VG Cottbus, Urteil vom 03.09.2020 - 3 K 1599/16.A
Fundstelle
openJur 2020, 48193
  • Rkr:
Tenor

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid der Beklagten vom 23. August 2016 wird hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz nach Afghanistan festzustellen.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volke der Hazara und islamischer Religionszugehörigkeit. Er hat zunächst die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz und weiter hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote vorliegen, begehrt.

Er reiste am 02. Februar 2013 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und stellte am 14. Januar 2014 einen Asylantrag. In der Erstbefragung am 16. Januar 2014 und in der Anhörung am 18. März 2014 gab der Kläger folgendes an: Er habe Afghanistan schon als Kleinkind mit fünf Jahren verlassen und habe anschließend 17 Jahre im Iran gelebt. Er habe Befürchtungen, von den Taliban willkürlich festgenommen zu werden. Er müsse in Afghanistan "irgendwo beitreten" und er müsse "zu irgendjemanden halten". Er habe keine weiteren Angehörigen in Afghanistan. Im Iran habe er drei Jahre auf dem Bau als Schweißer gearbeitet. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan werde er hungern müssen, da er keine Verwandte habe. Es gebe in Afghanistan zwar Arbeit, aber bis man diese bekäme, sei man verhungert. Er sei nicht politisch aktiv gewesen.

Mit Bescheid vom 23. August 2016 lehnte das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten ab, erkannte ihm weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiären Schutz zu (Ziffern 1 bis 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 S. 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). Gleichzeitig forderte das Bundesamt den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Zudem setzte es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest (Ziffer 6). Der Kläger sei kein Flüchtling. Er habe sich seit seiner frühsten Kindheit nicht mehr in Afghanistan aufgehalten und habe keine staatlich zu verantwortenden Verfolgungen glaubhaft gemacht. Die vorgetragenen Befürchtungen seien lediglich Mutmaßungen, welche nicht mit der Lebenswirklichkeit in Afghanistan in Einklang stünden. Es gebe keine Hinweise auf eine generelle Zwangsrekrutierung. Auch aus der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und des iranischen Akzents des Klägers folge nicht die Gefahr der landesweiten Verfolgung. Der Kläger habe keine persönlichen Umstände vorgetragen, die die Gefahr für ihn so erhöhten, dass von individuellen konfliktbedingten Gefahren im Rahmen des subsidiären Schutzes gesprochen werden könne. Hinsichtlich der Abschiebungsverbote führt es aus, dass der Kläger als volljähriger, gesunder Mann ohne Unterhaltslasten auch ohne Angehörige in Afghanistan, nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung in der Lage sein müsse, sich durch Gelegenheitsjobs ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren.

Mit seiner am 13. September 2016 bei Gericht eingegangenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Als Angehöriger der Minderheit der Hazara werde der Kläger diskriminiert. Dies werde noch durch die Tatsache verstärkt, dass er lange Zeit im Iran gelebt habe und einen iranischen Dialekt spreche. Er werde dadurch keine hinreichende Existenzgrundlage in Afghanistan vorfinden. Er leide außerdem an einer chronischen behandlungsbedürftigen PTBS, einer Angststörung und einer depressiven Störung. Ohne Behandlung würden sich die Krankheiten verschlimmern, insbesondere die somatisierenden Symptome zunehmen. Es sei mit weiteren Beschwerden zu rechnen. Eine unfreiwillige Rückkehr würde zu einer Retraumatisierung und zur Erhöhung der Suizidalität führen. Zum Beleg hat der Kläger psychologische Stellungnahmen von PP K... vom 21. Dezember 2016 (KommMit) und von Dr. med. G... (Sozialpsychiatrischer Dienst der Stadt C... ) vom 04. Januar 2018 und 11. Juli 2019 übersandt. Im Übrigen ist der Kläger der Auffassung, es bestehe aufgrund der derzeitigen Situation ein Abschiebungsverbot jedenfalls wegen des Covid-19-Virus.

Nachdem der Kläger die Anträge auf Anerkennung Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise auf subsidiären Schutz zurückgenommen hat, beantragt er nunmehr sinngemäß,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 23. August 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nach Afghanistan bestehen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Bescheids. Die Diagnose PTBS sei bisher nicht tragfähig nachgewiesen worden. Insbesondere sei das Vorhandensein traumaauslösender Ereignisse extremer lebensbedrohlicher Art als unabdingbare Voraussetzung einer PTBS nicht deutlich.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge (1 Heft, Beiakte I) sowie die Ausländerakte (1 Heft, Beiakte II) verwiesen, die jeweils zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.

