SG Aachen, Urteil vom 28.07.2020 - S 12 SB 588/19
Fundstelle
openJur 2020, 46752
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des der Klägerin zustehenden Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Das Versorgungsamt Aachen stellte mit Bescheid vom 17.10.1990 bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin aufgrund eines Wirbelsäulensyndroms, psychovegetativer Störungen sowie einer Schilddrüsenvergrößerung einen GdB von 30 fest.

Am 18.02.2019 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag und gab hierbei an, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen hätten sich verschlimmert. Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte des behandelnden Chirurgen Dr. M., des Allgemeinmediziners Dr. Q und des Neurologen und Psychiaters Dr. C. nebst diversen weiteren Arztberichten ein und wertete diese durch seinen ärztlichen Dienst aus. Dieser kam zu der Einschätzung, die Funktionsstörung der Wirbelsäule sei weiterhin mit einem GdB von 20, die seelische Stö-rung weiterhin mit einem GdB von 20 und die Schilddrüsenvergrößerung weit mit einem GdB von 10 zu bewerten, was weiterhin einen Gesamt-GdB von 30 ergebe.

Mit Bescheid vom 15.04.2019 lehnte der Beklagte daraufhin die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung ab. Hiergegen legte die Klägerin am 03.05.2019 Widerspruch ein, in dem sie erneut ausführte, die bei ihr bestehenden Krankheiten hätten sich verschlimmert. Zur weiteren Begründung fügte die Klägerin weitere Arztberichte bei. Der ärztliche Dienst des Beklagten nahm auch hierzu Stellung und kam zu der Einschätzung, es könnten als weitere Funktionsbeeinträchtigungen solche der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von 10 und solche der oberen Gliedmaße ebenfalls mit einem GdB von 10 berücksichtigt werden. Der Gesamtgrad der Behinderung ändere sich hierdurch nicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2019 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 02.08.2019 Klage erhoben. Sie vertritt weiterhin die Auffassung, ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen hätten sich verschlimmert. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Allgemeinmediziners Q sowie des Internisten Dr. I. Daneben hat es ein neurologischpsychiatrisches Gutachten des Herrn X. nebst eines orthopädischen Zusatzgutachtens des Dr. T., welche diese nach entsprechender Begutachtung der Klägerin gegenüber dem Gericht erstattet haben, eingeholt.

Am 28.07.2020 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden, zu dem die ordnungsgemäß geladene Klägerin, deren persönliches Erscheinen nicht angeordnet gewesen ist, nicht erschienen ist.

Sie hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2019 zu verurteilen, bei ihr ab Antragstellung einen höheren Grad der Behinderung als 30 festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen seines ärztlichen Dienstes sowie die im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in ihren Rechten verletzt, da die Bescheide rechtmäßig sind. Der Klägerin steht kein höherer Grad der Behinderung als 30 zu.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – (SGB IX) in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) sind Menschen mit Behinderungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt dabei dann vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX.

Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (Bundessozialgericht - BSG – Beschluss vom 01.06.2017 – B 9 SB 20/17 B = juris; BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; Landessozialgericht - LSG – Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 (a.F.) Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008, zuletzt geändert Artikel 26 des Gesetzes vom 12.12.2019 (BGBl. I S. 2652), die wegen § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt (Versorgungsmedizinische Grundsätze), sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grunds-ätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 – L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 – L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht die Feststellung eines GdB von mehr als 30 rechtfertigen.

Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter:

1. Degenerativem Halswirbelsäulensyndrom mit Wirbelgelenksverschleißschaden, mit von der Klägerin angegebenen überwiegend lokalen Nackenbeschwerden bei der Arbeit seit 1988, zeitweilig verbunden mit Kopfschmerzen 2. Degenerativem Lendenwirbelsäulensyndrom, flache lang gestreckten linkskonvexe Skoliose der Lendenwirbelsäule und Asymmetrie des lumbosacralen Übergangs 3. Leichtgradige Scapula alata links nach operativer Entfernung eines gutartigen Tumors in diesem Bereich 4. Hinweise auf eine Ansatztendinose der Supraspinatussehne an der rechten Schulter und ein subacromiales Impingementsyndrom an der linken Schulter und Zustand nach einem 2018 konservativ behandelt den Riss der langen Bizepssehne links mit von der Klägerin angegebenen wiederkehrenden Beschwerden in der linken Schulter seit mehreren Jahren. 5. Restbeschwerden nach zweimaliger operativer Behandlung eines Karpaltunnelsyndroms links 2018, ohne motorische Ausfälle 6. Fingergelenkspolyarthrose beidseits 7. Beginnender Hüftgelenkverschleißschaden beidseits 8. Geringe O-Beinstellung beider Knie und Hinweis auf einen beginnenden Knorpelschaden auf der Rückseite beider Kniescheiben 9. Mäßiggradig ausgeprägter Knick- Senk-Spreizfuß beidseits mit rechtsbetont zum Hallux valgus beidseits 10. Mäßiggradig ausgeprägte, unkomplizierte Krampfaderbildung auf der distalen Oberschenkelrückseite und in der Kniekehle links, ohne trophische Störungen und ohne Stauungsbeschwerden 11. Restlesslegs-Syndrom 12. Depressive Störungen, zur Zeit leichtgradig 13. Schilddrüsenvergrößerung

