SG Gießen, Urteil vom 16.01.2018 - S 2 R 579/15
Fundstelle
openJur 2020, 43594
  • Rkr:
Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2015 verurteilt, die Klägerin als Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin bei der Beigeladenen zu 2. als Apothekerin von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien.

2. Die Beklagten hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt wegen ihrer seit dem 01.06.2012 ausgeübten Tätigkeit als Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin für die C. GmbH (Beigeladene zu 2.) als Apothekerin Befreiung von der Rentenversicherungspflicht.

Die Klägerin (geb. 1978) ist Pharmazeutin. Seit dem 01.06.2012 bekleidet sie bei der Beigeladenen zu 2. die Position einer Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin. Vom 01.07.2006 bis 30.09.2012 war sie Pflichtmitglied bei dem Versorgungswerk der Apothekerkammer Nordrhein (Beigeladene zu 1). Rückwirkend ab dem 01.10.2012 wurde sie Mitglied bei der Landesapothekerkammer Hessen sowie Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Landesapothekerkammer Hessen (Beigeladene zu 3.).

Am 21.02.2014 beantragte die Beigeladene zu 1. für die Klägerin Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für die am 01.06.2012 aufgenommene Tätigkeit.

Gemäß der am 13.08.2014 übersandten "Tätigkeitsbeschreibung des Leiters der Herstellung im D. Depot D-Stadt" werden in dem Depot Dienstleistungen für die klinische Forschung und die pharmazeutische Industrie angeboten. Schwerpunkt ist die Lagerung, Verpackung und Distribution klinischer Prüfpräparaten für klinische Studien der Phasen I bis IV. Das Depot verfügt daher über eine Herstellungserlaubnis nach § 13 Arzneimittelgesetz (AMG) und eine Importerlaubnis nach § 72 AMG.

Der Leiter der Herstellung verantwortet und leitet die Arbeitsabläufe (z.B. Etikettierung von Prüfmedikation). Er arbeitet eng mit der für das Depot zuständigen sachkundigen Person und der Qualitätssicherung zusammen. Er ist dafür verantwortlich, dass die klinischen Prüfpräparate und die Begleitmedikation unter den im Studienprotokoll oder der Fachinformation vorgegebenen Bedingungen behandelt, gelagert, an die Prüfzentren versandt und gemäß dem Studienprotokoll und den Richtlinien der Guten klinischen Praxis zurückgeführt und ggf. vernichtet werden. Das Depot hat verschieden temperierte Lagerräume. Der Leiter stellt die Lagerungsbedingungen und die GMP-gerechte Behandlung und Dokumentation der Geräte und Ausstattung nach GCV-V und AMWHV sicher.

Arbeitsschritte im Depot sind folgende: Empfang von Studienmedikation, Medizinprodukten und Begleitmedikation (Fertigarzneimittel), Einlagerung nach dem GMP/GCP-Richtlinien, Etikettierung mit dem Datum der Nachtestung bzw. Haltbarkeitsverlängerung nach GCP-V, Etikettierung von Fertigarzneimitteln mit Zusatzetiketten, Zusammenstellung von Lieferungen an Studienzentren, Annahme von Retouren, Bilanzierung der zurückgeführten Prüfpräparate, Vernichtung von klinischen Prüfpräparaten und Ausstellung von Vernichtungszertifikaten, Organisation, Durchführung und Annahme von Rückrufen.

