VerfGH für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.08.2020 - VerfGH 65/20 und VerfGH 66/20
Fundstelle
openJur 2020, 48148
  • Rkr:
Tenor

Die Verfahren werden eingestellt.

Dem Beschwerdeführer sind die notwendigen Auslagen in dem Organstreitverfahren und dem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom Land Nordrhein-Westfalen zu erstatten.

Gründe

I.

Der Antragsteller, ein Bezirksverband einer politischen Partei, hatte sich mit dem vorliegenden, mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundenen Organstreitverfahren gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen gewandt. Der Gesetzgeber habe angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie die Pflicht gehabt, die Regelungen über die Beibringung von Unterstützungsunterschriften für die Einreichung von Wahlvorschlägen für die Kommunalwahlen 2020 zu ändern.

Er hat mit dem verfahrenseinleitenden Schriftsatz vom 15. Mai 2020 beantragt,

festzustellen, dass der Antragsgegner dadurch die Rechte des Antragstellers auf Chancengleichheit verletzt hat, dass er es unterlassen hat, durch eine Änderung der § 15 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3, Satz 4 und Satz 5 KWahlG NRW die Vorschriften für die Einreichung von Wahlvorschlägen zur Kommunalwahl 2020 zu ändern.

Der Antragsteller hat zur Begründung im Wesentlichen geltend gemacht: Wahlrechtliche Zulassungsbeschränkungen, wie insbesondere das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge, beeinträchtigten die Chancen- und passive Wahlrechtsgleichheit der betroffenen Parteien und der von ihr vorgeschlagenen Bewerberinnen und Bewerber. Die nach § 15 Abs. 1 Satz 3 KWahlG NRW notwendige Zahl von Unterstützungsunterschriften sei erheblich und bewege sich - auch ungeachtet der pandemiebedingten besonderen Umstände - mindestens an der Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren. Umso mehr werde die Chancengleichheit der Parteien durch die rechtlichen und faktischen Beschränkungen beeinträchtigt, denen sie gegenwärtig angesichts der Corona-Pandemie unterlägen. Jedermann vermeide unnötige Kontakte; Gerichte schränkten ihren Sitzungsbetrieb ein; mit Bars, Kneipen und Diskotheken seien ganze Wirtschaftszweige geschlossen. Vor diesem Hintergrund sei die Sammlung von Unterschriften in erheblicher Weise erschwert.

Der Antragsteller hat ferner den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der festgestellt werden sollte, dass § 15 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3, Satz 4 und Satz 5 KWahlG NRW für die Einreichung von Wahlvorschlägen zur Kommunalwahl 2020 keine Anwendung finde.

Nachdem die erste und zweite Lesung am 28. und 29. Mai 2020 stattgefunden hatten, ist am 3. Juni 2020 das Gesetz zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 (GV. NRW. S. 379) in Kraft getreten. Mit diesem hat der Landesgesetzgeber auf mögliche Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die im Herbst 2020 anstehenden Kommunalwahlen reagiert. Durch § 6 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 ist bestimmt worden, dass abweichend von § 15 Abs. 1 Satz 1 KWahlG NRW Wahlvorschläge bis zum 48. Tag vor der Wahl (hier: 27. Juli 2020), 18 Uhr, beim Wahlleiter eingereicht werden können. Ferner ist die Anzahl der notwendigen Unterstützungsunterschriften für Wahlbezirksvorschläge und Reservelisten auf 60 % des nach § 15 Abs. 2 Satz 3 und § 16 Abs. 1 Satz 3 KWahlG NRW erforderlichen Quorums gesenkt worden (vgl. §§ 7 und 8 des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020).

Nachdem das vorgenannte Gesetz in Kraft getreten ist, haben der Antragsteller und der Antragsgegner die Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt.

II.

1. Das Verfahren ist einzustellen, weil die Beteiligten das Organstreitverfahren sowie den dazugehörigen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Ein öffentliches Interesse an der Fortsetzung der Verfahren besteht nicht, so dass dahinstehen kann, ob der Verfassungsgerichtshof sie andernfalls fortsetzen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. Juni 2015 - 2 BvE 5/12, 2 BvE 3/13, BVerfGE 139, 239 = juris Rn. 13 m. w. N.).

2. Über die Erstattung der Auslagen ist nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden (§ 63 Abs. 5 VerfGHG). Dabei kann insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zukommen. So ist es in Verfassungsbeschwerdeverfahren billig, beschwerdeführenden Personen die Erstattung ihrer Auslagen zuzuerkennen, wenn die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abhilft, weil in diesem Fall davon ausgegangen werden kann, dass sie das Begehren der beschwerdeführenden Personen selbst für berechtigt erachtet hat. Im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs begegnet es allerdings Bedenken, wenn im Falle einer Erledigung über die Auslagenerstattung - analog den Regelungen in den Verfahrensordnungen für die Fachgerichte (§ 91a ZPO, § 161 Abs. 2 VwGO, § 138 Abs. 1 FGO) - aufgrund einer überschlägigen Beurteilung der Erfolgsaussichten entschieden und dabei zu verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen aufgrund einer lediglich kursorischen Prüfung Stellung genommen werden müsste. Diese Bedenken greifen allerdings dann nicht ein, wenn die Erfolgsaussicht in einem Verfahren unterstellt werden kann oder wenn die verfassungsrechtliche Lage - etwa durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in einem gleichgelagerten Fall - bereits geklärt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2013 - 1 BvR 367/12, BVerfGE 133, 37 = juris, Rn. 2 m. w. N.).

Überträgt man die vorgenannten, für das Verfassungsbeschwerdeverfahren entwickelten Grundsätze auf das Organstreitverfahren, ist vorliegend unter Billigkeitsgesichtspunkten eine Erstattung der Auslagen des Antragstellers für das Organstreitverfahren sachgerecht. Es spricht viel dafür, dass die besonderen tatsächlichen und rechtlichen pandemiebedingten Rahmenbedingungen, unter denen die diesjährigen Kommunalwahlen einschließlich der Wahlvorbereitung stattfinden, eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Überprüfung und Anpassung des Wahlgesetzes jedenfalls in Bezug auf die bestehenden Regelungen zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften im Kommunalwahlgesetz NRW ausgelöst haben (vgl. VerfGH NRW, Beschlüsse vom 30. Juni 2020 - VerfGH 63/20.VB-2, juris, Rn. 47, und vom 7. Juli 2020 - VerfGH 88/20, juris, Rn. 71 ff.). Insoweit hatte der Antrag im Organstreitverfahren ursprünglich eine gewisse Aussicht auf Erfolg und die öffentliche Gewalt hat der geltend gemachten Beschwer durch den Erlass des Gesetzes zur Durchführung der Kommunalwahlen 2020 abgeholfen.

Im Zeitpunkt der Einleitung der Verfahren war die spätere Änderung der Regelungen über die Einreichung der Wahlvorschläge für den Antragsteller nicht absehbar. Auf ein weiteres Zuwarten konnte er angesichts des drohenden Fristablaufs am 16. Juli 2020 nicht verwiesen werden.

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