Gründe

Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten in der Sache verhandeln und entscheiden, da diese ordnungsgemäß geladen und mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Im Übrigen hat die zulässige Klage Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 23. August 2016 ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylG) in Nr. 4 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach Afghanistan gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urt. v. 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 10; Urt. v. 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212). Für die Beantwortung der Frage, ob den Ausländer im Falle einer Abschiebung tatsächlich die Gefahr droht, einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen, wobei in einem ersten Schritt die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen sind. Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul, wohin die aus Deutschland durchgeführten Abschiebeflüge nach Afghanistan in der Regel führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12. Oktober 2018 - A 11 S 316/17-, juris, Rn. 202 f.).

Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich zum einen wiederum aus individuellen Umständen in einer Person des Ausländers ergeben. Zum anderen kann sie aber auch in besonderen Ausnahmefällen aus der allgemeinen Sicherheits- und humanitären Lage im Abschiebezielstaat resultieren, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Für die Annahme einer solchen extremen Gefahrenlage ist erforderlich, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen (st. Rspr., vgl nur BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 -, juris, Rn. 23 ff., m.w.N.).

2. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem besonderen Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer außergewöhnlichen Sicherheits- und humanitären Lage die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Afghanistan sowie insbesondere in der Stadt Kabul als Ankunftsort droht. Dies gilt vor allem wegen der Ausbreitung der Corona-Pandemie.

a) Allgemein stellt sich die Lage - vor Ausbruch der Corona-Pandemie - wie folgt dar:

Im Jahr 2018 belegte Afghanistan lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Indexes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 26). Gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt war Afghanistan im Jahr 1960 das sechstärmste Land der Welt und konnte seinen Rang bis zum Jahr 2016 nur um sechs Plätze verbessern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 23). Das Wirtschaftswachstum bewegt sich im unteren einstelligen Bereich und betrug im Jahr 2017 etwa 2,7 %. Im Jahr 2018 war infolge der Dürre ein Rückgang auf 1,5 % zu verzeichnen, wobei in diesem Jahr jedoch ein erneuter Anstieg auf 2,9 % erwartet wird, da es ergiebigere Niederschläge gegeben hat, welche dem Agrarsektor zu Gute gekommen sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Für das Jahr 2021 wurde - vor Ausbruch der allgemeinen Pandemielage - mit einem Wirtschaftswachstum von 3,6 % gerechnet (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 24).

Dem steht indes ein rapides Bevölkerungswachstum sowie die Verbesserung der Lebenserwartung gegenüber, was es dem afghanischen Staat - neben der Sicherheitslage - nahezu unmöglich macht, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Die Grundversorgung ist für Rückkehrer in besonderem Maße eine Herausforderung. Insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2019 6,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese Zahl soll nach Schätzungen im Jahr 2020 auf 14 Millionen steigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Besondere Probleme bezüglich Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung bestehen vor allem in den westlichen Provinzen sowie in Kunduz, Ghazni, Laghman und Kunar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Die Nahrungsmittelversorgung hat sich seit dem Jahr 2011 kontinuierlich verschlechtert. Während damals noch 30,1 % der afghanischen Bevölkerung unter moderater bis sehr schwerer Nahrungsmittelunsicherheit gelitten haben, stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 44,6 %. In der Winterpflanzsaison 2017/2018 kam es in Afghanistan zu einer langen Dürrperiode, die mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung betroffen hat und zu Gesundheitsproblemen und Einkommensreduzierungen um die Hälfte geführt hat (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Demgegenüber kam es in der ersten Jahreshälfte 2019 zu erheblichen Überschwemmungen im Süden, Westen und Norden des Landes, was ebenfalls mit wirtschaftlichen Problemen und Ernteausfällen einherging (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Etwa 27 % der im Jahr 2017 nach Afghanistan Zurückgekehrten mussten ihre Nahrungsaufnahme einschränken. Dies galt insbesondere für weibliche Rückkehrer und solche in den Städten. Rückkehrer, die dorthin gingen, wo sie familiäre Unterstützung erlangen konnten, waren hiervon weniger betroffen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37).