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten und vorgelegten Befund- und Arztberichte sowie der Gutachten des Herrn X. und des Dr. T. fest. Die Gutachten beruhen auf umfangreichen Untersuchungen erfahrener gerichtlicher Sachverständiger, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in den Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben nach Auffassung der Kammer auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben.

1. bis 3. Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist gemäß Teil B Z. 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bei der Klägerin ein GdB von 20 in Ansatz zu bringen.

Für den Bereich der Halswirbelsäule stellte der orthopädische Gutachter fest, dass die Hals- und Nackenmuskulatur beidseits normal entwickelt und insgesamt mittelgradig verspannt waren. Eine Stauch- und Druckempfindlichkeit über der Halswirbelsäule wurde von der Klägerin bei der Untersuchung nicht angegeben. Die Kopfseitenneigung nach rechts/links wurde mit 20°/0°/20° ermittelt, die Kopfseitdrehung nach rechts/links mit 40°/0°/45°. Der Kinnspitzen-Brustbein-Abstand bei Kopfvor-/rückneigung betrug 2/17 cm. Im Bereich der oberen Gliedmaßen ließen sich keine wirbelsäulenbedingten segmentbezogenen motorischen oder sensiblen Störungen nachweisen. Die Reflexe waren seitengleich an beiden Armen normal auslösbar. Insgesamt zeigen sich im Bereich der Halswirbelsäule eher gering als mittelgradige funktionelle Auswirkungen. Im Wesentlichen sind hier die Muskelverspannungen eine geringe Einschränkung der Kopfseitneigung beidseits, ohne nachweisbare motorische oder sensible Störungen zu berücksichtigen.

Für den Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule ergaben sich folgende Befunde. Bei der Oberkörper vor Neigung betrug der vom Gutachter ermittelte Finger Boden Abstand 0 cm. Die Oberkörper Rückneigung war kaum eingeschränkt. Die Oberkörper Seitneigung war beidseits gering vermindert. Das Ott’sche Zeichen wurde mit 30/32,5 cm, der Schober-Index mit 10/14 cm ermittelt (zu den Werten nach Schober und Ott vgl. Wülker (Hrsg.), Taschenlehrbuch Orthopädie und Unfallchirurgie, 3. Aufl. 2015, 4.1.2.3). Die Rumpfseitneigung im Sitzen nach rechts/links konnte mit 45°/0°/45°, die Rumpfseitdrehung im Sitzen nach rechts/links mit 35°/0°/35° gezeigt werden (vgl. zu den Bewegungsausmaßen der Wirbelsäule allgemein Grifka/Krämer, Orthopädische Unfallchirurgie, 9. Aufl. 2013, S. 157 f.; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädischunfallchirurgische Begutachtung, 3. Aufl. 2020, S. 19). Die Lendenwirbelsäulenmuskulatur war beidseits normal entwickelt und insgesamt nur wenig verspannt. Die Klägerin gab bei der Untersuchung eine Druckschmerzhaftigkeit über den beiden Wirbelgelenke des Segments L5/S1 sowie einen Überstreckschmerz des lumbosacralen Übergangs beidseits und einen geringeren Provokationsschmerz des linken Kreuzdarmbeingelenks an. Auffällig, aber ohne näher beschriebene Funktionsbeeinträchtigung, war die bei der Klägerin bestehende Scapula alata.

Es zeigte sich bei der Klägerin nach alledem keine wesentliche Einschränkung der globalen Lendenwirbelsäulenbeweglichkeit. Es bestand keine Nervenwurzelreizsymptomatik im Bereich der unteren Gliedmaßen und es ließen sich auch keine segmentbezogenen motorischen oder sensiblen Störungen nachweisen. Die geprüften Reflexe (Patellasehnenreflex, Tibialisposterior-Reflex, Achillessehnenreflex) waren seitengleich an beiden Beinen auslösbar. Die Klägerin klagte freilich über eine Missempfindung auf der Innenseite des linken Großzehenendglieds.

