Hessischer VGH, Beschluss vom 07.05.2020 - 1 A 661/20
Fundstelle
openJur 2020, 45492
  • Rkr:

1. § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist nicht anwendbar, wenn bei einer zulässigen (Untätigkeits-) Anfechtungsklage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt ein nach dem Maßstab des § 75 VwGO verspätet erlassener Widerspruchsbescheid in das Verwaltungsstreitverfahren einzubeziehen ist.

2. Das Beschlussverfahren nach § 130a Satz 1 VwGO ist in analoger Anwendung der Vorschrift auch zulässig, wenn das Oberverwaltungsgericht einstimmig die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 130 Abs. 2 VwGO für gegeben erachtet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Tenor

Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Wiesbaden zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Verwaltungsgerichts vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 34.509,72 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Probe.

Er war seit dem 1. September 2012 als Professor auf Probe im Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen der Hochschule RheinMain tätig. Mit Bescheid vom 12. Mai 2015 (Bl. 14 ff. d. GA) entließ der Beklagte den Kläger zum Schluss des 2. Kalendervierteljahres (30. Juni 2015) - hilfsweise zum nächstmöglichen Termin - wegen mangelnder Bewährung aus dem Beamtenverhältnis auf Probe.

Gegen den Bescheid hat der Kläger am 20. Mai 2015 Widerspruch eingelegt und am 12. November 2015 Untätigkeitsklage erhoben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. November 2015, dem Bevollmächtigten des Klägers per Empfangsbekenntnis am 3. Dezember 2015 zugegangen, wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 6. Januar 2016, eingegangen am 7. Januar 2016, hat der Kläger seinen Hauptantrag um die Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 30. November 2015 ergänzt.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 12. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2015 aufzuheben,

hilfsweise

festzustellen, dass das Beamtenverhältnis des Klägers durch den Bescheid vom 12. Mai 2015 nicht geendet hat, sondern zu unveränderten Bedingungen fortbesteht

hilfsweise

festzustellen, dass der Beklagte dem Kläger denjenigen Schaden zu ersetzen hat, der ihm aus der rechtswidrigen Entlassungsverfügung vom 12. Mai 2015 entstanden ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 3. Dezember 2019 abgewiesen. Der Hauptantrag sei bereits unzulässig, da der Kläger den Widerspruchsbescheid vom 30. November 2015 nicht innerhalb der Klagefrist gemäß § 74 VwGO in das Verfahren einbezogen habe. Die Hilfsansprüche scheiterten an der Bestandskraft des Widerspruchsbescheids. Bei Erklärung der Einbeziehung am 7. Januar 2016 sei der Widerspruchsbescheid bereits bestandskräftig gewesen. Der Kläger habe es versäumt, rechtzeitig gegen die Ausgangsentscheidung in der Form des Widerspruchsbescheids Klage zu erheben und zur Vermeidung einer doppelten Rechtshängigkeit hinsichtlich der Untätigkeitsklage eine verfahrensbeendende Erklärung abzugeben oder die ursprüngliche Untätigkeitsklage unter Einbeziehung des Widerspruchsbescheides fortzuführen. Da die im Widerspruchsbescheid getroffene Regelung noch nicht rechtshängig sei, müsse die Einbeziehung innerhalb der Klagefrist des § 74 VwGO erfolgen. Eine "automatische" Einbeziehung eines im Laufe des Klageverfahrens ergehenden Widerspruchsbescheids kraft Gesetzes in das Klageverfahren erfolge nicht. Auch aus § 75 Satz 4 VwGO lasse sich lediglich herleiten, dass - wenn innerhalb einer vom Gericht gesetzten Frist nach § 75 Satz 3 VwGO dem Widerspruch stattgegeben oder der begehrte Verwaltungsakt erlassen werde - die Hauptsache für erledigt zu erklären sei. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO besage lediglich, dass Gegenstand der Anfechtungsklage der ursprüngliche Verwaltungsakt sei und zwar in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden habe. Daraus lasse sich nicht ableiten, was im Rahmen einer Untätigkeitsklage gelte, wenn erst nach Klageerhebung ein Widerspruchsbescheid ergehe. Lediglich Verpflichtungsbegehren seien mit einer zulässigen Untätigkeitsklage bereits rechtshängig, nicht Anfechtungsbegehren. § 75 VwGO habe nicht den Zweck, den Kläger von der in § 74 VwGO normierten Verpflichtung (Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheides) zu entbinden. Der Widerspruchsbescheid sei ein eigenständiger Verwaltungsakt, der dem ursprünglichen Verwaltungsakt die für die gerichtliche Kontrolle maßgebliche Gestalt und Begründung gebe, z. B. hinsichtlich etwaiger Ermessenserwägungen.