Kabul ist nicht die Stadt mit der größten Nahrungsmittelunsicherheit, allerdings ist die Stadt darauf angewiesen, einen Großteil ihrer Lebensmittel aus dem Umland einzuführen und Schwankungen dieses Versorgungsflusses können zur Verknappung einzelner Lebensmittel führen. Der afghanische Staat hat nicht die Möglichkeit, große Mengen Getreide einzulagern und hat es bisher auch nicht geschafft, vulnerable Haushalte durch Höchstpreisverordnungen oder ein Lebensmittelmarkensystem zu schützen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37). Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird für Kabul als angespannt angesehen. Dies bedeutet, dass auch mit humanitärer Hilfe ein Fünftel der Haushalte zwar ausreichend Nahrungsmittel hatten, im Gegenzug allerdings nicht mehr genug Geld für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Insgesamt hängt der Zugang zu Nahrungsmitteln von den finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen ab (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132).

Der Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitäranlagen hat sich erheblich verbessert, wobei dieser in den Städten besser ist als auf dem Land. Trotz dieser Verbesserungen bleibt der Zugang zu Trinkwasser ein Problem in Afghanistan. Gerade in Kabul haben nur 32 % der Bevölkerung Zugang zu fließendem Wasser und nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Jene, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oftmals weit von ihrer Unterkunft entfernt liegen. Darüber hinaus ist die Hälfte der Brunnen und Zapfstellen durch Abwässer verschmutzt, die in den Fluss Kabul eingeleitet werden. Etwa 50 % der Afghanen hat Zugang zu Sanitäranlagen (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Obwohl der Großteil der afghanischen Bevölkerung noch auf dem Land lebt, hat Afghanistan eine der weltweit höchsten jährlichen Stadtbevölkerungswachstumsraten. Schätzungen schwanken zwischen 3,4 und 4,4 % jährlich. Diese hohe Wachstumsrate beruht neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum auch auf einer hohen Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Der Großteil der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums, worunter 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan zu fassen sind (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Etwa 70 % der Bevölkerung Kabuls lebt in illegalen Siedlungen, also Bereichen, in denen Gebäude auf Land errichtet wurden, welches den Bauherren nicht gehörte und/oder bei denen die Gebäude nicht den Bauvorschriften entsprechen. Diese illegalen Siedlungen bieten wichtige und preiswerte Unterkunft für den Großteil der Stadtbevölkerung. Die Bevölkerungsdichte ist dort bis zu doppelt so hoch wie in anderen Teilen der Stadt. Zwar haben diese illegalen Siedlungen dazu geführt, dass eine große Obdachlosenkrise ausblieb, das unkontrollierte Wachstum hat jedoch auch bestehende Probleme, wie das Fehlen der Kanalisation und die unzureichende Müllentsorgung, verschärft (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 56). Eine andere Unterbringungsalternative sind (bzw. waren bis zum Ausbruch der Pandemie) Teehäuser, die zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht kosten und als vorübergehende Unterkunft von Reisenden, Tagelöhnern, Straßenverkäufern, jungen Leuten, alleinstehenden Männern und anderen Personen ohne dauerhafte Unterkunft in der Gegend genutzt werden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Das afghanische Gesundheitssystem hat sich seit dem Jahr 2001 - bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie - erheblich verbessert. So ist unter anderem die Anzahl funktionierender Gesundheitseinrichtungen von 496 im Jahr 2002 auf über 2.800 im Jahr 2018 gestiegen. Trotz dieser Verbesserungen steht das afghanische Gesundheitssystem jedoch weiterhin vor Herausforderungen, wie der zerstörten Infrastruktur, fehlendem Fachpersonal, unterfinanzierten Einrichtungen, fehlender Sicherheit und tiefgreifender Armut. Im Jahr 2017 bestanden in 53 % der im Rahmen einer Studie untersuchten Gesundheitseinrichtungen strukturelle und Instandhaltungsprobleme und in 45 % der Einrichtungen wurden schlechte hygienische Bedingungen vorgefunden. Auch fehlte in 20 % der Einrichtungen ein Anschluss an das Stromversorgungsnetz. Darüber hinaus wird das Gesundheitssystem durch die inländischen Fluchtbewegungen und die vielen Rückkehrer zusätzlich belastet. Viele örtliche Einrichtungen sind nicht in der Lage, die zusätzliche Belastung zu stemmen und den zusätzlichen Hilfebedarf zu bewältigen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 25).

