VG Kassel, Beschluss vom 16.07.2019 - 6 L 1806/19.KS
Fundstelle
openJur 2020, 44131
  • Rkr:

1. Eine "unmittelbare Gefahr" i.S.d. § 15 I VersG setzt das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte bzw. nachweisbarer Tatsachen voraus, bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen nicht.Notwenig ist immer ein hinreichend konkreter Bezug der Erkenntnisse oder Tatsachen zu der geplanten Veranstaltung.

2. Bei der Prüfung einer Verbotsverfügung ist die Erteilung von Auflagen als milderes Mittel im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

3. I.d.R. rechtfertigt eine bloße Gefährdung für die öffentliche Ordnung ein Versammlungsverbot nicht. Ein Versammlungsverbot kann zum Schutz der öffentlichen Ordnung - hier: zum Schutz eines Gedenktages mit gewichtiger Symbolkraft - nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen erlassen werden. Es ist u.a. die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen.

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 16. Juli 2019 gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. Juli 2019 wird wiederhergestellt.

2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 2.500 € festgesetzt.

Gründe

Der am 16. Juli 2019 sinngemäß gestellte Antrag,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 16. Juli 2019 gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. Juli 2019 wiederherzustellen,

hat Erfolg.

Das Gericht entscheidet über den Antrag ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 3 VwGO). Es ist weder dargetan noch sonst zu erkennen, welche weitergehenden Erkenntnisse durch eine mündliche Verhandlung über die in den Schriftsätzen der Beteiligten hinausgehenden ausführlichen Stellungnahmen erlangt werden können.

Der zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Behörde die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat. Im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts mit dem Suspensivinteresse des Antragstellers abzuwägen. Dabei kommt es auf die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache an. Hiernach überwiegt das private Interesse, wenn der Verwaltungsakt im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung rechtswidrig ist, da an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Umgekehrt überwiegt das öffentliche Interesse, wenn der Verwaltungsakt rechtmäßig ist und eine besondere Eilbedürftigkeit besteht.

Bei der nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt vorliegend das private Suspensivinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse. Die auf § 15 Versammlungsgesetz (VersG) gestützte streitgegenständliche Verbotsverfügung, mit der die für den 20. Juli 2019 angemeldete Versammlung und der Aufzug "Gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbphantasien" vollständig verboten wurde, ist rechtswidrig und der Antragsteller daher in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Nach § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Wegen der besonderen Bedeutung der für alle Deutschen grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) für die Funktionsfähigkeit der Demokratie darf ihre Ausübung nur zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begrenzt werden (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81 -, juris).

Mit Blick auf die grundlegende Bedeutung der verfassungsrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit kommt ein Verbot i.S.v. § 15 Abs. 1 VersG im Wesentlichen nur zur Abwehr von Gefahren für elementare Rechtsgüter in Betracht, deren Schutz regelmäßig in der positiven Rechtsordnung und damit im Rahmen der öffentlichen Sicherheit verwirklicht wird (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 2008 - 6 C 21/07 -, m.w.N., juris). Dabei umfasst der Begriff der "öffentlichen Sicherheit" die Unverletzlichkeit zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen (BVerfG, Einstweilige Anordnung vom 07. April 2001 - 1 BvQ 17/01 -, juris). Für den Begriff der "öffentlichen Ordnung" ist demgegenüber kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 2001 - 1 BvQ 9/01 -, juris).

Der Begriff der "unmittelbaren Gefahr" in § 15 Abs. 1 VersG stellt besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts und damit auch strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad in dem Sinne, dass ein zum Eingriff berechtigender Sachverhalt (erst) vorliegt, wenn der Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit, d.h. "fast mit Gewissheit" zu erwarten ist (BVerwG, Urteil vom 25. Juni 2008 - 6 C 21/07 -, juris). Dies setzt das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte bzw. nachweisbarer Tatsachen voraus, bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen nicht (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81 -, juris). Notwendig ist dabei immer ein hinreichend konkreter Bezug der Erkenntnisse oder Tatsachen zu der geplanten Veranstaltung (BVerfG, Beschluss vom 01. Mai 2001 - 1 BvQ 21/01 -, juris).Eine nur mögliche, wenn auch gesteigerte Gefährdungssituation reicht für die Annahme einer unmittelbaren Gefährdung der in § 15 Abs. 1 VersG genannten Rechtsgüter nicht aus. Dies auch deshalb, da bei irriger Einschätzung jederzeit die Möglichkeit einer späteren Auflösung der Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG verbleibt (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81 -, juris; VG Kassel, Beschluss vom 08. November 2012 - 6 L 1309/12.KS -, n.v.). Dabei gilt es zudem zu berücksichtigen, dass grundsätzlich im Rahmen der Ermessensausübung eventuell auftretenden Gefahren vorrangig durch die Erteilung von Auflagen begegnet werden muss.