Gegen das ihm am 6. Dezember 2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. Dezember 2019 die Zulassung der Berufung beantragt, dem der Senat mit Beschluss vom 6. März 2020 wegen ernstlicher Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entsprochen hat.

Der Beschluss ist dem Kläger am 10. März 2020 zugestellt worden. Der Kläger hat die Berufung am 19. März 2020 begründet.

Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger vor, § 75 VwGO unterscheide nicht zwischen Verpflichtungs-, Anfechtungs- oder Leistungsklagen. Voraussetzung sei lediglich, dass "über einen Widerspruch" noch nicht entschieden worden sei. Eine dem Gericht mögliche Fristsetzung nach § 75 Satz 3 VwGO an die Behörde sei nicht erfolgt. Der innerhalb der Aussetzungsfrist des § 75 Satz 3 VwGO erlassene Ablehnungsbescheid sei bei seinem Erlass mit dem in der Untätigkeitsklage antizipierten Widerspruch behaftet. Der Widerspruch gegen die Entlassungsverfügung enthalte gleichzeitig den Antrag, den Kläger weiter als Hochschulprofessor zu beschäftigen und ergebe sich zwangsläufig aus der Aufhebung des angegriffenen Bescheides. Der im Nachgang erlassene Widerspruchsbescheid enthalte keine eigene und schützenswerte Regelung; das Widerspruchsverfahren habe seinen Zweck verloren. Die zulässige Erhebung der Klage begründe bereits eine verfahrensrechtlich geschützte Position. Ein neues, ggf. parallel Iaufendes Klageverfahren mit gleichem Inhalt vom gleichen Kläger gegen einen Bescheid der gleichen Behörde vom gleichen Sachbearbeiter mit gleichem Regelungsgegenstand und gleichen Argumenten ergebe keinen Sinn. Es verursache lediglich eine doppelte Rechtshängigkeit, die durch nichts geboten sei, vielmehr die Gefahr kontradiktorischer Entscheidungen berge. Die Rechtshängigkeit des Regelungsgegenstandes schon vor Erlass des Widerspruchsbescheides stehe einem Eintritt von dessen Bestandskraft bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Klageverfahrens entgegen, ohne dass es einer besonderen fristgebundenen Verfahrenshandlung des Klägers bedürfe. Die Einbeziehung müsse nur spätestens bei der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung erfolgen, was hier erfüllt sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 3. Dezember 2019 - 3 K 1578/15.WI - aufzuheben und die Sache nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, die in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen beträfen jeweils andere Konstellationen als die vorliegende und seien nicht vergleichbar. Das Bundesverwaltungsgericht (Beschluss vom 9. Dezember 1983 - 4 B 232/83 -) habe etwa entschieden, dass im Fall beidseitiger Erledigungserklärung im Untätigkeitsverfahren die neue Verpflichtungsklage innerhalb eines Monats nach Zugang des Widerspruchsbescheides zu erheben sei. Dies spreche dafür, dass dies auch dann der Fall sei, wenn - wie hier - die Untätigkeitsklage einfach fortgeführt werde. Der Widerspruchsbescheid vom 30. November 2015 habe einen eigenen Regelungscharakter, weil er auch neue Aspekte des Vorbringens mitbeschieden habe (vgl. Ziff. II. 3. des Widerspruchsbescheides). Es gehe nicht darum, ob die Einlegung eines Widerspruchsbescheides in bestimmten Fallkonstellationen obsolet sei, sondern dass durch seinen Erlass eine neue prozessuale Situation entstehe, auf die der Kläger prozessual reagieren und zur Vermeidung einer Bestandskraft auch die Klagefrist des § 74 VwGO einhalten müsse. Die Behörde werde das Gericht bei einer Untätigkeitsklage regelmäßig frühzeitig davon in Kenntnis setzen, dass sie inzwischen einen ihre Erstentscheidung bestätigenden Widerspruchsbescheid erlassen habe. Es liege in solchen Konstellationen aber auch am Kläger, den Widerspruchsbescheid fristgerecht ins Verfahren einzubeziehen und so die Bestandskraft und unzulässige isolierte Anfechtung des Ausgangsbescheides zu vermeiden.