Der Großteil der afghanischen Bevölkerung hat - jedenfalls bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie - Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung, auch wenn es gerade in ländlichen Bereichen noch Versorgungslücken gibt. 93 % der Bevölkerung wohnt in einem Radius von zwei Stunden von einer öffentlichen Praxis, 82,4 % leben weniger als zwei Stunden von einem Bezirks- oder Provinzkrankenhaus entfernt und 94,8 % wohnten in einer Entfernung von weniger als zwei Stunden zu einer Apotheke. Nach den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums wohnten 60 % der Bevölkerung weniger als eine Gehstunde entfernt von der nächsten Praxis (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 45). Nach der afghanischen Verfassung soll die medizinische Behandlung kostenlos sein. Dies ist jedoch selbst in vielen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen nicht der Fall. Auch dort müssen viele Patienten für Medikamente, Arzthonorare, Laboruntersuchungen und Krankenhausaufenthalte bezahlen. Die hierdurch entstehenden hohen Kosten sind der Grund dafür, dass viele Menschen nicht zum Arzt gehen oder nach einem Arztbesuch Schulden machen müssen. Die hohen Kosten gerade auch für Medikamente führen dazu, dass selbst Personen, die Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben, die dort verschriebenen Therapien nicht einhalten können, weil die Medikationskosten zu hoch sind (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 46 f.).

Die Behandlung in einem afghanischen Krankenhaus ist oftmals nur darstellbar, wenn der Patient durch Verwandte oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 23). Die afghanische Bevölkerung hegt ein großes Misstrauen gegen das staatliche finanzierte Gesundheitssystem. Die Qualität der Kliniken variiert stark und es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30). Die "guten" Krankenhäuser in Kabul können die erhöhte Nachfrage nicht bedienen, sodass viele Afghanen auf private Kliniken ausweichen, in denen noch höhere Kosten anfallen, oder ins benachbarte Ausland fahren, um schwerwiegende Erkrankungen behandeln zu lassen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 47). Gerade in Kabul ist der Zugang zur medizinischen Versorgung leichter als in anderen Städten. Dort gibt es 47 Gesundheitseinrichtungen. Eine spezielle Traumaversorgung wird zudem von der italienischen Nichtregierungsorganisation Emergency bereitgestellt. Die kostenfreie Behandlung psychischer Erkrankungen wird durch zwei öffentliche Gesundheitseinrichtungen gewährleistet, auch wenn für die Medikamente gegebenenfalls gesondert bezahlt werden muss und auch informelle Gebühren erhoben werden können. Daneben gibt es kostenpflichtige Angebote für die psychiatrische Behandlung durch privater Anbieter und Kliniken. Ebenfalls wird psychische Unterstützung durch eine ausländische Nichtregierungsorganisation bereitgestellt (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 5).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist im Wesentlichen durch die Landwirtschaft dominiert und besteht darüber hinaus aus einem großen Anteil von Selbständigen oder Personen, die im Familienbetrieb arbeiten. Etwa 54% der afghanischen Bevölkerung befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Aufgrund der vielen jungen Afghanen - 25 % sind zwischen 15 und 30 Jahren alt - streben Jahr für Jahr immer mehr Personen auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsmöglichkeiten können jedoch aufgrund unzureichender wirtschaftlicher Entwicklung und schlechter Sicherheitslage nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Etwa 23,9 % der afghanischen Bevölkerung sind arbeitslos, was heißt, dass sie keine Arbeit haben oder suchen oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten. Gerade bei den Personen unter 25 und über 50 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. So beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 31 %. Die Arbeitslosenquote unterliegt auch saisonalen Schwankungen und liegt im Frühjahr und Sommer bei etwa 20%, während sie im Winter auf bis zu 32,5 % ansteigen kann (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 27). Etwa 80% der Arbeitsstellen sind als unsicher zu qualifizieren und werden als selbständige Tätigkeit, Tagelöhner oder unbezahlte Arbeit ausgeübt. Weder Bildung noch Arbeit sind zudem eine Garantie gegen Armut (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Die Stadt Kabul ist der Dreh- und Angelpunkt für Handel und Arbeit in Afghanistan. Sie besitzt eine wirtschaftlich aktive Bevölkerung, die in Berufen im Bereich des Handels, der Dienstleistungen und der Grundversorgung tätig ist. In der Stadt gibt es eine große Zahl von Festanstellungen, während Selbständigkeit weniger häufig ist, als in den ländlichen Bereichen. Insgesamt sind auch die Löhne in Kabul höher als in anderen Landesteilen, insbesondere für Personen, die für ausländische Organisationen arbeiten (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Für Rückkehrer aus dem Ausland ist das Finden einer Verdienstmöglichkeit eine große Herausforderung. Die Rückkehrer stellen neben den Binnenflüchtlingen eine zusätzliche Arbeitsmarktkonkurrenz für die einheimische Bevölkerung dar. Dies kann zu Konflikten zwischen diesen Gruppen führen. In den Jahren 2016 und 2017 waren ungelernte Hilfstätigkeiten die Haupteinkommensquelle für Rückkehrer und im Jahr 2017 beschrieben mehr als 24 % der Rückkehrer das Finden einer Verdienstmöglichkeit als überwältigende Herausforderung (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 29 f.). Eine besondere Rolle beim Finden einer Verdienstmöglichkeit spielt das Bestehen eines sozialen Netzwerks. Dies kann zum einen die Großfamilie sein, jedoch auch Netzwerke aufgrund eines gemeinsamen Hintergrunds, gemeinsamer Arbeit oder gleichen Bildungsstands können eine Rolle spielen. So wird berichtet, dass Siedlungen in Kabul oftmals aus Personen bestehen, die einen gemeinsamen räumlichen oder ethnischen Hintergrund haben und die sich ausschließlich aufeinander verlassen, um Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten zu finden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 134).