Mit Bescheid vom 02.10.2014 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Es handele sich um keine berufsspezifische Tätigkeit als Apothekerin. Die Voraussetzungen für eine Befreiung erfüllten ausschließlich Tätigkeiten, die dem in der Bundesapothekerordnung (BApO) niedergelegten typischen Berufsbild von Apothekern entsprächen. Für die Beschäftigung müsse zudem die pharmazeutische Approbation unabdingbare Voraussetzung sein, woran es hier fehle. Schlüsselstellungen im Herstellerbetrieb seien der Leiter der Herstellung, der Leiter der Qualitätskontrolle sowie die sachkundige Person, die mit einem der vorgenannten Personen identisch sein könne. Das AMG sehe nur noch vor, dass der Hersteller von Arzneimitteln über eine sachkundige Person verfügen müsse. Deren erforderliche Sachkenntnis könne entweder durch Approbation als Apotheker oder durch nach abgeschlossenem Hochschulausbildung der Pharmazie, Chemie, Biologie, Human- oder Veterinärmedizin abgelegte Prüfung sowie mindestens zweijährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der qualitativen und quantitativen Analyse sowie sonstiger Qualitätsprüfungen von Arzneimitteln erbracht werden. Demnach sei die Approbation als Apotheker weder für die sachkundige Person noch den Leiter der Herstellung erforderlich.

Den hiergegen am 21.10.2014 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass die Ausübung des Apothekerberufs nach § 2 Abs. 3 BApO nicht auf die Entwicklung, Herstellung, Prüfung oder Abgabe von Arzneimitteln unter der Berufsbezeichnung Apotheker beschränkt sei und beschrieb nochmals ihr Aufgabenfeld. Auf die Einzelheiten dieser Beschreibung wird Bezug genommen. Die Approbation als Apothekerin sei zur Ausübung dieser Tätigkeit durchaus notwendig. Im Übrigen reiche auch ein "spezifischer Bezug" zu einer pharmazeutischen Tätigkeit aus.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Kernaufgabe der Klägerin sei die Lagerung, Verpackung und Distribution klinischer Prüfpräparate für klinische Studien. Dies entspreche nicht dem in der BApO niedergelegten Berufsbild von Apothekern. Entscheidend seien weder das Votum der Berufskammer, eine bestimmte Tätigkeit als die eines Apothekers einzustufen, noch die Frage, ob im konkreten Einzelfall die Einstellung aufgrund der pharmazeutischen Qualifikation erfolgt sei. Letzteres sei eine rein unternehmerische Entscheidung.

Am 17.12.2015 hat die Klägerin Klage zu dem Sozialgericht Gießen erhoben. Sie führt aus, der Begriff der Herstellung umfasse auch die Lagerung und den Qualitätserhalt von Prüfmedikamenten für Arzneimittelstudien sowie die Etikettierung sekundärverpackter Prüfmedikation. Bei Rückruf eines Arzneimittels sei sie für die Chargenverfolgung und die Umsetzung des Notfallplans verantwortlich. Schließlich obliege ihr die Überwachung und Genehmigung der Vernichtung benutzter Studienmedikation nach Studienende. Bei der Vernichtung von Betäubungsmitteln seien nach dem BtMG zwingend die Anwesenheit und die Unterschrift eines Apothekers erforderlich. Ergänzend verweist sie auf die seit dem 24.12.2016 geltende erweiterte Fassung des § 2 Abs. 3 Nr. 2 BapO sowie auf § 1 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer Hessen. Die Tätigkeit müsse nicht zwingend approbationspflichtig sein. Vielmehr reiche eine - hier vorliegende - berufsspezifische Tätigkeit aus. Weiter nimmt sie Bezug auf die beiliegende Tätigkeitsbeschreibung ihres Arbeitgebers vom 28.04.2015.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 02.10.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2015 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin ab dem 21.02.2014 als Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin bei der Beigeladenen zu 2. als Apothekerin von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI zu befreien ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

Die Beklagte verweist auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide. Nicht ausreichend sei die Mitverwendung in der Ausbildung erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten. Das Kammerrecht sei nicht ausschlaggebend. Die ausgeübte Tätigkeit müsse zwingend eine Approbation erfordern.