Dem Widerspruchsbescheid komme nur bei der Verpflichtungsklage keine eigenständige Bedeutung zu, da dann die Prozessvoraussetzungen erst zum Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung vorliegen müssten. Für die hier maßgebende Anfechtungsklage könne die Untätigkeitsklage zwar unter Einbeziehung des nachträglich ergangenen Widerspruchsbescheides fortgeführt werden, doch müsse dies innerhalb der Frist des § 74 VwGO erfolgen. Denn die im Widerspruchsbescheid getroffene eigenständige Regelung sei noch nicht rechtshängig, aber maßgebend für die gerichtliche Kontrolle, etwa hinsichtlich Ermessenserwägungen.

Mit Verfügung vom 13. Februar 2020 (Bl. 315 d. GA.) hat der Senat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass er beabsichtigt nach § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss zu entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält, und nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO die Sache an das Verwaltungsgericht Wiesbaden zurückzuverweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens sowie des Akteninhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.

II.

Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht Wiesbaden. Das Berufungsgericht trifft diese Entscheidung in analoger Anwendung des § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss.

Nach § 130a VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Das nach dem Wortlaut des § 130a Satz 1 VwGO für die Sachentscheidung Geltung beanspruchende Beschlussverfahren ist in analoger Anwendung der Vorschrift auch zulässig, wenn das Oberverwaltungsgericht einstimmig die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung nach § 130 Abs. 2 VwGO für gegeben erachtet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die analoge Anwendung des § 130a VwGO auf die Zurückweisungsentscheidung nach § 130 Abs. 2 VwGO ist gerechtfertigt, da die Entscheidung durch Beschluss nach § 130a VwGO (auch) der Entlastung der Oberverwaltungsgerichte dient und kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass der Gesetzgeber die demselben Zweck dienende Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz nach § 130 Abs. 2 VwGO von der Entscheidungsform durch Beschluss bewusst ausgeschlossen hat, vielmehr insoweit bei vergleichbarer Interessenlage eine planwidrige Regelungslücke vorliegt (vgl. zum Ganzen: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 23. Januar 2020 - 2 LB 17/19 -, juris Rn. 21; Eyermann/Happ, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 130 Rn. 16, § 130a Rn. 12; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 130a Rn. 44). Der Senat hat die Beteiligten analog §§ 130a Satz 2, 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO zu dem von ihm beabsichtigten Vorgehen angehört.

Nach § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO darf das Oberverwaltungsgericht die Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Verwaltungsgericht zurückverweisen, wenn das Verwaltungsgericht noch nicht in der Sache selbst entschieden hat und ein Beteiligter die Zurückverweisung beantragt. Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass diese Voraussetzungen hier vorliegen und bei Abwägung des Gesichtspunkts der Entlastung der Berufungsinstanz von Aufgaben, die in erster Linie der ersten Instanz obliegen, mit dem Aspekt der Verfahrensbeschleunigung das Verwaltungsstreitverfahren an die erste Instanz zurückzuverweisen ist. Eine mündliche Verhandlung hält der Senat nicht für erforderlich.