In Kabul können Rückkehrer grundsätzlich nur als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen können nicht jeden Tag eine Verdienstmöglichkeit finden, sodass ihr Einkommen unsicher ist. Die meisten offiziellen Rückkehrer erhalten etwas finanzielle Unterstützung vom UNHCR (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 31). Unter anderem Deutschland arbeitet eng mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Afghanistan zusammen, insbesondere, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul mit bis zu zweiwöchiger Unterbringung und Begleitung der Reintegration einschließlich der Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder der Gewährung eines Anstoßkredits (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30).

b) Nach der ständigen Rechtsprechung hat sich bislang aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan grundsätzlich nicht ergeben, dass ein alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten wird, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt.

Auch wenn die Versorgungslage in Afghanistan schlecht ist, ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen wird oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten sind. Der Betroffene ist selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (vgl. statt vieler: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A -, juris; Bayerischer VGH, Urt. v. 12. Februar 2015 - 13a B 14.30309 -, juris, Rn. 17; Sächsisches OVG, Beschl. v. 21. Oktober 2015 - 1 A 144/15.A -, juris; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 20. Juli 2015 - 9 LB 320/14 -, juris; siehe auch Urt. d. Kammer v. 08. Januar 2020 - VG 3 K 41/17.A -, juris; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 137). Nach der Einschätzung des EASO drohen zwar auch in diesen Städten harte Lebensumstände, jedoch können junge, gesunde und arbeitsfähige Männer, die nicht auch noch für andere Personen sorgen müssen und bei denen auch keine sonstigen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ihre Grundbedürfnisse an Unterkunft, Kleidung und Hygiene in diesen Städten decken.

Liegt nach alledem nahe, dass in der Regel Rückkehrer aus Europa nicht unmittelbar in eine extreme Gefahrenlage geraten, kann im Einzelfall bei Personengruppen mit erhöhten Gefährdungspotential auch nach dem strengen Maßstab des Art. 3 EMRK eine Situation bestehen, bei der sich die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung als zwingend erweisen. Dies kann insbesondere bei Familien und alleinstehenden Frauen der Fall sein. Aber auch bei jungen, alleinstehenden Männern können bestimmte Persönlichkeitsdefizite dazu führen, im Einzelfall eine extreme Gefahrenlage anzunehmen, so dass insbesondere bei Personen, die nie bzw. nur in Kindesjahren in Afghanistan gelebt haben, maßgeblich sein kann, in welchem Alter sie Afghanistan verlassen haben, welche Verbindungen noch zu und in Afghanistan bestehen, welche Sprachen sie sprechen, welche Bildung sie genossen haben und ob zu erwarten ist, dass sie sich schnell an die Gepflogenheiten anpassen können (vgl. allgemein zu den Kriterien bei sogenannten "faktischen Iranern", im Ergebnis jeweils das Bestehen eines Abschiebungsverbots verneinend: VGH Hessen, Urt. v. 27. September 2019 - 7 A 1923/14.A -, juris, Rn. 187 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26. Juni 2019 - A 11 S 2108/18 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18 Juni 2019 - 13 A 3930/18.A -, juris, Rn. 297 ff.; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 29. Januar 2019 - 9 LB 93/18 -, juris, Rn. 137 ff.). So führt insbesondere Amnesty International (Stellungnahme an das VG Leipzig zur Situation von Rückkehrern vom 08. Januar 2018, S. 13 ff) aus, dass Personen, die Afghanistan als Kinder verlassen haben und in die Nachbarländer gezogen sind oder sich im westlichen Ausland aufgehalten haben, mit den kulturellen Gepflogenheiten nicht vertraut und wegen ihrer Sprache, ihrer Kleidung und ihres Verhaltens leicht zu erkennen seien. Ihnen werde mit Argwohn und Skepsis begegnet. Diese führe zur sozialen Ausgrenzung und Stigmatisierung. Diesen Personen fehle deshalb der Zugang zu den sozialen Netzwerken, die eine Schutzfunktion hätten. Das führe zu erheblichen Schwierigkeiten beim Finden von Unterkunft und Arbeit.