Die von der Antragsgegnerin erstellte Gefahrenprognose trägt ein vollständiges Verbot nicht.

Soweit die Antragsgegnerin ihre Verbotsverfügung auf die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stützt, tragen die getroffenen Feststellungen zu den Tatsachengrundlagen diese Begründung nicht bzw. ist ein Verbot nicht erforderlich, weil entsprechenden Gefährdungen durch Auflagen begegnet werden kann.

Nach Auffassung der Antragsgegnerin sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Antragsteller aufgrund der Darstellung seiner Person auf der Internetseite der Partei "Die Rechte" erneut Straftaten begehen werde. Dies ist jedoch rein spekulativ und vage. Diese Annahme ist auf bloße Vermutungen gestützt und entbehrt konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte. Relevant wären auch nur zeitnahe Geschehnisse (Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl VersammlG § 15 Rn. 64, beck-online), die hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind. Die Antragsgegnerin hat keinerlei tatsächliche Angaben zu bisherigem strafbarem Verhalten des Antragstellers im Rahmen von angemeldeten Versammlungen gemacht. Aus dem Verfassungsschutzbericht NRW 2018, auf den sich die Antragsgegnerin beruft, lassen sich ebenfalls keinerlei Anknüpfungspunkte für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit entnehmen. Es genügt auch nicht, auf die aufgeheizte Stimmung und die Gefahr von rechtswidrigen Handlungen oder Störungen hinzuweisen und dabei allgemein auf Erkenntnisse des Verfassungsschutzes oder Presseberichte als Beleg für drohende gewalttätige Aktionen der Versammlungsteilnehmer Bezug zu nehmen (Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl VersammlG § 15 Rn. 61, m.w.N., beck-online). Das Thema der Versammlung ("Gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbphantasien") offenbart im Zusammenhang mit den weiteren Angaben auf der Internetseite der Partei "Die Rechte" (https://die-rechte.net/), die die Versammlungsanmeldung unterstützt, zwar einen Bezug zu der gewaltsamen Tötung des Dr. Walter Lübcke. Jedoch wird in den Angaben zugleich ausgeführt, dass "Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele auf gar keinen Fall gutgeheißen" und "Anschläge bzw. Attentate auf politische Gegner strikt abgelehnt werden". Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit lassen sich daraus nicht entnehmen. Zu Straftaten wird darin nicht aufgerufen. Mithin liegen insbesondere allein aufgrund des Themas der Versammlung, der strafrechtlichen Vorgeschichte des Antragstellers sowie der Erkenntnisse aus dem Verfassungsschutzbericht NRW 2018 keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte vor, dass es zu einer "stark angeheizten Stimmungslage" bzw. "unkontrollierbaren Stimmungslage" der gesamten Teilnehmermenge kommen werde, der nur mit einem Totalverbot zu begegnen sei. Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte, dass es aufgrund der Stimmungslage zu Rechtsgutsverletzungen kommen wird. Dass nach der Prognose des HLKA (Bl. 17 ff. d. Behördenakte) von Einzelnen Straftaten zu erwarten sein werden, steht dem nicht entgegen.

Das gewalttätige Verhalten lediglich einzelner Versammlungsteilnehmer kann einer ansonsten friedlichen Versammlung nicht den verfassungsrechtlichen Schutz nehmen, solange die Versammlung selbst insgesamt nicht die Schwelle zur Gewaltanwendung überschreitet. Eine Versammlung verliert den Schutz des Art. 8 GG grundsätzlich nur bei kollektiver Unfriedlichkeit, mithin wenn sie im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen (BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2010 - 1 BvR 1402/06 -,Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29. März 2012 - 4 MB 22/12 -, jeweils juris). Konkrete Anhaltspunkte hierfür sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Sollte es vereinzelt zu Störungen kommen, ist darauf im Einzelnen mit Ordnungsverfügungen oder Auflagen zu reagieren.

