SG Gießen, Beschluss vom 30.12.2019 - S 18 AY 22/19 ER
Fundstelle
openJur 2020, 45368
  • Rkr:
Tenor

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Der Antrag ist sowohl als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels gegen den Widerspruchsbescheid vom 23.10.2019, mit den der Antragsgegner die der Antragstellerin gewährten Leistungen nach § 1a AsylbLG abgesenkt hat, gem. § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGG als auch als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 SGG zu verstehen.

Die Anfechtungsklage vom 18.11.2019 gegen den Bescheid vom 23.10.2019 hat gem. § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, § 14 Abs. 4 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen ein (Anfechtungs-) Widerspruch oder eine Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Ist der Verwaltungsakt in dem Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt worden, kann das Gericht auch die Aufhebung der Vollziehung anordnen (§ 86b Abs. 1 Satz 2 SGG).

Für die Begründetheit des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist maßgeblich, ob in einer umfassenden Abwägung aller öffentlichen und privaten Belangen festgestellt werden kann, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellering gegenüber dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners überwiegt. Hierzu ist eine umfassende Interessenabwägung zu treffen, bei welcher insbesondere auch die Erfolgsaussichten der Klage mitberücksichtigt werden müssen. Sind Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung grundsätzlich abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Sind dagegen Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig oder begründet, ist hingegen dem Antrag stattzugeben, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit besteht. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- oder Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutz nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Interesse bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache Vorrang einzuräumen ist.

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs kann das Gericht einen Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren derzeit als noch völlig offen ansehen. Die Antragstellerin bezieht sich zur Begründung ihres Antrags im Kern auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 (1 Bv L 7/16). Die Antragstellerin meint, im Hinblick darauf könne die vorliegend streitige Sanktion nicht verfassungsgemäß sein. Dem folgt das erkennende Gericht ausdrücklich nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat weder denen Recht gegeben, die eine sanktionsfreie Grundsicherung angestrebt haben, noch jenen, die drastische "Strafen" für den einzig richtigen Anreizhaltpunkt. Nach der Entscheidung ist der Gesetzgeber berechtigt, angemessene Sanktionen bei Verletzung zumutbarer Mitwirkungspflichten festzulegen. Ihm sind dabei verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, die bislang nicht ausreichend beachtet wurden. Im Rahmen der Sanktionsstufen hat das Bundesverfassungsgericht Grundsätze entwickelt, die für alle Sanktionsregelungen geltend:

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Härtefallprüfung erforderlich,

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Verkürzungszeit erforderlich,

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mündliche Anhörung bei Anhaltspunkten hierfür erforderlich.

Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs sind unter Geltung der Härtefallregelung und Verkürzungsmöglichkeit verfassungskonform. Das Grundgesetz verlangt nicht, nur positive Anreize zu setzen oder reine Obliegenheiten zu normieren. Dem gegenüber ist lediglich die Regelung zur Sanktion über 60 % vor allem Mangels tragfähiger

Erkenntnisse zur Eignung und Erforderlichkeit mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Für die Totalsanktion hat das Bundesverfassungsgericht dieselben Gründe angeführt. Das Bundesverfassungsgericht hat die geprüften Sanktionsnormen nicht rückwirkend für nichtig erklärt, sondern die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt und eine Weitergeltungsanordnung getroffen. Demgemäß sind die Sanktionsvorschriften ab dem Tag der Verkündung mit dem vom Bundesverfassungsgericht bestimmten Einschränkungen weiter anzuwenden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts befasst sich jedoch nur mit Pflichtverletzungen nach § 31 Abs. 1 SGB II und nur mit Sanktionen nach § 31a Abs. 1 SGB II. Daher ist eine Übertragung auf andere Konstellationen -wenn überhaupt- nur sehr bedingt möglich. Inwieweit die zum SGB II entwickelten Grundsätze auch für das Asylbewerberleistungsgesetz Geltung beanspruchen können, kann nicht im Eilverfahren entschieden werden, sondern muss einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Die aufschiebende Wirkung war daher gem. § 86b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGG nicht anzuordnen.

Soweit der Antrag der Antragstellerin auch als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG in Bezug auf die Auszahlung ungekürzter Leistungen nach §§ 3,4 AsylbLG formuliert ist, hat der Antrag auch insoweit keinen Erfolg.

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentliche Nachteile nötig erscheint, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dann sowohl ein Anordnungsgrund, das heißt die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentliche Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, das heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO.

Für die Zeit vom 29.06.2019 bis 25.11.2019 entfällt ein Anordnungsanspruch bereits deswegen, weil es sich hierbei um einen zurückliegenden Zeitraum vor Antragstellung handelt. Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung sind bei vorliegender Leistungsvoraussetzungen hierfür regelmäßig ab Eingang des Eilantrags bei Gericht zuzusprechen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG § 86b Rd.-Nr. 35a). Auch für den Folgezeitraum 26.11.2019 bis 27.12.2019 besteht kein Anordnungsanspruch. Denn die Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, § 86b Rd.-Nr. 42) nicht (mehr) vor. Der Antragsgegner hat am 28.06.2019 entschieden, dass die Leistungseinschränkung eine Dauer von 6 Monaten umfasst, mithin zum Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts bereits abgelaufen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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