Die Beigeladene zu 3. führt aus, § 2 Abs. 3 Satz 2 BApO sei ab dem 24.12.2016 weiter gefasst worden. Die Erweiterung betreffe Arzneimittelforschung, Entwicklung, Herstellung, Prüfung von Arzneimitteln, Tätigkeiten in der Arzneimittelzulassung, Pharmakovigilanz und Risikoabwehr in der pharmazeutischen Industrie. Dies beinhalte denklogisch die damit verbundenen Qualitätskontrollen und -sicherungen sowie die Herstellung von Prüfmedikation und die Prüfung von Arzneimitteln in der klinischen Prüfung.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klägerin hat wegen ihrer Beschäftigung als Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin für die Beigeladene zu 2. ab dem 21.02.2014 einen Anspruch auf Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI).

Nach dieser Vorschrift werden Beschäftigte und selbstständig Tätige von der Versicherungspflicht für die Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit befreit, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungseinrichtung oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe (berufsständische Versorgungseinrichtung) und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer sind, wenn a) am jeweiligen Ort der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit für ihre Berufsgruppe bereits vor dem 1. Januar 1995 eine gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in der berufsständischen Kammer bestanden hat, b) für sie nach näherer Maßgabe der Satzung einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur berufsständischen Versorgungseinrichtung zu zahlen sind und c) aufgrund dieser Beiträge Leistungen für den Fall verminderter Erwerbsfähigkeit und des Alters sowie für Hinterbliebene erbracht und angepasst werden, wobei auch die finanzielle Lage der berufsständischen Versorgungseinrichtung zu berücksichtigen ist.

Gemäß § 6 Abs. 4 Satz 1 SGB VI wirkt die Befreiung vom Vorliegen der Befreiungsvoraussetzungen an, wenn sie innerhalb von drei Monaten beantragt wird, sonst vom Eingang des Antrages an. Die Befreiung ist auf die jeweilige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit beschränkt (§ 6 Abs. 5 Satz 1 SGB VI).

Allein streitig ist hier, ob die Klägerin eine Beschäftigung ausübt, wegen der sie aufgrund einer durch Gesetz angeordneten oder auf Gesetz beruhenden Verpflichtung Mitglied einer berufsständische Versorgungseinrichtung und zugleich kraft gesetzlicher Verpflichtung Mitglied einer berufsständischen Kammer ist. Die weiteren Voraussetzungen gemäß § 6 Abs. 1 SGB VI liegen unstreitig vor.

Ob wegen der streitigen Beschäftigung bzw. Tätigkeit eine Pflichtmitgliedschaft in einer Versorgungseinrichtung und einer berufsständigen Kammer besteht, ist anhand der einschlägigen versorgungs- und kammerrechtlichen Normen zu prüfen. Entscheidend dabei ist nicht die abstrakte berufliche Qualifikation des Beschäftigten, sondern vielmehr die Klassifikation der Tätigkeit, für die die Befreiung begehrt wird (BSG, Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 3/11 R - juris, Rn. 34; Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 52).

Das Recht zur Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI steht zudem nur solchen Personen zu, die eine berufsspezifische, d.h. eine für den in der jeweiligen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung pflichtversicherten Personenkreis typische Berufstätigkeit im Beschäftigungsverhältnis oder selbstständig ausüben (vgl. Boecken in: Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung, hrsg. v. Ruland/Försterling, § 6 Rn. 49 m.w.N.). Voraussetzung für eine Befreiung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist nämlich, dass die Pflichtmitgliedschaft gerade wegen der Beschäftigung besteht. Angesichts dieser sprachlichen Verknüpfung ist ein kausaler Zusammenhang zwischen der Beschäftigung und der Mitgliedschaft in den berufsständischen Körperschaften nötig (BSG, Urteil vom 03.04.2014, B 5 RE 13/14 R, juris, Rn. 27). Mit anderen Worten ist unter Berücksichtigung von § 6 Abs. 5 Satz 1 SGB VI der Inhalt des jeweiligen konkreten Beschäftigungsverhältnisses maßgeblich und nicht etwa nur die Berufsbezeichnung, die berufliche Qualifikation oder der berufliche Status (BSG, Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 3/11 R -, juris Rn. 18, 34). Die Befreiungsmöglichkeit besteht daher nicht für Personen, die zwar Pflichtmitglieder einer berufsständischen Versorgungseinrichtung sind, jedoch einer berufsfremden Tätigkeit nachgehen (zur Vereinbarkeit der gleichzeitigen Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung und in einem berufsständigen Versorgungswerk mit Art. 3 Abs. 1 GG s. BVerwG, Beschluss vom 23.03.2000, 1 B 15/00), (Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 - L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 53 f).

