ArbG Kassel, Urteil vom 22.08.2017 - 6 Ca 141/17
Fundstelle
openJur 2020, 42963
  • Rkr:

Bei einzelvertraglicher Inbezugnahme einer tariflichen Norm findet eine Inhaltskontrolle nach § 305 ff. BGB statt, wenn sich die arbeitsvertragliche Inbezugnahme lediglich auf eine einzelne Vorschrift dieses Tarifvertrags erstreckt. In diesem Fall entfällt die gesetzliche Privilegierung gemäß § 310 Abs. 4 S. 1 BGB.

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin seit 15. Juli 2016 ein monatliches Vorruhestandsgeld in Höhe von 85% der Urlaubsvergütung zu zahlen.Es wird weiter festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die anfallenden monatlichen Brutto-Differenzbeträge zwischen 75% und 85% der Urlaubsvergütung für den Zeitraum vom 15. Juli 2016 bis 15. April 2017 ab 27. April 2017 und für die folgenden Kalendermonate jeweils ab dem 16. des laufenden Monats mit Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basis-Zinssatz zu verzinsen.Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 12.376,44 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des der Klägerin monatlich zustehenden Vorruhestandsgeldes.

Die Beklagte ist eine Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forst und Gartenbau.

Die Klägerin war ursprünglich seit 14. Juli 1993 bei der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft Mittel- und Ostdeutschland beschäftigt.

Mit dieser schloss sie einen Auflösungs- und Vorruhestandsvertrag vom 05. Dezember 2012 (Bl. 23 - 26 d. A.), durch den sie mit Ablauf des 30. September 2013 aus dem Arbeitsverhältnis ausschied.

Durch Bundesgesetz wurden die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ab 01. Januar 2013 aufgelöst und in die Beklagte eingegliedert.

"§ 4 des Auflösungsvertrags vom 05. Dezember 2012 hat folgenden Wortlaut:

§ 4

(1) Die Höhe des zu zahlenden Vorruhestandsgeldes ergibt sich aus § 11 Abs. 1 Fu-TV/LSV und wird ab dem auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses folgenden Monats jeweils am 15. eines Monats gezahlt.

(2) Für die Berechnung der Urlaubsvergütung als Vorruhestandsgeld gelten die am 1. Dezember 1999 gültigen Berechnungsgrundlagen des BAT/LSV 1993.

(3) Das Vorruhestandsgeld wird entsprechend den Vergütungsanpassungen des BAT/LSV 1993 erhöht und letztmals am 15. des Monats gezahlt, in dem der Vorruhestand nach § 2 oder 3 oder durch Tod endet."

Gemäß § 11 Abs. 1 des in Bezug genommenen Fusionstarifvertrags (Bl. 29 - 31 d. A.) beträgt die monatliche Höhe des Vorruhestandsgelds 75 % der Urlaubsvergütung, wenn der Beschäftigte das 50igste Lebensjahr und noch nicht das 55igste Lebensjahr vollendet hat, sowie 85 % der Urlaubsvergütung, wenn der Beschäftigte das 55-igste Lebensjahr (bei Schwerbehinderten da 50-igste Lebensjahr) vollendet hat.

Am 04. Juni 2016 vollendete die Klägerin das 55-igste Lebensjahr. Mit Schreiben vom 02. August 2016 beantragte sie bei der Beklagten die Aufstockung des Vorruhestandsgelds auf 85 %.

Dieser Antrag wurde seitens der Beklagten mit Schreiben vom 25. August 2016 (Bl. 32 d. A.) zurückgewiesen.

Daraufhin hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben, die beim Arbeitsgericht Kassel am 12. April 2017 eingegangen und der Beklagten am 21. April 2017 zugestellt worden ist.

Die Klägerin meint, dass sich zu ihren Gunsten ein Anspruch bereits aus dem Wortlaut von § 11 Abs. 1 des Fusionstarifvertrages (Bl. 29 - 31 d. A.) ergebe.

Des Weiteren spreche auch der Sinn und Zweck dieser tarifvertraglichen Regelungen für ein derartiges Auslegungsergebnis.

Zur Unterstützung ihrer Rechtsauffassung bezieht sich die Klägerin auch auf eine Ergebnisniederschrift über die Sonder-Informationsveranstaltung der LSV-Bundesverbände über den Fusions-Tarifvertrag LSV vom 23. August 2000 (Bl. 33 - 39 d. A.), und dort insbesondere auf die Ausführungen zu § 11 Abs. 1 (Bl. 38 d. A.).

Die Klägerin behauptet weiter, dass nach Abschluss des Fusionstarifvertrages jahrelang mit Vollendung des 55-igsten Lebensjahres das Vorruhestandsgeld von 75 % auf 85 % erhöht worden sei.

Dies gelte jedenfalls für verschiedene Sozialversicherungsträger in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Schließlich meint die Klägerin, dass sie ihren Anspruch auch auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz stützen könne.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an sie seit dem 15. Juli 2016 ein monatliches Vorruhestandsgeld in Höhe von 85% der Urlaubsvergütung zu zahlen.Weiter festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, die anfallenden monatlichen Brutto-Differenzbeträge zwischen 75% und 85% der Urlaubsvergütung für den Zeitraum vom 15. Juli 2016 bis 15. April 2017 ab Rechtshängigkeit und für die folgenden Kalendermonate jeweils ab dem 16. des laufenden Monats mit Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basis-Zinssatz zu verzinsen.Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie meint, dass § 11 Abs. 1 des Fusionstarifvertrages (Bl. 29 - 31 d. A.) dahingehend auszulegen sei, dass maßgeblich für die Höhe des Vorruhestandsgeldes das Alter sei, das der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin zum Zeitpunkt des Eintritts in den Vorruhestand erreicht gehabt habe.

