OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.09.2019 - OVG 6 N 58.19
Fundstelle
openJur 2020, 42068
  • Rkr:

Zur Auslegung des Begriffs "Erstentscheidung in der Sache" im Sinne des Artikels 10 Dublin III-Verordnung.

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Juni 2019 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Gründe

Der Kläger, nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und eine Überstellung nach Tschechien. Das Verwaltungsgericht hat den Überstellungsbescheid der Beklagten vom 21. Februar 2019 mit der Erwägung aufgehoben, die Voraussetzungen für die Ablehnung des Antrags des Klägers als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG lägen nicht vor, da vorliegend Deutschland und nicht Tschechien nach der Dublin III-Verordnung zuständiger Mitgliedstaat sei. In dem für die Beurteilung des Falles entscheidenden Zeitpunkt nach Artikel 7 Abs. 2 der Dublin III-VO, hier der Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers am 19. Dezember 2018, habe vorliegend noch keine "Erstentscheidung in der Sache" über den Asylantrag seiner Ehefrau und sowie seiner Töchter vorgelegen. Deren Asylantrag sei zwar mit Bescheid des Bundesamtes vom 28. Oktober 2016 abgelehnt worden. Dieser Bescheid stelle jedoch keine Erstentscheidung in der Sache im Sinne des Artikels 10 Dublin III-Verordnung dar, weil er im Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers, also am 19. Dezember 2018, nicht bestandskräftig gewesen sei, denn die Ehefrau und die Töchter des Klägers hätten hiergegen fristgerecht Klage erhoben, die erst im März 2019 rechtskräftig abgewiesen worden sei.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem sie geltend macht, bereits der Bescheid des Bundesamtes vom 28. Oktober 2016 sei als Erstentscheidung in der Sache im Sinne des Artikels 10 Dublin III-Verordnung anzusehen.

Der auf den Zulassungsgrund grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützte Antrag hat keinen Erfolg. Die Beklagte hat eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend dargelegt.

Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen ist neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage erforderlich, dass der Zulassungsantrag konkret auf die Klärungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Rechts- bzw. Tatsachenfrage sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht.

Diesen Darlegungsanforderungen genügt die Antragsbegründung nicht.

Die Beklagte hält für klärungsbedürftig,

"ob hinsichtlich des Zeitpunktes einer Erstentscheidung im Sinne von Art. 10 Dublin III-Verordnung auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung, in diesem Falle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, oder auf den Zeitpunkt einer bestands- und rechtskräftigen Entscheidung über den internationalen Schutz abzustellen ist."

Die Beklagte hat nicht hinreichend dargelegt, dass diese Frage zu ihrer Klärung der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.

Rechtsfragen können hinreichend bereits durch das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts selbst geklärt sein, wenn die von dem Verwaltungsgericht zu der Rechtsfrage vertretene Rechtsansicht überzeugend begründet ist und vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der Rechtsansicht weder bezeichnet noch sonst durch abweichende Rechtsprechung oder gewichtige Argumente im Schrifttum erkennbar sind. In diesen Fällen kann die Berufungszulassung nicht zur Rechtseinheit oder -fortbildung beitragen, weil die Rechtseinheit nicht erkennbar gefährdet ist und kein Bedarf an Rechtsfortbildung besteht (GK-AsylVfG, AsylG § 78, Lfg. 104 Dezember 2015, Rn. 118). So ist es hier.

Das Verwaltungsgericht hat seine Auffassung zur Frage des Vorliegens einer Erstentscheidung in der Sache im Sinne des Artikels 10 Dublin III-VO ausgeführt, sie folge aus Sinn und Zweck der Verordnung, wonach die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein solle und die gemeinsame und kohärente Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge bezwecke. Er könne daher im Lichte von Artikel 8 EMRK bzw. Artikel 7 Grundrechte-Charta nur dahin verstanden werden, dass die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaates für Familienangehörige erst dann ende, wenn das Verfahren des Familienangehörigen bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossen sei, er also keinen potenziellen Anspruch auf internationalen Schutz mehr habe. Hierfür spreche auch die Systematik von Artikel 9 und Artikel 10 Dublin III-VO. Diese Begründung überzeugt.

Die Dublin III-Verordnung legt nach ihrem Artikel 1 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen.