Noch nicht in der Sache entschieden im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hat ein Verwaltungsgericht jedenfalls dann, wenn es die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen hat. Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hat die Klage des Klägers gegen seine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Probe zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die am 12. November 2015 als Untätigkeitsklage erhobene Anfechtungsklage des Klägers gegen die Entlassungsverfügung vom 12. Mai 2015 ist zulässig. Der Umstand, dass der Kläger (erst) am 7. Januar 2016 - und damit nicht innerhalb eines Monats nach der während des gerichtlichen Verfahrens am 3. Dezember 2015 erfolgten Zustellung des Widerspruchsbescheids vom 30. November 2015 - seinen Aufhebungsantrag ausdrücklich auch auf den Widerspruchsbescheid bezogen hat, hat entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht wegen Versäumens der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO dazu geführt, dass die zulässige (Untätigkeits-)Anfechtungsklage unzulässig geworden ist.

Grundsätzlich setzt die Zulässigkeit der Anfechtungsklage allerdings nach § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO voraus, dass die Klage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids erhoben worden ist. Die Vorschrift geht vom gesetzlichen Regelfall aus, in dem ein belastender Verwaltungsakt erlassen und auf den nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderlichen Widerspruch des Bürgers hin ein Widerspruchsbescheid ergangen ist.

Für den Ausnahmefall einer (bereits) nach § 75 Satz 1 und 2 VwGO zulässigen (Untätigkeits-)Anfechtungsklage, bei der gerade die Klage abweichend von § 68 VwGO - nach erhobenem Widerspruch also ohne Ergehen eines Widerspruchsbescheids - zulässig ist, beansprucht § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO indes keine Geltung.

Die Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO ist das durch die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Korrektiv, wenn die Behörde innerhalb einer angemessenen Frist nicht über einen vom Betroffenen erhobenen Widerspruch entscheidet und hierdurch wegen der Anknüpfung der Fristbestimmung des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO an das Vorliegen eines Widerspruchsbescheids allein durch Untätigkeit den Rechtsweg zum Gericht versperrt. Nach § 75 Satz 1 VwGO ist eine Anfechtungsklage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Widerspruch ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Anfechtungsklage kann gemäß § 75 Satz 2 VwGO grundsätzlich nicht vor Ablauf von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs erhoben werden. Nach § 75 Satz 3 VwGO setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, wenn ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass über den Widerspruch noch nicht entschieden ist. Wird dem Widerspruch innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist stattgegeben, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären, § 75 Satz 4 VwGO.

Hieran gemessen hat der Kläger zulässig (Untätigkeits-)Anfechtungsklage gegen die Entlassungsverfügung vom 12. Mai 2015 als ursprünglicher Verwaltungsakt erhoben. Die am 12. November 2015 erhobene Klage hat sowohl die grundsätzliche Sperrpflicht von drei Monaten nach § 75 Satz 2 VwGO als auch die Wartefrist nach § 75 Satz 1 VwGO gewahrt. Hat - wie hier - das Verwaltungsgericht keine Nachfrist nach § 75 Satz 3 VwGO gesetzt, gilt die Drei-Monate-Frist des § 75 Satz 2 VwGO als die angemessene Frist i. S. d. § 75 Satz 1 VwGO, in der über einen Widerspruch ohne zureichenden Grund sachlich nicht entschieden worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 1983 - 5 C 114/81 - BVerwGE 66, 342 [344]; Urteil vom 4. Juni 1991 - 1 C 42/88 - BVerwGE 88, 254; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 4. September 2014 - 4 LB 2/14 - juris; Eyermann/Rennert, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 75 Rn. 20; Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 75 Rn. 10).

Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage des Klägers gegen die Entlassungsverfügung vom 12. Mai 2015 nach § 75 VwGO entfällt nicht dadurch, dass die Beklagte nach Ablauf der Fristen des § 75 Satz 1 und 2 VwGO den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. November 2015 zurückgewiesen und der Kläger die Aufhebung dieses Widerspruchsbescheids ausdrücklich erstmals mit Schriftsatz vom 6. Januar 2016 beim Verwaltungsgericht beantragt hat.