Ausgangspunkt der Prüfung einer Befreiung sind daher zunächst die versorgungs- und kammerrechtlichen Normen.

Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 Hess. HeilBerG (Hess. GVBl. I 2003, S. 66) gehören Apotheker der Landesapothekerkammer an. Deren Satzung sieht in § 2 Abs. 1 Satz 1 entsprechend vor, dass alle Apotheker, die in Hessen ihren Beruf ausüben, der Kammer angehören. Gemäß § 5a Abs. 1 Hess. HeilBerG in Verbindung mit § 12 der Satzung des Versorgungswerkes der Landesapothekerkammer Hessen sind entsprechend alle Kammerangehörige, die ihren Beruf in Hessen ausüben, Pflichtmitglieder des Versorgungswerkes.

Die Klägerin ist unstreitig seit dem 01.10.2012 bis fortlaufend Pflichtmitglied im Versorgungswerk der Landesapothekerkammer als der für sie zuständigen berufsständischen Versorgungseinrichtung sowie Pflichtmitglied der Landesapothekerkammer Hessen.

Die vorgenannten landesrechtlichen bzw. satzungsrechtlichen Bestimmungen knüpfen an das Kriterium der Ausübung des Berufes eines Apothekers an. Das Vorliegen einer solchen berufs(gruppen)spezifischen Tätigkeit muss vor dem Hintergrund des jeweils gesetzlich festgelegten Berufsbilds des Kammerberufs überprüft und bewertet werden (vgl. Rechtshandbuch [RH] SGB VI, § 6 Abschnitt 2.1.6); es muss eine für den in der jeweiligen Versorgungseinrichtung pflichtversicherten Personenkreis typische Berufstätigkeit ausgeübt werden (Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 - L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 57 f. m.w.N.)

Nach § 2 Abs. 3 BApO in der vom 07.12.2007 bis 22.04.2016 geltenden Fassung ist Ausübung des Apothekerberufs die Ausübung einer pharmazeutischen Tätigkeit, insbesondere die Entwicklung, Herstellung, Prüfung oder Abgabe von Arzneimitteln unter der Berufsbezeichnung "Apotheker".

Gemäß § 2 Abs. 3 BApO in der vom 23.04.2016 bis 23.12.2016 geltenden Fassung ist Ausübung des Apothekerberufs die Ausübung einer pharmazeutischen Tätigkeit unter der Berufsbezeichnung "Apotheker/in". Pharmazeutische Tätigkeiten umfassen insbesondere:

1. Herstellung der Darreichungsform von Arzneimitteln,

2. Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln,

3. Arzneimittelprüfung in einem Laboratorium für die Prüfung von Arzneimitteln,

4. Lagerung, Qualitätserhaltung und Abgabe von Arzneimitteln auf Großhandelsstufe,

5. Bevorratung, Herstellung, Prüfung, Lagerung, Verteilung und Verkauf von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in der Öffentlichkeit zugänglichen Apotheken,

6. Herstellung, Prüfung, Lagerung und Verkauf von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in Krankenhäusern,

7. Information und Beratung über Arzneimittel als solche, einschließlich ihrer angemessenen Verwendung,

8. Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen an die zuständigen Behörden,

9. personalisierte Unterstützung von Patienten bei Selbstmedikation,

10. Beiträge zu örtlichen oder landesweiten gesundheitsbezogenen Kampagnen.

Nach § 2 Abs. 3 BApO in der ab 24.12.2016 geltenden Fassung sind die insbesondere umfassten pharmazeutischen Tätigkeiten nochmals erweitert bzw. modifiziert worden:

1. ( ... )

2. Arzneimittelforschung, Entwicklung, Herstellung, Prüfung von Arzneimitteln, Tätigkeiten in der Arzneimittelzulassung, Pharmakovigilanz und Risikoabwehr in der pharmazeutischen Industrie,

3. ( ...)