Auch wenn die konkret in der Begutachtungssituation festgestellten Bewegungseinschränkungen bei der Klägerin sich als eher leichtgradigen darstellten, kommt der Gutachter Dr. T. bei der von der Klägerin angegebenen langen Geschichte durchweg bestehender lokaler Lendenwirbelsäulenbeschwerden, welche vor dem Hintergrund der kernspintomografisch nachgewiesenen Asymmetrie des lumbosacralen Übergangs, einer flachen lang gestreckten linkskonvexen Skoliose der Lendenwirbelsäule sowie verschmälerten Bandscheibenräumen und Spondylarthrosen in mehreren Lendenwirbelsäulensegmenten durchaus nachvollziehbar erscheinen, zu der Einschätzung das für den Bereich der Lendenwirbelsäule weiter ein Grad der Behinderung von "eher 20" als 10 in Ansatz zu bringen ist. Die Kammer teilt nach eigener Prüfung diese Auffassung, weist allerdings darauf hin, dass dieser Grad der Behinderung von 20 im Hinblick auf die eher moderaten Funktionsbeeinträchtigungen als ein "schwacher" GdB von 20 in Ansatz zu bringen ist.

4. bis 6. Für das Funktionssystem der oberen Extremitäten ist gemäß Teil B Ziffer 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Grad der Behinderung von 10 in Ansatz zu bringen. Das vom Gutachter festgestellte Impingementsyndrom an der linken Schulter zeigte keine wesentliche, vom altersentsprechend Normzustand abweichende Einschränkung der Beweglichkeit. Die aktive Schultergelenksbeweglichkeit wurde beidseits vorwärts/rückwärts mit 170°/0°/40°, seitwärts/körperwärts (bei fixiertem Schulterblatt) mit 90°/0°/35°, bei und fixiertem Schulterblatt 175°/0°/35°, die Bewegung des Armes einwärts/auswärts (bei anliegendem Oberarm) mit 95°/0°/40° sowie die Bewegung des Armes abwärts/aufwärts (bei um 90° seitlich abgespreizt Oberarm) mit 50°/0°/70° ermittelt (vgl. zu den normgerechten Werten Buckup/Buckup, Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln, 5. Aufl. 2012, S. 95; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädischunfallchirurgische Begutachtung, 3. Aufl. 2020, S. 17; zur klinischen Untersuchung der Schulter allgemein, vgl. Frank/Meier, Kurzgefasste Schulterchirurgie, 2019, 1.2.2 ff.). Der Nackengriff und der untere Schürzengriff waren beidseits problemlos möglich. Auch unter Berücksichtigung des Zustands nach 2018 konservativ behandeltem Riss der langen Bizepssehne sowie der vorhandenen Restbeschwerden nach zweimaliger operativer Behandlung eines Karpaltunnelsyndroms kommt ein höherer Grad der Behinderung als 10 nicht in Betracht. Insoweit schließt sich die Kammer auch den überzeugenden Ausführungen des Gutachters X. an, der der insbesondere darauf hinweist, dass motorische Ausfälle insoweit nicht objektiviert sind. Auch die von der Klägerin beschriebenen Beeinträchtigungen durch die bestehende Fingergelenkspolyarthrose rechtfertigen vor dem Hintergrund, dass die insoweit objektivierbaren Funktionsbeeinträchtigungen ebenfalls weitgehend unwesentlich sind, nicht die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung für das Funktionssystem der oberen Gliedmaßen.

7. bis 11. Soweit das Funktionssystem der unteren Gliedmaßen betroffen ist, kommt unter Berücksichtigung der Ergebnisse beider Gutachten die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung als 10 gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht in Betracht. Es zeigte sich bei der Klägerin zwar ein beidseitiger beginnender Hüftgelenkverschleißschaden. Wesentliche Abweichungen der Hüftgelenksbeweglichkeit vom altersentsprechend Normalbefund waren bei der Klägerin nicht zu objektivieren. Die Beugung /Streckung war beidseits mit 110°/0°/10°, das Abspreizen/Anführen bei gestreckte Hüfte beidseits mit 35°/0°/30° und das einwärts drehen/Auswärtsdrehen bei um 90° gebeugt fünfte beidseits mit 20°/0°/30 möglich (zu den normgerechten Werten vgl. Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädischunfallchirurgische Begutachtung, 3. Aufl. 2020, S. 18). Die klinischen Hinweise auf einer beginnenden Knorpelschaden auf der Rückseite beider Kniescheiben (bds. 135°/0°/0°) sowie eine geringe O-Beinstellung wirken sich funktionell ebenfalls nicht wesentlich aus. Die Kammer verkennt dabei nicht, dass die Klägerin eine mäßiggradig Druckschmerzhaftigkeit über dem rechten inneren Kniegelenkspalt angab. Die Knieseitenbänder waren aber an beiden Knien stabil. Eine Auswirkung insbesondere auf das Gehen und Stehen der Klägerin war – auch im Hinblick auf den festgestellten mittelgradig ausgeprägten beidseitigen Knick-Senk-Spreizfuß - nicht festzustellen. Bei der Untersuchung durch Dr. T. zeigt sich, dass die Klägerin im Untersuchungszimmer und um die Praxisanmeldung herum gleichmäßig mit mittlerer Schrittlänge, ohne zu hinken, herumlaufen konnte. Das Abrollverhalten der Füße war normal. Die bei der Klägerin bestehenden Krampfadern zeitigten ebenfalls keine wesentlichen Beeinträchtigungen.