Erschwert wird das Finden von Unterkunft und Arbeit durch die Ausbreitung der Corona-Pandemie in Afghanistan. Dies führt nicht zu einer erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen.

Am 03. September 2020 gab es in Afghanistan 38.288 bestätigte Fälle aus allen 34 Provinzen Afghanistans, von denen 29.390 als genesen gelten und 1.410 verstorben sind und insgesamt 103.722 Personen bei einer Bevölkerung von 37,6 Millionen getestet wurde (vgl. UNOCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: COVID 19, No. 73, 3. September 2020). Am meisten betroffen sind - gemessen an den bestätigten Fällen - die Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh (Stand 02. September 2020, vgl. BAMF Briefing Notes v. 07. September 2020) . Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazität sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle und Todesfälle wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (vgl. UNOCHA, Afghanistan Flash Update: Daily Brief: Covid-19, No. 41, S. 1; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020).

Der afghanische Staat hat deswegen weitgehende Beschränkungen beschlossen. So gibt es landesweit "angemessene Ausgangsbeschränkungen", die zur Schließung von Teilen von Städten bzw. Bewegungsbeschränkungen geführt haben. Obwohl Mitarbeiter von Hilfsorganisationen die Erlaubnis haben, ihren Aufgaben weiter nachzugehen, berichteten Nichtregierungsorganisationen von regelmäßigen Verzögerungen und Erschwernissen. Mittlerweile sind die Beschränkungen des inländischen Verkehrs zwar gelockert worden (TOLOnews, Kabul Residents, Heeding Health Advice, Stay Home for Eid, 25. Mai 2020), eine vollständige Aufhebung ist indes noch nicht geplant (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 11. Mai 2020, S. 2). Die landesweiten Sperrmaßnahmen bleiben weiterhin in Kraft (vgl. jüngst: UNOCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: COVID 19, No. 73, 3. September 2020; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020;).

Auf dem Arbeitsmarkt haben sich die veränderten Umstände in einer höheren Arbeitslosigkeit niederschlagen. Das Arbeitsministerium berichtet von zwei Millionen Menschen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie arbeitslos geworden sind (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Dies betrifft vor allem den Tagelöhnermarkt, die meisten Tagelöhner blieben arbeitslos (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020). Das Wirtschaftsministerium warnte zuvor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40 % und die Armut um 70 % aufgrund des Covid-19-Virus steigen werde (TOLOnews, Union: 2 Million Afghans Lose Jobs Amid Covid-19, 01. Mai 2020). Die Kaufkraft gewöhnlicher Arbeit ist wegen gestiegener Preise und gesunkener Löhne um 14 bis 21 % gesunken (UNOCHA, Afghanistan, Brief COVID-19, No. 38, 23. April 2020, S. 2). Hinzu kommt, dass in Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben, darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viele Afghanen sind. Für Afghanistan bedeutet dies, dass Überweisungen der Arbeitsmigranten ausfallen, welche für viele Familien die Lebensgrundlage bilden (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Gleichzeitig kehrten vom 01. Januar bis 29. August 2020 etwa 486.050 Menschen aus dem Iran nach Afghanistan zurück (UNOCHA, Afghanistan: Weekly Humanitarian Update 31 August - 6 September 2020, S. 1). Während sich die Zahl der Iranrückkehrer in der Woche vom 20. April 2020 auf üblichem Niveau bewegte, war die Prozentzahl derer, die eine gewisse humanitäre Ankunftshilfe benötigen, von sonst üblichen 20 auf 100 Prozent gestiegen (UNOCHA, Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 41, 3. Mai 2020, S. 3). Für 2020 geht die Weltbank von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 22). Es wird erwartet, dass die Armutsquote von 55 auf 68 Prozent steigen wird (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24. August 2020).