4. Lagerung, Qualitätserhaltung und Vertrieb von Arzneimitteln auf Großhandelsstufe,

5. Bevorratung, Herstellung, Prüfung, Lagerung, Vertrieb und Abgabe von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in der Öffentlichkeit zugänglichen Apotheken,

6. Herstellung, Prüfung, Lagerung und Abgabe von unbedenklichen und wirksamen Arzneimitteln der erforderlichen Qualität in Krankenhäusern, ( ...)

11. Tätigkeiten im Arzneimittel-, Apotheken- und Medizinproduktewesen der öffentlichen Gesundheitsverwaltung in Behörden des Bundes, der Länder und der Kommunen sowie in Körperschaften des öffentlichen Rechts und in Berufs- und Fachverbänden,

12. Tätigkeiten in Lehre und Forschung an Universitäten sowie in der Lehre an Lehranstalten und Berufsschulen in pharmazeutischen Fachgebieten

Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer Hessen besteht die Aufgabe des Apothekers in der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln. Dieser Auftrag umfasst insbesondere die Information und Beratung über Arzneimittel, die Beratung in Fragen rund um die Gesundheit, die Entwicklung, Herstellung, Prüfung, Lagerung, Abgabe und Risikoerfassung von Arzneimitteln und die Suche nach neuen Arzneistoffen und Darreichungsformen (§ 1 Abs. 1 Satz der Berufsordnung). Der Apotheker übt seine Aufgabe in verschiedenen Tätigkeitsformen aus. Er kann in der öffentlichen Apotheke, in der Industrie, im Krankenhaus, in Prüfinstitutionen, bei der Bundeswehr, in Behörden und Körperschaften, an der Universität, in Lehranstalten und Berufsschulen tätig sein (§ 1 Abs. 1 Satz 3 der Berufsordnung).

Zunächst ist festzustellen, dass die Definition einer pharmazeutischen Tätigkeit, wie sie § 2 Abs. 3 BApO regelt, keine abschließende Aufzählung enthält. Die Formulierung der Norm ("insbesondere") zeigt, dass die von ihr erfasste Berufsausübung nicht ausschließlich unter der Bezeichnung "Apotheker" oder "Apothekerin" erfolgen muss und die beispielhafte Aufzählung nicht abschließend ist (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 17.11.2011 - L 8 KR 77/11 B ER - juris, Rn. 35; Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 - L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 63 und 79). Mit der Änderung wollte der Gesetzgeber - in Ergänzung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.11.2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems ("IMI-Verordnung") - weitere Tätigkeitsbereiche benennen, die das Berufsbild der Apothekerinnen und Apotheker maßgeblich prägen (BR-Drucks. 120/16, S. 62).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die von der Klägerin bei der Beigeladenen zu 2. ausgeübte Tätigkeit als Leiterin der Herstellung und Projektmanagerin eine befreiungsfähige berufsspezifische Tätigkeit i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI als Apothekerin.

Die Beschäftigung der Klägerin umfasst ausweislich der Tätigkeitsbeschreibung der Beigeladenen zu 2. vom 28.04.2015 (Bl. 20 bis 22 der Gerichtsakte) u.a.