Soweit die Antragsgegnerin ihre Verbotsverfügung weiter darauf stützt, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass durch die Teilnehmer der Versammlung der Tatbestand des Verunglimpfens des Andenkens Verstorbener (§ 89 StGB) sowie der Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 4 StGB) verwirklicht und zur Beseitigung der freiheitlich, demokratischen Grundordnung sowie der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Einrichtungen aufgerufen werde,tragen die getroffenen Feststellungen zu den Tatsachengrundlagen diese Begründung ebenfalls nicht.

Ein Verunglimpfen des Andenkens Verstorbener - hier zum einen des getöteten Dr. Walter Lübcke und zum anderen von Menschen aus der Kasseler Bevölkerung, die von Nationalsozialisten ermordet worden sind - kann aus der bloßen Wahl der Stadt Kassel als Versammlungsort nicht angenommen werden. Ein Verunglimpfen wegen des Themas der Versammlung kann ebenfalls nicht angenommen werden, da es sich um eine grundsätzlich legitime Kritik an der Berichterstattung über die Verstrickung dem rechten Spektrum zuzuordnender Personen mit dem mutmaßlichen Täter der Tötung des Dr. Walter Lübcke handelt. Es besteht allenfalls die Vermutung, dass dieses Thema nur vorgeschoben ist und das Andenken von Herrn Dr. Walter Lübcke diskreditiert werden soll. Soweit sich die Antragsgegnerin weiter auf die angemeldete Aufzugsroute am Regierungspräsidium entlang (mit davor geplanter Zwischenkundgebung) und entlang von 14 Stolpersteinen zur Erinnerung an Menschen, die Opfer der Nationalsozialisten geworden sind, bezieht, die dem Aufzug ein entsprechendes Gepräge verleihe, ist zumindest ein Totalverbot darauf nicht zu stützen. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Route über den Steinweg und damit über eine der Hauptverkehrsstraßen in der Kasseler Innenstadt verläuft, die bei einem Aufzug, insbesondere aufgrund des derzeitigen Umbaus der Oberen Königsstraße, nur schwer zu umgehen ist. Zum anderen gibt es in diversen deutschen Städten und auch in Kassel selbst eine Vielzahl der sog. Stolpersteine, sodass ein Passieren dieser bei jedem Aufzug durch die Innenstadt kaum zu vermeiden ist. Im Übrigen kann die Aufzugsroute gegebenenfalls mit Auflagen verändert werden, sodass hier mildere Mittel in Betracht gekommen wären und die Verbotsverfügung daher unverhältnismäßig ist.

Allein in dem Aufruf des Parteivorsitzenden der Partei "Die Rechte", an der Veranstaltung am 20. Juli 2019 in Kassel teilzunehmen, kann keinerlei Anknüpfungspunkt für die Verwirklichung des Tatbestandes der Volksverhetzung gesehen werden. Die bloße Teilnahme an einer Versammlung bzw. der Aufruf dazu stellen keine Straftat dar. Soweit die Gefährdungsprognose des HLKA nach dem Vorbringen der Antragsgegnerin davon ausgeht, dass es wahrscheinlich sei, dass es vereinzelt auch zu Propagandastraftaten i.S.d. §§ 130, 86a StGB kommen werde, ist dies lediglich spekulativ und vage. Es fehlt an konkreten Anknüpfungstatsachen. Die in der Gefahrenprognose des HLKA angeführten Szenarien (Bl. 21 f. d. Behördenakte) beziehen sich lediglich auf allgemeine Szenarien, mit denen "erfahrungsgemäß [...] bei entsprechenden Rechts-Links-Versammlungslagen" "zu rechnen" sei bzw. welche "in Betracht zu ziehen" oder "wahrscheinlich" seien. Hinsichtlich der Versammlung vom 20. Juli 2019 in Kassel werden keine konkreten Ausführungen gemacht.

Der bloße Verweis der Antragsgegnerin, dass die Partei "Die Rechte" im Europawahlkampf ... ..., eine rechtskräftig verurteilte Leugnerin des Holocaust, als Spitzenkandidatin aufgestellt hat und daher davon ausgegangen werde, dass der Antragsteller als Mitglied dieser Partei die Gesinnung der Spitzenkandidatin zumindest billigend in Kauf genommen habe, bietet ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte für die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Tatsächliche Anhaltspunkte bzw. nachweisbare Tatsachen sind damit weder substantiiert dargelegt noch sonst ersichtlich. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass eine Anknüpfung an eine (vermutete) subjektive Gesinnung des Antragstellers oder sonstiger Teilnehmer nicht maßgeblich sein kann. Unsere Rechtsordnung verlangt nur "äußere Gefolgschaft", so dass Ermächtigungen zur Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten - und dazu gehört auch § 15 VersG - nicht an die Gesinnung als solche, sondern stets nur an konkrete Handlungen anknüpfen können (BVerfG, Beschluss vom 07. November 2008 - 1 BvQ 43/08 -, juris).