Rückkehrer aus dem Ausland stehen bei der Arbeitssuche vor einer zusätzlichen besonderen Herausforderung, weil diese als vermeintlich Verantwortliche für die Gefahr durch das Corona-Virus stigmatisiert werden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 2). Dabei können sie nicht im bisherigen Umfang von Rückkehrprogrammen profitieren. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ("Lockdown") behindern entgegen anderslautender Versicherungen der Regierung teilweise die Arbeit der Mitarbeiter der UN und von Nichtregierungsorganisationen (UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 20. Mai 2020, S. 1). Die Nichtregierungsorganisation ACE, bei der Rückkehrer Unterstützungshilfen nach ERIN beantragen müssen, ist seit 28. März 2020 geschlossen (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener. 27. März 2020, S. 3).

Hinzu kommt, dass auch die Kosten der Lebenshaltung gestiegen sind. Das UN-Welternährungsprogramm WFP stellte in seinem jüngsten Bericht einen Preisanstieg von etwa 20 Prozent für Mehl und Speiseöl in Afghanistan fest. Auch andere Grundnahrungsmittel wie Reis und Zucker sind teurer geworden (UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 20. Mai 2020, S. 1). Ebenso problematisch stellt sich die Versorgung mit Wasser dar. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischen Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020).

Rückkehrer stehen angesichts der völlig unzureichenden Versorgungslage zudem vor der Problematik, eine Unterkunft zu finden. Im Hinblick auf die in Großstädten, vor allem Kabul als etwaigen Rückkehrort, überwiegend beengten Unterbringungsverhältnissen und des vorgegebenen "social distancing", bestehen kaum Möglichkeiten, Obdach zu finden. Der Verweis auf eine Unterbringung in sogenannten Teehäusern erscheint auf absehbare Zeit kaum mehr möglich, denn es wird davon berichtet, dass diese sukzessive geschlossen wurden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 3). Auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet am 21. Juli 2020, dass die meisten Hotels, Teehäuser und ähnlichen Orte geschlossen seien, es sei denn, sie würden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020, S. 3).

Auf Grundlage der Erwartung des afghanischen Gesundheitsministeriums, dass die größte Welle der Infektionen mit dem Corona-Virus noch bevorsteht, führt all dies zu der Einschätzung, dass es zu einem extremen Versorgungsengpass kommen wird, der vor allem die Ärmsten, insbesondere Tagelöhner stark treffen wird (vgl. Tagesschau, Mit dem Virus droht der Hunger, 03. Mai 2020). Neben den Versorgungsengpässen ist zudem zu befürchten, dass eine "Gesundheitskatastrophe" bevorsteht (TOLOnews, Afghanistan Likely Facing COVID-19 ‚Health Disaster‘: SIGAR, 01. Mai 2020; SIGAR, Quarterly Report to the United States Congress, 30. April 2020, S. 4). Auch Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht hätten, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen habe (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21 Juli 2020). Es wird erwartet, dass sich die bereits prekäre Lage weiter verschlechtert und dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u.a. Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung) angewiesen sein werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 23).

Das sich aus diesen unterschiedlichen (größtenteils online verfügbaren, vgl. etwa Corona-Tracker des VGH Baden-Württemberg) Quellen ergebende Lagebild in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in Afghanistan insgesamt, stellt sich zur Überzeugung des Gerichts so dar, dass bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK erfüllt sein können, sofern diese aufgrund ihrer Bildungs- und Arbeitsbiografie lediglich auf den Tagelöhnermarkt verwiesen werden können und im Übrigen nicht zu erwarten ist, dass diese von Dritten erhebliche finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhalten und zunächst in Afghanistan bei Bezugspersonen Unterkunft finden können (vgl. so auch: VG Hannover Urt. v. 09. Juli 2020 - 19 A 11909/17 -, juris, Rn. 44 ff.; Urt. d. Kammer v. 29. Mai 2020 - VG 3 K 633/20 -, juris; vgl. zum Meinungsstand in der Rechtsprechung: VG Hamburg, Urt. v. 07. August 2020 - 1 A 3562/17 -, juris, Rn. 47 ff.). Dabei ist das Gericht davon überzeugt, dass die aufgrund des Auftretens von Covid-19-Fällen veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, andauern werden. Selbst im Falle der vollständigen Aufhebung von Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen ist aufgrund der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes nicht damit zu rechnen, dass sich die Situation in Kabul alsbald nach Aufhebung von Beschränkungen wesentlich verbessern wird. Wann und in welchem Umfang sich eine Besserung einstellen wird, ist vielmehr nicht absehbar.