1. Herstellung (Etikettierung sekundärverpackter Prüfmedikation, Sekundärverpackung von Prüfmedikation) und Prüfung von Arzneimitteln zur klinischen Prüfung

2. Lagerung, Qualitätserhalt und Abgabe von Prüfmedikation auf der Stufe eines Depots, Einhaltung der Temperaturbedingungen, Erhalt der Fälschungssicherheit, Sicherung einer fälschungssicheren Distribution von Prüfmedikation, Sicherung von Identität und Unversehrtheit der Prüfmedikation

3. Verantwortlichkeit laut AMWHV § 12 und EU-GMP-Leitfaden Kap. 6 Abs. 2.9 für: Ordnungsgemäße Lagerung der Prüfmedikation; Genehmigung des Herstellprotokolls (AMWHV § 13 Abs. 1) und Überwachung der sachgerechten Durchführung; Gewährleistung der Komplettierung der sachgerechten Herstelldokumentation mit Unterschrift; Einarbeitung und Schulung des Herstell- und Lagerpersonals; Validierung des Herstellprozesses, Qualifizierung der Räume und der Ausrüstung; Sicherstellung der Qualität der Arzneimittel und Sicherstellung der Übereinstimmung mit den Regeln der Guten Herstellungspraxis gemäß AMWHV und EU GMP-Leitfaden

4. Überwachung der Herstellräume (Temperatur- und Feuchteüberwachung)

5. Anfängliche und fortlaufende Einhaltung von GMP-Richtlinien, z.B. über die Erstellung pharmazeutisch relevanter Standard-Arbeitsanweisungen (SOPs)

6. Genehmigung des Herstellprotokolls zur Chargenfreigabe

7. Im Falle eines Rückrufes Chargenverfolgung und Notfallplan

8. Überwachung und Genehmigung der Vernichtung benutzter Studienmedikation

9. Als Projektmanager weltweite Verantwortung für Planung, Durchführung, Monitoring, Betreuung, Kontrolle sowie Beendigung eines klinischen Studienprojektes (Lagerung und Versand von Medikationen im Auftrag der Kunden, Budgetkontrolle, Reporte über KPl, Audits und SOPs)

Die Klägerin hat diese Tätigkeiten in der mündlichen Verhandlung im Einzelnen erläutert. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Zur Überzeugung der Kammer steht unter Würdigung der sich hieraus ergebenden konkreten Beschäftigung der Klägerin fest, dass es sich ausgehend vom Maßstab der Apothekertätigkeit des § 1 Abs. 1 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer Hessen sowie des § 2 Abs. 3 BApO in allen o.g. Fassungen um eine berufsspezifische Beschäftigung als Apothekerin handelt.

Die Klägerin zeichnet verantwortlich für die Verpackung, Lagerung und Abgabe von Prüf- und Studienmedikation. Nach Eingang der Arzneimittel wird deren Identität mittels eines Abgleichs über die "Gelbe Liste" sowie Stichproben geprüft sowie die Unversehrtheit. Hierzu gehört u.a. die Auswertung von Temperaturkurven, die Aufschluss geben über die Temperierung der Prüfmedikation während des Transports. Die Temperaturkurven haben je nach Medikament einen unterschiedlichen Verlauf bzw. unterschiedliche Toleranzen, die nur mit Hilfe von pharmazeutischem Fachwissen gedeutet werden können. Die Klägerin legt insgesamt das Ablaufprotokoll für den Wareneingang fest, überwacht die Durchführung und bestätigt den ordnungsgemäßen Vorgang durch ihre Unterschrift. Die Lagerung der Medikamente erfolgt aufgrund von Computervorgaben in unterschiedlich temperierten Räumen, die die Klägerin zuvor validiert hat. Zur Abwicklung der klinischen Prüfung werden die Arzneimittel nach Maßgabe der von der Klägerin entworfenen und genehmigten Herstellungsunterlagen "umverpackt" und von ihr - teils nach landesspezifischen Vorgaben - etikettiert und ggf. mit Zusatzetiketten (z.B. mit dem Datum der Nachtestung) versehen. Aus den in § 13 Abs. 2 AMG genannten Ausnahmen des Erfordernisses einer Herstellungserlaubnis ergibt sich, dass die Herstellung von Arzneimitteln auch das Umfüllen bzw. das Abpacken einschließlich der Kennzeichnung zur klinischen Prüfung in einem Depot erfasst. Die von der Klägerin verantwortlich geleiteten Vorgänge der Umverpackung zwecks Versendung von Arzneimitteln an Studienteilnehmer ist damit Herstellung im Sinne von § 2 Abs. 3 BApO in der vom 07.12.2007 bis 22.04.2016 geltenden Fassung. Die Prüfmedikamente werden nach den Dosiervorgaben der jeweiligen Studie an die Studienteilnehmer versandt. Die Klägerin hat sicherzustellen, dass die Prüfmedikamente die Probanden in der richtigen Dosierung, zeitgerecht und unversehrt erreichen. Sie prüft, ob die von den Mitarbeitern getroffenen Versandmaßnahmen (insbesondere die Kühlung unter Berücksichtigung der Destination) ausreichend sind. Die Chargenfreigabe erfolgt u.a. mit Genehmigung der Klägerin. Es liegt auf der Hand, dass ein fundiertes pharmazeutisches Fachwissen unabdingbar ist. Nach der Testung werden die Prüfmedikamente quantifiziert und der Vernichtung zugeführt. Teils sind auch dem BtMG unterliegende Medikamente Studiengegenstand. In diesem Fall darf nur ein approbierter Apotheker die Vernichtung überwachen. Die Klägerin ist schließlich für die Abwicklung des Rückrufs von Arzneimitteln verantwortlich. Hierfür benötigt sie Kenntnisse der Regularien der Medikamentenkennzeichnung wie Chargennummer, Etikettentext und deren Deutung, um die richtigen Teile einer Lieferung aus dem Verkehr zu ziehen.