Soweit sich die Antragsgegnerin weiter darauf beruft, dass - unter anderem aufgrund der Gefahrenprognose des HLKA - mit wesentlich mehr Teilnehmern als den angekündigten 100 Teilnehmern zu rechnen sei, mag dies zwar gegebenenfalls zutreffen, kann aber ebenfalls eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht rechtfertigen, denn darauf ist zum Schutz der Versammlung gegebenenfalls mit einem erhöhten Aufgebot an Sicherheitskräften zu reagieren. Im Übrigen sind der Prognose des HLKA keine belastbaren Zahlen zu entnehmen. Es wird nur auf allgemeine Erfahrungswerte abgestellt.

Im Hinblick auf ein mögliches Zusammentreffen mit den für den gleichen Tag in Kassel angemeldeten weiteren Versammlungen bzw. Gegendemonstrationen und den dadurch lediglich vage befürchteten Auseinandersetzungen muss im Rahmen einer praktischen Konkordanzaller betroffenen Grundrechtspositionen durch gegebenenfalls Auflagenein Ausgleich geschaffen oder letztlich im Rahmen der Versammlung durch Ordnungsverfügungen im Einzelfall begegnet werden. Ein Totalverbot wird dadurch nicht gerechtfertigt (so auch: Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29. März 2012 - 4 MB 22/12 -, juris). Diesbezüglich hat die Antragsgegnerin in der Verbotsverfügung zwar angegeben, dass sich die Sicherung der Versammlung durch die Polizei aufgrund des langen Zeitraums, der langen Strecke und einer Vielzahl betroffener Örtlichkeiten als "extreme Herausforderung" darstellen wird.Dass es im Zusammenhang mit dem erwarteten Auftreten von Gegendemonstranten trotz des Vorhaltens von Ordnungskräften in angemessener Zahl zu einem polizeilichen Notstand kommen könnte, ist aber weder aus einer polizeilichen Gefahrenprognose herzuleiten noch sonst zu erkennen. Der Verweis auf die Möglichkeit, Auflagen als ein milderes Mittel zu wählen und gegebenenfalls Ordnungsverfügungen vor Ort zu erlassen, gilt desgleichen zum einen im Hinblick auf die ebenfalls spekulative Befürchtung, dass aufgrund des Streckenverlaufs an Baustellen vorbei mit der Gefahr gerechnet werden müsse, dass sich gewaltbereite Teilnehmer mit Wurfmaterialien versorgen und gewalttätig werden könnten und zum anderen hinsichtlich einer Zwischenkundgebung auf einem Privatgelände vor dem Regierungspräsidium bzw. auf der Straße in Höhe des Regierungspräsidiums (vgl. insoweit die mündliche Änderung der Anmeldung durch den Antragsteller).

Die Antragsgegnerin hat für ihre Gefahrenprognose auch keine Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen.

Soweit die Antragsgegnerin die Verbotsverfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung stützt, die sie insbesondere damit begründet, dass die Versammlung für den 20. Juli 2019, den 75. Gedenktag des Hitlerattentates durch Graf von Stauffenberg, angemeldet wurde, trägt dies das streitgegenständliche Verbot nicht.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommen Versammlungsverbote nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter in Betracht. Eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung rechtfertigt demgegenüber im Allgemeinen ein Versammlungsverbot nicht (BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 06. Juni 2007 - 1 BvR 1423/07 -, juris). Die Versammlungsfreiheit ist für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend und wird im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern der Freiheit gewährt (st. Rspr. des BVerfG, vgl. Beschluss vom 20. Dezember 2012 - 1 BvR 2794/10 - juris, m.w.N.).