c) Dies zugrunde gelegt, gelangt das Gericht in dem hier zu entscheidenden Einzelfall zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine extreme Gefahrenlage droht, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung um Sinne von Art. 3 EMRK führt. Bei dem Kläger handelt es sich um einen mittlerweile volljährigen jungen Mann, der lediglich die ersten fünf Lebensjahre in Afghanistan verbracht hat und danach im Iran gelebt hat. Er ist seit über sieben Jahren in Deutschland. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger keine ausreichenden Kenntnisse (mehr) von den örtlichen Verhältnissen in Afghanistan hat. Nachhaltige berufliche und eigenständige soziale Erfahrungen in Afghanistan hat der Kläger nicht sammeln können. Das Land ist ihm unbekannt, er verfügt dort weder über familiären noch sozialen Rückhalt. Seine Eltern sind verstorben und auch auf andere aufnahmebereite Verwandte oder andere Kontakte kann der Kläger- nach seinen glaubhaften Angaben - nicht zurückgreifen. Die Aufnahme- und Unterbringungssituation des Klägers in Afghanistan ist damit völlig ungeklärt.

Es stellt sich zudem für den Kläger als überaus nachteilig dar, dass er nicht über besondere Qualifikationen verfügt, mit denen er sich am afghanischen Arbeitsmarkt von den anderen Männern abheben kann. Er hat die Schule im Iran nach der fünften Klasse abgebrochen. Seine berufspraktischen Erfahrungen auf dem iranischen Arbeitsmarkt beschränken sich auf ungelernte und untergeordnete Tätigkeiten auf dem Bau. Auch in der Bundesrepublik hat der Kläger - abgesehen von einem etwa dreiwöchigen "Probearbeiten" auf einer Baustelle im Jahr 2016 - keine weiteren Bildungsfortschritte oder Arbeitserfahrungen erzielt. Über die in seinem Fall für die Vermittlung einer Arbeitsstelle und Unterkunft erforderliche Hilfe durch ein wie auch immer geartetes soziales Netzwerk steht dem Kläger in Afghanistan nicht zur Verfügung.

Schließlich hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass es dem Kläger aufgrund seiner schlechten psychischen Verfassung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, sein Leben in Afghanistan allein zu organisieren und erst recht nicht, ohne Hilfe eine Unterkunft zu finden oder sich auf dem hart umkämpften Tagelöhnermarkt durchzusetzen. Auch wenn der Kläger keine den höchstrichterlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung psychischer Erkrankungen genügende ärztliche Atteste über seine psychische Erkrankung vorgelegt haben dürfte (vgl. zu diesem Aspekt: VG Berlin, Urteil vom 17. Dezember 2019 - VG 17 K 216.17 -, u.v.), entstand beim Gericht aufgrund der vorgelegten fachpsychologischen Stellungnahmen - von PP K... vom 21. Dezember 2016 (KommMit) sowie von Dr. med. G... (Sozialpsychiatrischer Dienst der Stadt C... ) vom 04. Januar 2018 und 11. Juli 2019 - und aufgrund des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Eindruck, dass seine psychische Belastbarkeit erheblich eingeschränkt ist. Hier ist insbesondere beachtlich, dass der Kläger sich danach bereits seit 2014 in Behandlung befindet und seit Anfang 2017 vom sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt C... behandelt wird und monatlich Termine wahrnimmt. Seine psychischen Probleme haben offenbar auch dazu geführt, dass der Kläger keine nennenswerten Integrationsleistungen in Deutschland erbracht hat.

Scheitert der Kläger schon bei der hier vorhandenen Unterstützung daran, sich Arbeit zu suchen und ein soziales Netzwerk aufzubauen, dürfte seine Durchsetzungskraft erst Recht nicht ausreichend dafür sein, sich in Afghanistan zu behaupten. Wie es dem Kläger vor dem Hintergrund der ohnehin angespannten Wohnungs- und Arbeitsmarktlage unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände und insbesondere angesichts der Auswirkungen durch Corona gelingen soll, völlig auf sich alleingestellt, zeitnah Obdach und Arbeit zu finden und seinen nötigsten Lebensunterhalt zu bestreiten, vermag das Gericht nicht zu erkennen.

Da der Kläger aus diesem Grund einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat, bedarf es keiner Entscheidung mehr über das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Denn die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG bilden einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. Juli 2017 - BVerwG 1 VR 3.17 -, juris, Rn. 71 f.).

2. Der Klage war mithin - soweit sie aufrechterhalten worden ist - stattzugeben. Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheides war insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan vorliegen. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids vom 12. September 2016 aufzuheben. Auch das in Ziffer 6 des Bescheids verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot war aufzuheben, da dieses nach Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage nach § 60 Abs. 5 AufenthG entfällt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 154 S. 2 VwGO. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten sowie der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Vollstreckbarkeitsentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

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