Die Tätigkeit umfasst demnach jedenfalls Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 BApO in der vom 07.12.2007 bis 22.04.2016 geltenden Fassung. Erst recht gilt dies nach Maßgabe von § 2 Abs. 3 Satz 2 BApO in der ab dem 24.12.2016 geltenden Fassung, indem Nr. 2 der Vorschrift ausdrücklich "Arzneimittelforschung, Entwicklung, Herstellung, Prüfung von Arzneimitteln, Tätigkeiten in der Arzneimittelzulassung, Pharmakovigilanz und Risikoabwehr in der pharmazeutischen Industrie" einbezieht. Zu Recht verweist die Beigeladene zu 3. auf die damit notwendigerweise verbundenen Qualitätskontrollen und -sicherungen, die Herstellung von Prüfmedikation und die Prüfung von Arzneimitteln in der klinischen Prüfung, wie sie die Klägerin vornimmt bzw. leitet und verantwortet. Gemäß Nr. 4 der Vorschrift sind selbst die "Lagerung, Qualitätserhaltung und Vertrieb von Arzneimitteln auf Großhandelsstufe" einbezogen als pharmazeutische Tätigkeit. Zur Überzeugung der Kammer geht die von der Klägerin ausgeübte Beschäftigung in ihren Anforderungen deutlich hierüber hinaus, indem auch eine Herstellung von Arzneimitteln sowie deren Distribution an die Studienteilnehmer erfolgen.

Die Tätigkeit dient damit gleichzeitig der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln, vorliegend insbesondere durch Herstellung, Prüfung und Lagerung (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer Hessen). Dabei ist die Ausübung des Versorgungsauftrags ausdrücklich nicht auf Apotheken beschränkt (§ 1 Abs. 1 Satz 3 der Berufsordnung).

Entgegen der Auffassung der Beklagten findet sich weder in § 6 SGB VI noch in den landesrechtlichen bzw. satzungsrechtlichen Bestimmungen die Voraussetzung einer "approbationspflichtigen Tätigkeit". Dies würde das befreiungsfähige Tätigkeitsprofil eines Apothekers letztlich auf die Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke oder in einer Krankenhausapotheke verengen, was weder mit § 2 Abs. 3 BApO noch mit der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 3/11 R -) in Einklang zu bringen ist (Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 - L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 100).