Eines der Kriterien ist dabei, dass die Schutzanträge mehrerer Familienangehöriger gemeinsam bzw. in der Zuständigkeit ein und desselben Mitgliedstaats behandelt werden sollen. Dies kommt nicht nur in dem hier in Rede stehenden Artikel 10 zum Ausdruck, wonach ein Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sofern ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, und die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Dieser Gedanke hat seinen Niederschlag darüber hinaus in mehreren weiteren Vorschriften gefunden. Im Rahmen der "Garantien für Minderjährige" in Artikel 6 sind die Mitgliedstaaten gehalten, den Möglichkeiten der Familienzusammenführung Rechnung zu tragen (Absatz 3 Buchstabe a). Artikel 8 der Verordnung, der den Umgang mit minderjährigen Antragstellern regelt, befasst sich in wesentlichen Teilen mit der Ermittlung etwaiger Familienangehöriger und deren Zusammenführung mit dem Minderjährigen. Artikel 11 der Verordnung sieht vor, dass bei Antragstellung mehrerer Familienangehöriger in zeitlicher Nähe die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können sowie Maßgaben, die verhindern sollen, dass die Zuständigkeitsbestimmung eine Trennung der Familienangehörigen zur Folge haben könnte. Den Schutzgedanken einer gemeinsamen Durchführung der Antragsverfahren mehrerer Familienangehöriger sieht die Verordnung sogar dann vor, wenn bereits ein Teil der Familienangehörigen aus deren Anwendungsbereich entlassen ist. Artikel 9 Dublin III-VO bestimmt: Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.

Diese Vorschriften dienen der Umsetzung der der Dublin III-Verordnung vorangestellten Begründungserwägungen, in deren Licht sie auch auszulegen sind. In der Begründungserwägung (14) heißt es: "Im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden." Erwägungsgrund (15) lautet: "Mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat kann sichergestellt werden, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden."

In der Gesamtschau lässt sich diesem Regelungskontext entnehmen, dass eine Zusammenführung mehrerer Familienangehöriger ein das gesamte Verfahren nach der Dublin III-Verordnung prägendes Element ist, sofern es dem schriftlich geäußerten Wunsch der betroffenen Familienangehörigen entspricht. Dem trägt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts in zutreffender Weise Rechnung.

Die gegenteilige Auffassung der Beklagten, wonach mit Erstentscheidung in der Sache im Sinne des Artikels 10 Dublin III-VO die behördliche Entscheidung, nicht aber ein sich gegebenenfalls anschließendes Rechtsmittelverfahren gemeint sei, überzeugt schon deshalb nicht, weil sie zu unterschiedlichen Schutzniveaus hinsichtlich der Achtung des Familienlebens führen würde, je nachdem in welchem Abschnitt des Verfahrens sich der Antragsteller bzw. seiner Familienangehörigen befindet. Sie würde bewirken, dass eine Familienzusammenführung für die Zeit zwischen einer ablehnenden Bescheidung durch die Behörde bis zum Abschluss eines sich gegebenenfalls anschließenden Rechtsschutzverfahrens von der Verordnung nicht mehr vorgesehen wäre.

Die von der Beklagten vertretene Auslegung zeigt keine Umstände auf, die ihre Annahme stützen. Ihre Argumente tragen diesen Schluss nicht.

Die Beklagte führt an, der Sinn des Artikels 10 Dublin III-VO liege darin, den Vorteil zu nutzen, der sich für die Mitgliedstaaten daraus ergebe, dass mehrere Familienangehörige zur gleichen Zeit im Asylverfahren und damit wechselseitig als Auskunftspersonen zur Verfügung stünden. Sie verkennt, dass hiermit für die Frage, wann eine Erstentscheidung in der Sache im Sinne des Artikels 10 der Dublin III-Verordnung vorliegt, nichts gewonnen ist. Der von ihr in den Vordergrund gerückte Zweck mag der Vorschrift zugrunde liegen, relativiert für sich genommen den darüber hinausgehenden Zweck der Achtung des Familienlebens nicht. Überdies ist auch nicht ersichtlich, weshalb einzelne Familienangehörige nicht mehr als Auskunftspersonen zur Verfügung stehen können sollten, wenn deren Schutzanträge bereits durch einen Bescheid der Asylbehörde abgelehnt worden sind, an die sich jedoch ein Rechtsmittelverfahren anschließt. Zudem lässt sich dem von der Beklagten selbst angeführten Bedürfnis nach kohärenten - also im Ergebnis nicht widersprüchlichen Entscheidungen zu einzelnen Familienmitgliedern - nur dann Rechnung tragen, wenn man für den Begriff "Erstentscheidung in der Sache" auf die Rechts- oder Bestandskraft dieser Entscheidung abstellt.