Die Antragsgegnerin stützt ihr Versammlungsverbot hier mit Nachdruck auch auf das Ziel des Schutzes eines Gedenktages mit gewichtiger Symbolkraft. Ob dem 20. Juli eine solche Symbolkraft überhaupt zukommt (ablehnend u.a.: Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Auflage, § 15, Rn. 112; Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 1. Auflage 2016, § 15, Rn. 99), kann letztlich dahinstehen, denn die hohen Anforderungen an ein im Ausnahmefall auch von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht ausgeschlossenes Versammlungsverbot zum Schutze eines solchen Gedenktages sind vorliegend nicht erfüllt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer neueren Entscheidung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Januar 2012 - 1 BvQ 4/12 -, juris) betont, dass die öffentliche Ordnung betroffen sein kann, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden. Diese Entscheidung erlaubt nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts aber keinesfalls den pauschalen Rückschluss, dass an Gedenktagen Versammlungen bereits dann nicht durchgeführt werden dürfen, wenn diese in irgendeinem Sinne als dem Gedenken entgegenlaufend zu beurteilen sind. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen. Auch in vorhergehenden Entscheidungen, die den Gedanken des Schutzes eines Gedenktages mit eindeutigem Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft aufgegriffen haben, hat sich das Bundesverfassungsgerichts stets auf die Art und Weise der Durchführung einer Versammlung bezogen, von denen Provokationen ausgehen müssen (vgl. nur Beschluss vom 19. Dezember 2007 - 1 BvR 2793/04 -, juris). In erster Linie sind zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung an einem solchen Gedenktag Auflagen in Betracht zu ziehen; lediglich für den Fall, dass diese nicht ausreichen, hat das Bundesverfassungsgericht ein Verbot in Erwägung gezogen, jedoch bislang - soweit ersichtlich - noch in keinem Fall hierauf gestützt für verfassungsgemäß gehalten (vgl. dazu: Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, Beschluss vom 29. März 2012 - 4 MB 22/12 -, juris, m.w.N.).

Auch wenn der Termin hier auffällig gewählt sein mag, so ist dieser Umstand nach Auffassung des Gerichts allein nicht geeignet, die Annahme zu belegen, die Veranstaltung werde sich nicht im Rahmen des rechtlich Erlaubten halten. Einen konkreten tatsächlichen Anhaltspunkt, dass die Versammlung an das oben genannte Hitlerattentat anknüpfen soll, gibt es nicht. Dass die Versammlung von ihrem vorgesehenen äußeren Gepräge nach eine Stoßrichtung gegen das Gedenken hat, ist nicht ersichtlich. Dabei ist auch das Motto der Versammlung zu berücksichtigen, dass keinen Bezug zu dem Gedenken erkennen lässt (vgl. dazu auch:Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetze, 17. Auflage, § 15, Rn. 115). Die Antragsgegnerin hat dies auch nicht vorgetragen. Soweit die Antragsgegnerin schließlich meint, ungeachtet der nicht ausdrücklichen Anknüpfung der Versammlung an das versuchte Hitlerattentat werde aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürgern allein wegen des Teilnehmerkreises an dieser Veranstaltung und der Art und Weise ihrer Durchführung eine unmittelbare Verbindung zu dem jährlich wiederkehrenden Gedenktag am 20. Juli hergestellt, ist auch dieser Einwand nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu rechtfertigen. Denn in Bezug auf den Rückschluss von einem bestimmten Teilnehmerkreis der Veranstaltung auf deren Zielrichtung würde die Behörde, indem sie sich dieses zu eigen macht, wiederum nur an eine vermutete politische Einstellung anknüpfen, unabhängig davon, ob diese tatsächlich in der konkreten Veranstaltung zum Ausdruck gebracht wird (so auch für eine ähnliche Konstellation: Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 09. November 2012 - 8 B 2103/12 -, juris). Konkrete belastbare Anhaltspunkte, dass von den Versammlungsteilnehmern ein aggressives und provokantes, die Bürger einschüchterndes Verhalten ausgehen wird oder sich der Aufzug durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der NS-Gewaltherrschaft identifiziert, sind weder vorgetragen noch sonst derzeit ersichtlich.

Soweit die Antragsgegnerin die Verbotsverfügung des Weiteren auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Ordnung hinsichtlich der örtlichen Gegebenheiten und die daraus resultierenden Provokationen gegenüber der Bevölkerung stützt, trägt dies das streitgegenständliche Verbot nicht. Unter Verweis auf die obigen Ausführungen ist die Antragsgegnerin hierbei darauf zu verweisen, dass im Rahmen der Ermessensausübung als milderes Mittel entsprechende Auflagen gegen mögliche Gefährdungen hätten festgesetzt werden können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Abs. 2 Nr. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nr. 45.4. des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, Anhang zu § 164). Dieser Betrag (hälftiger Auffangstreitwert) ist im Hinblick auf das Begehren einer die Hauptsacheentscheidung vorwegnehmenden Eilentscheidung nicht mehr zu halbieren (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 14. Februar 2019 - 2 B 309/19 -).

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