Das Bundessozialgericht hat dies mit Urteil vom 07.12.2017 - B 5 RE 10/16 R - (dort: Befreiung eines Tierarztes, vgl. Pressemitteilung vom 08.12.2017, Urteilsgründe noch unveröffentlicht) bestätigt. Demnach darf, soweit in den einschlägigen kammer- und versorgungsrechtlichen Normen die Voraussetzung einer Approbation nicht normiert ist, nicht die Approbationspflichtigkeit der konkret ausgeübten Tätigkeit als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung ergänzt werden. So liegt es auch hier.

Ob auch andere Akademiker mit einem abgeschlossenen naturwissenschaftlichen Studium die hier fragliche Tätigkeit ausüben können, ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht entscheidungserheblich. Eine entsprechende Begrenzung ist den maßgeblichen Vorschriften nicht zu entnehmen. Zudem kommt es - wie bereits ausgeführt - nicht auf die abstrakte berufliche Qualifikation des Beschäftigten an. Entscheidend ist vielmehr die Klassifikation der konkreten Tätigkeit, für die die Befreiung begehrt wird (vgl. BSG, Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 3/11 R -, juris, Rn. 34; Hessisches LSG, Urteil vom 28.04.2016 - L 1 KR 347/15 -, juris, Rn. 105).

Zwar stellt § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI eine Ausnahmevorschrift dar. Allerdings eröffnet diese Vorschrift dennoch gerade die Möglichkeit, bei Ausübung eines sog. freien Berufs in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht zu erlangen. Soweit die sachkundige Person nach Maßgabe des AMG ihre erforderliche Sachkenntnis außer durch Approbation als Apotheker auch durch eine nach abgeschlossenem Hochschulausbildung der Pharmazie, Chemie, Biologie, Human- oder Veterinärmedizin abgelegte Prüfung sowie mindestens zweijährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der qualitativen und quantitativen Analyse sowie sonstiger Qualitätsprüfungen von Arzneimitteln erwerben kann, weist dies gerade auf eine pharmazeutische Tätigkeit hin. Denn vorausgesetzt ist jedenfalls eine zweijährige praktische Tätigkeit auf dem Gebiet der Qualitätsprüfungen von Arzneimitteln, wobei die Prüfung von Arzneimitteln bereits ausdrücklich unter den Begriff der pharmazeutischen Tätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 BApO in der vom 07.12.2007 bis 22.04.2016 geltenden Fassung fällt. Zusätzlich muss der theoretische und praktische Hochschulunterricht im Falle einer nicht vorliegenden Approbation mindestens zwölf der in § 15 Abs. 2 AMG genannten Grundfächer umfasst haben, in denen darüber hinaus auch ausreichende Kenntnisse nachzuweisen sind. An diesen hohen zusätzlichen Anforderungen zeigt sich, dass sich die Qualifikation letztlich am Grundfall eines approbierten Apothekers messen lassen muss. Unabhängig davon reglementiert die genannte Vorschrift den Berufszugang im Sinne des Art. 12 GG. Dass unter engen Voraussetzungen auch andere Personen mit bestimmten naturwissenschaftlichen Hochschulabschlüssen zu dem Beruf zugelassen werden, schmälert nicht den pharmazeutischen Inhalt der Tätigkeit, sondern vermeidet primär unverhältnismäßige Beschränkungen gegenüber Personen, die den tatsächlichen Anforderungen aufgrund sich überschneidender Studieninhalte zuzüglich praktischer Erfahrung im Bereich der Prüfung von Arzneimitteln entsprechen.

Die Klägerin hat für die am 01.06.2012 aufgenommene Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 2. erst am 21.02.2014 (Antragseingang bei der Beklagten) einen Antrag auf Befreiung gestellt. Da der Befreiungsantrag somit nicht innerhalb von drei Monaten nach Aufnahme der Tätigkeit gestellt wurde, wirkt die Befreiung erst mit Eingang des Antrags.

Dem Klageantrag war somit vollumfänglich zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das vollständige Obsiegen der Klägerin.

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