Dies folge daraus, dass eine ausdrückliche Erhöhung des Vorruhestandsgeldes bei Vollendung des 55-igsten Lebensjahres während des Vorruhestandes im Tarifvertrag nicht vorgesehen sei.

Die Beklagte meint, dass eine etwaige anders gelagerte Praxis in anderen Bundesländern für sie nicht maßgebend sei.

Sie meint, dass aus dem Vorbringen der Klägerin jedenfalls nicht ersichtlich sei, dass Sozialversicherungen in Mittel- und Ostdeutschland insoweit bei der Berechnung des Vorruhestandsgeldes anders verfahren seien.

Die Beklagte meint weiter, dass die in § 11 Abs. 1 vorgesehene Differenzierung der Höhe des Vorruhestandsgeldes nach Lebensalter bei Eintritt in den Vorruhestand sachlich gerechtfertigt sei, wobei sich die Legitimation hierfür aus § 10 Satz 3 Ziffer 4 AGG ergebe.

Wegen weiterer Einzelheiten des tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens beider Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Das Vorruhestandsgeld der Klägerin ist ab dem Monat Juli 2016 gemäß ihrem Vorruhestandsvertrag in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Fusionstarifvertrag auf 85 % ihrer Urlaubsvergütung zu erhöhen.

Dieses Ergebnis folgt aus § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach sich bei einer Regelung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine unangemessene Benachteiligung des Arbeitnehmers auch daraus ergeben kann, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.

Bei den Vertragsbedingungen des streitgegenständlichen Vorruhestandsvertrages handelt es sich um allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB, da diese Vertragsbedingungen seitens der Beklagen vorformuliert und für eine Vielzahl von Vorruhestandsverträgen verwendet worden sind.

Auch bei einzelvertraglicher Inbezugnahme einer tariflichen Norm findet eine Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB statt, wenn sich - wie im vorliegenden Fall - die arbeitsvertragliche Inbezugnahme lediglich auf eine einzelne Vorschrift dieses Tarifvertrags erstreckt, da in diesem Fall die gesetzliche Privilegierung gemäß § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB entfällt (vgl. LAG Hamm, Urteil v. 29.11.2012, 15 Sa 1091/012, bei Juris).

Transponiert man die Regelung des § 11 Abs. 1 Fusionstarifvertrag in die vertragliche Regelung des Vorruhestandsvertrags der Klägerin, ergibt sich folgende vertragliche Formulierung:

"Die Höhe des Vorruhestandsgeldes beträgt monatlich

75 % der Urlaubsvergütung, wenn der Beschäftigte das 50-igste Lebensjahr und noch nicht das 55-giste Lebensjahr vollendet hat,85 % der Urlaubsvergütung, wenn der Beschäftigte das 55-igste Lebensjahr (bei Schwerbehinderte das 50. Lebensjahr) vollendet hat...(2) Für die Berechnung der Urlaubsvergütung als Vorruhestandsgeld gelten die am 01. Dezember 1999 gültigen Berechnungsgrundlagen des BAT-LSV 1993.

(3) Das Vorruhestandsgeld wird entsprechend den Vergütungsanpassungen des BAT-LSV 1993 erhöht und letztmals am 15. des Monats gezahlt, in dem der Vorruhestand nach § 2 Abs. 2 oder 3 oder durch Tod endet."

Die Unklarheit der Vergütungsregelung bei dieser Formulierung folgt daraus, dass nicht eindeutig klar ist, ob sich die Voraussetzung der Vollendung des 55. Lebensjahres auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Vorruhestandsvertrags bezieht oder ob die Vollendung des 55. Lebensjahres der ausgeschiedenen Arbeitnehmerin auch noch nach Abschluss des Vorruhestandsvertrags erfolgen kann, um den auf 85 % der Urlaubsvergütung erhöhten Anspruch auszulösen.

Da gemäß § 305 c Abs. 2 BGB Zweifel bei der Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu Lasten des Verwenders gehen, ist die Regelung deshalb so auszulegen, dass sich das Vorruhestandsgeld der Klägerin erhöht, wenn diese nach Abschluss des Vorruhestandsvertrags das 55. Lebensjahr vollendet.

Die Begründetheit des auf die Auszahlung von Zinsen gerichteten Klageantrags Ziffer 2 folgt für den Zeitraum vom 15. Juli 2016 bis 15. April 2017 aus der Rechtshängigkeit des Klageantrags Ziffer 1 gemäß §§ 286 Abs. 1 Satz 2, 288 Abs. 1 BGB, während die Zinsansprüche für die folgenden Kalendermonate Fälligkeits-Zinsansprüche gemäß §§ 286 Abs. 2 Ziffer 1, 288 Abs. 1 BGB sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus dem vollen Unterliegen der Beklagten gemäß §§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO.

Der Wert des Streitgegenstandes ist gemäß § 42 Abs. 1 GKG mit dem 36-fachen monatlichen Differenzbetrag in Höhe von 343,79 € zu bemessen.

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