Ohne Erfolg führt die Beklagte an, die Erwägungsgründe 14 und 15 der Verordnung stünden ihrer Auffassung nicht entgegen, da Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) kein schrankenloses Menschenrecht kodifiziere und demgemäß auch die Dublin III-Verordnung kein uneingeschränktes Recht auf Familienzusammenführung vorsehe (Artikel 2 GG "sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat", Artikel 16 "rechtmäßiger Aufenthalt", Artikel 7 Abs. 3 "sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme stattgegeben hat"). Auch insoweit verkennt sie, dass durch die Möglichkeit zur Einschränkung des Rechts aus Artikel 8 EMRK durch die Mitgliedstaaten für sich genommen für die vorliegende Auslegungsfrage nichts gewonnen ist. Für ihren Hinweis auf Artikel 2 Buchstabe g) Dublin III-VO, der den Begriff "Familienangehörige" im Sinne der Verordnung definiert und davon abhängig macht, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden habe, gilt nichts anderes, zumal diese Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 10 Dublin III-VO ohnehin erfüllt sein muss. Auch der Hinweis auf Artikel 16 Dublin III-VO führt nicht weiter. Die Vorschrift regelt die Zuständigkeit zur Durchführung von Schutzanträgen sog. abhängiger Personen. Die Zuständigkeit richtet sich für solche Personen danach, ob das Familienmitglied, von dem die Person abhängig ist, sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält. Dieser Mitgliedstaat ist danach der zuständige. Die Vorschrift schränkt das Ziel, Familien zusammenzuführen, daher nicht ein, sondern konkretisiert Kriterien, nach denen es verfolgt werden soll.

Auch dem Hinweis der Beklagten auf Artikel 17 Dublin III-VO, wonach es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibe, aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abzuweichen, lässt sich für die Auslegung des Begriffs "Erstentscheidung in der Sache" im Sinne des Artikels 10 Dublin III-VO nichts entnehmen.

Fehl geht auch das Argument, der Unionsgesetzgeber unterscheide im Wortlaut zwischen "Erstentscheidung" (in englischer Fassung "first decision") in den Artikeln 7, 10 und 17 der Verordnung und einer "endgültigen Entscheidung" (in englischer Fassung "final decision") in Artikel 29. Die Beklagte lässt den Regelungskontext unberücksichtigt. Artikel 29 Abs. 1 Dublin III-VO regelt die Überstellung eines Antragstellers im Sinne von Artikels 18 Abs. 1 Buchstabe c) oder d) in einen anderen Mitgliedstaat, die spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten u.a. nach der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf zu erfolgen habe. Aus dieser Regelungssystematik lässt sich für die hier fragliche Auslegung des Artikels 10 der Verordnung nichts herleiten. Insbesondere lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen, dass der Normgeber die behördliche Entscheidung mit "Erstentscheidung in der Sache" und eine (letztinstanzliche) gerichtliche Entscheidung mit "endgültiger Entscheidung" bezeichnet hätte.

Auch der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des EuGH vom 5. Juli 2018 - C-213/17 - (Rn. 31) führt nicht weiter. Der EuGH befasst sich dort mit dem Begriff "Ablehnung in erster Instanz" des Artikels 18 Abs. 2 Dublin III-VO, den der EuGH so verstehe, dass damit eine noch nicht bestandskräftig gewordene Behördenentscheidung gemeint sei. Die Beklagte lässt unberücksichtigt, dass der Begriff "Erstentscheidung in der Sache" mit dem der "Ablehnung in erster Instanz" nicht identisch ist. Die Regelungssystematik spricht zudem gegen ihre Ansicht, da Artikel 18 darauf hindeutet, dass der Verordnungsgeber ausdrücklich formuliert, wenn er auf eine Entscheidung in erster Instanz, also einer durch die zuständige Behörde, abstellt.

Verfehlt ist auch ihr Einwand, die Asylanträge der Ehefrau und Töchter des Klägers seien mittlerweile rechtskräftig abgelehnt. Dies ist keine Frage der Auslegung des Artikels 10 Dublin III-VO, sondern des Artikels 7 Abs. 2 jener Verordnung, der den maßgeblichen Zeitpunkt zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats regelt.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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