Abgesehen von den hier nicht in Rede stehenden Ausnahmefällen des § 79 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 VwGO, in denen der Widerspruchsbescheid aufgrund einer originär durch ihn ausgelösten Beschwer obligatorisch oder fakultativ alleiniger Gegenstand der Anfechtungsklage ist, ist Gegenstand der Anfechtungsklage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Bezogen auf den Gegenstand der Anfechtungsklage erschöpft sich die Bedeutung des Widerspruchsbescheids dann darin, dem ursprünglichen Verwaltungsakt seine maßgebliche Gestalt zu geben.

Vor diesem Hintergrund legt eine - wie hier - nach Ablauf der Fristen des § 75 Satz 1 und 2 VwGO und damit nach dem Maßstab des § 75 VwGO verspätete Widerspruchsentscheidung prinzipiell lediglich den für die gerichtliche Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage für die Entscheidung über die zulässige (Untätigkeits-) Anfechtungsklage fest. Allein im Hinblick darauf, dass der Widerspruchsbescheid mit dem ursprünglichen Verwaltungsakt eine prozessuale Einheit bildet und beide als einheitliche Verwaltungsentscheidung Gegenstand einer einzigen Klage (sog. Einheitsklage) sind, ist der Widerspruchsbescheid in das Verfahren über die zulässige (Untätigkeits-) Anfechtungsklage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt einzubeziehen.

Dahinstehen mag hier, ob nicht schon im klägerischen Aufrechterhalten der (Untätigkeits-)Anfechtungsklage nach Ergehen des nach dem Maßstab des § 75 VwGO verspäteten Widerspruchsbescheids konkludent dessen Einbeziehung in das die Entlassungsverfügung betreffende gerichtliche Verfahren gelegen hat. Denn der Kläger hat mit am 7. Januar 2016 beim Verwaltungsgericht eingegangenem Schreiben vom 6. Januar 2016 seinen Hauptantrag ausdrücklich um die Aufhebung auch des Widerspruchsbescheids vom 30. November 2015 ergänzt.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts, nach der dieser Widerspruchsbescheid mangels Wahrung der Klagefrist gemäß § 74 VwGO durch die Antragsergänzung in Bestandskraft erwachsen sei und aus diesem Grunde die Anfechtungsklage gegen die Entlassungsverfügung ihre Zulässigkeit eingebüßt habe, ist weder eine Bestandskraft einer behördlichen Entscheidung noch nachträglich eine Unzulässigkeit der zunächst zulässigen (Untätigkeits-)Anfechtungsklage eingetreten. Dies folgt daraus, dass der die Geltung des § 68 VwGO voraussetzende § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht anwendbar ist, wenn bei einer zulässigen Untätigkeitsklage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt ein nach dem Maßstab des § 75 VwGO verspätet erlassener Widerspruchsbescheid in das Verwaltungsstreitverfahren einzubeziehen ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 4. August 2010 - 2 A 796/09 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. September 2012 - 9 S 2153/11 -, juris; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluss vom 4. September 2014 - 4 LB 2/14 -, juris; Eyermann/Rennert, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 75 VwGO Rn. 18). Grund hierfür ist, dass das den ursprünglichen Verwaltungsakt - hier die Entlassungsverfügung - betreffende Anfechtungsbegehren in einem solchen Fall bereits rechtshängig und nach § 75 VwGO zulässiger Gegenstand der Anfechtungsklage ist. Für eine an die Frist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebundene (erneute) Klage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt, sei es auch in der Gestalt, die dieser durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, besteht rechtlich kein Raum. Eine dem Fristerfordernis des § 74 VwGO unterfallende isolierte Anfechtung eines Widerspruchsbescheids, dessen Regelung sich in der Zurückweisung des Widerspruchs erschöpft, sieht das Gesetz eben so wenig vor wie die Geltung dieser Frist für die Einbeziehung eines solchen Widerspruchsbescheids in das Verfahren über eine zulässige (Untätigkeits-)Anfechtungsklage.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Verwaltungsgerichts Vorbehalten.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

Die Wertfestsetzung des Streitgegenstands für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG und entspricht der vorläufigen erstinstanzlichen Festsetzung im Beschluss vom 4. Dezember 2015 (Bl. 92 f. d. GA, siehe auch die Auflistung der Beklagten vom 1. Dezember 2015, Bl. 61 d. GA).