Eine Höherbewertung als 10 erscheint auch vor dem Hintergrund des bei der Klägerin festgestellten Syndroms der unruhigen Beine (restlesslegs-Syndrom) nicht angemessen, da dieses bei der Klägerin aktuell gut behandelt ist.

12. Für das Funktionssystem der Psyche ist gemäß Teil B Z. 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Grad der Behinderung von 20 in Ansatz zu bringen. Die Kammer schließt sich insoweit den überzeugenden Ausführungen des Herrn X. an. Bei der Klägerin sind im maßgeblichen Zeitraum nämlich lediglich leichtere psychovegetative oder psychische Störungen festgestellt. Stärker behindernde Störungen mit wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. im Sinne ausgeprägterer depressiver, hypochondrischer, asthenischer oder phobischer) sind bei der Klägerin demgegenüber nicht objektiviert. Insoweit verweist die Kammer, neben der Tatsache, dass die Klägerin bislang nicht in entsprechender fachpsychiatrischer oder fachpsychologischer Behandlung befunden hat, auf das vom Gutachter X. ermittelte und dargestellte Aktivitätsniveau und die Fähigkeit zur sozialen Interaktion. Die Klägerin hat gegenüber dem Gutachter deutlich gemacht, dass Einschränkungen in der Selbstorganisation ebenso wenig vorliegen wie wesentliche Einschränkungen in ihrer allgemeinen Aktivität. Die Klägerin räumt die Wohnung auf, geht alleine einkaufen und ihrem Hobby nach. Nachmittags geht sie nach drau-ßen oder trifft sich mit einer Nachbarin zum Kartenspielen. Darüber hinaus übernimmt es die Klägerin auch, sich donnerstags um ihre dreijährige Enkelin zu kümmern, die auch über Nacht bleibt. Mit ihr spielt sie und bringt sie am nächsten Morgen zum Kindergarten. Die Schilderungen der Klägerin machen deutlich, dass durchgängige wesentliche Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht bestehen. Vor dem Hintergrund der in den entsprechenden Arztberichten immer wieder auftauchenden depressiven Episoden mit auch psychovegetativen Begleitsymptomen, erscheint die Annahme eines Grades der Behinderung von 20 durchaus möglich – wenngleich nach Auffassung der Kammer ebenfalls eher großzügig.

Wesentliche Beeinträchtigungen durch die bei der Klägerin in der Vergangenheit nachgewiesenen Schilddrüsenvergrößerung, oder weitere gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die einen GdB von mehr als 10 bedingen würden, sind nicht objektiviert.

Ausgehend von den nachgewiesenen Beeinträchtigungen ist bei der Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach § 152 Abs. 3 SGB IX (§ 69 Abs. 3 SGB IX a.F.) in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von mehr als 30 keinesfalls in Ansatz zu bringen.

§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).

Im vorliegenden Fall sind bei der Klägerin maßgeblich die Auswirkungen der orthopädischen Erkrankungen und die psychischen Beeinträchtigungen zu berücksichtigen. Hierbei darf nicht verkannt werden, dass diese beiden sich durchaus überlappen. Vor diesem Hintergrund scheint nach Auffassung der Kammer schon die Annahme des bisherigen GdB von insgesamt 30 als recht wohlwollend. Eine Herabsetzung des GdB durch die Kammer kommt im vorliegenden Verfahren freilich nicht in Betracht, weswegen es bei dem GdB von 30 zu verbleiben hat. Allerdings kommt auch eine Erhöhung keinesfalls in Betracht, da die übrigen Beeinträchtigungen lediglich einen GdB von höchstens 10 bedingen. Unter Berücksichtigung des Zusammenspiels der Beeinträchtigungen sind sie nach Auffassung der Kammer nicht geeignet, den bestehenden Gesamt-GdB zu erhöhen.

Die Kammer konnte die auch in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, ohne ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) zu verletzen. Die Klägerin war zum Termin ordnungsgemäß geladen und gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Möglichkeit der Entscheidung nach Aktenlage in ihrer Abwesenheit hingewiesen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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