 2 dieses Bescheides in einem längeren Abschnitt die Stellungnahme der Frau Levin vom 17. November 2017 dar, die mit dem Satz schließt "Finn erzielte in diesem Index einen IQ-Wert von 80".

Ebenfalls wird dort in einem weiteren Absatz (a. a. O.) aus der Stellungnahme des rBFZ Kelkheim zitiert, die mit der Empfehlung schließt, "für Finn den Anspruch auf sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen festzustellen".

Es fehlen hinreichende Darlegungen des Antragsgegners, wieso trotz dieser Feststellungen ein IQ-Wert des Antragstellers von unter 70 vorliegen soll. Auch das Verwaltungsgericht verhält sich in der angegriffenen Entscheidung hierzu nicht zureichend.

Nach alledem war unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung der Antragsgegner zu verpflichten, den Antragsteller einstweilen im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen und nicht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu beschulen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf den §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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