LG Frankfurt (Oder), Urteil vom 09.03.2020 - 23 Wi KLs 1/18
Fundstelle
openJur 2020, 39944
  • Rkr:
Tenor

Die Angeklagten werden freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe

(abgekürzt gemäß § 267 Abs. 5 StPO)

I.

(Tatvorwurf)

Mit der in der Fassung des Eröffnungsbeschlusses der Kammer vom 28.1.2020 zugelassenen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) vom 13.11.2017 wurde den Angeklagten vorgeworfen, in der Zeit vom 1.1.2009 bis 31.12.2013 in W... durch 119 selbstständige Handlungen gemeinschaftlich als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wurde, vorenthalten zu haben und als Arbeitgeber die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen zu haben und dadurch dieser Stelle vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wurde, vorenthalten zu haben und durch 35 weitere selbständige Handlungen (betreffend den Zeugen B...) als Arbeitgeber die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen zu haben und dadurch dieser Stelle vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wurde, vorenthalten zu haben.

Im Einzelnen wurde ihnen Folgendes zur Last gelegt:

Die Angeklagten waren in dem oben genannten Zeitraum Geschäftsführer der PIN Mail GmbH und im Bereich der Brief- und Paketzustellung tätig.

Dabei hätten sie die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer nicht bei dem zuständigen Sozialversicherungsträgern angemeldet, so dass durch die nicht abgeführte Beiträge ein sozialversicherungsrechtlicher Gesamtschaden in Höhe von 235.722,05 € entstanden sei.

Hierbei habe es sich um folgende Einzelfälle gehandelt:

An die AOK ... hätten sie im Zeitraum von Januar 2009 bis November 2013 in 59 Fällen insgesamt 55.069,45 € Arbeitgeberanteile und 55.081,41 € Arbeitnehmeranteile nicht bezahlt. Arbeitnehmer in diesen Zeiträumen seien gewesen: ... L..., von Januar 2009 bis November 2013 und ... M... von Januar 2011 bis November 2013.

An die Barmer ... hätten sie im Zeitraum von Januar 2009 bis Dezember 2013 in 60 Fällen insgesamt 62.485,15 € Arbeitgeberanteile und 56.768,42 € Arbeitnehmeranteile nicht gezahlt. Arbeitnehmer in diesem Zeitraum seien ... S....und ... K... gewesen.

An die Minijob-Zentrale hätten die Angeklagten im Zeitraum von Januar 2011 bis November 2013 in 35 Fällen insgesamt 3.317,62 € Arbeitgeberanteile nicht gezahlt. Arbeitnehmer sei in dieser Zeit ... B... gewesen.

II.

(Feststellungen des Gerichts)

Das Gericht hat im Ergebnis der Hauptverhandlung folgende Sachverhaltsfeststellungen treffen können:

Die Angeklagten waren im angeklagten Zeitraum angestellte Geschäftsführer der PIN Mail GmbH. Die Gesellschaft war im Bereich der Brief- und Paketzustellung tätig. Sie hatte mehrere Depots, u.a. in F...., W..., F... und E... und sich vertraglich verpflichtet, in diesen Bereichen Briefsendungen und Pakete an die jeweiligen Empfänger zuzustellen. Hierzu hatte sie Räumlichkeiten an den jeweiligen Depotorten angemietet, an denen die Postsendungen angeliefert und für die entsprechenden Auslieferungsgebiete auf verschiedene Boxen vorsortiert wurden. Die Auslieferung fand dabei noch am selben Tag statt. Dazu bediente sich die Gesellschaft mehrerer Auftragnehmer als Subunternehmer (im Folgenden "Auftragnehmer"), die ihrerseits ein von vorneherein vertraglich festgelegtes Auslieferungsgebiet hatten. Zu diesen Personen gehörten u.a. die von der Staatsanwaltschaft als scheinselbständig eingestuften Personen ....M..., ... L..., ...K..., ... S... und ...B. ... B... war als einziger der genannten Personen in der Frühsortierung der Post in dem Depot in F... tätig.

Nachdem die Vorsortierung regelmäßig am frühen Vormittag abgeschlossen war, kamen die Auftragnehmer mit ihren eigenen Fahrzeugen zu den Depots und entnahmen ihrerseits die Sendungen selbständig aus ihren jeweiligen Boxen, ohne dass noch Absprachen oder Weisungen der Angeklagten erfolgt oder notwendig gewesen wären. Zu den Gebäuden hatten die Auftragnehmer jederzeitigen Zugang, da dort Angestellte rund um die Uhr beschäftig waren. Den Zeitpunkt der Entnahme konnten die Auftragnehmer frei wählen; sie erschienen - wechselnd je nach Auftragnehmer - regelmäßig in den Vormittagsstunden und holten ihre Sendungen ab. Anschließend erfolgte die Auslieferung der Pakete durch die Auftragnehmer, die ihre Touren frei bestimmen konnten. Vertraglich waren sie verpflichtet, die Auslieferung noch am selben Tag durchzuführen. Die Angeklagten hatten gezielt unter anderem durch entsprechende Zeitungsinserate nach selbständig tätigen Kurierfahrern gesucht. Die Auftragnehmer meldeten sich auf die Zeitungsinserate oder auch aufgrund von Mundpropaganda bei den Angeklagten.

Das Zustellgebiet war mit jedem Auftragnehmer individuell vereinbart. Überwiegend hatten die jeweiligen Auftragnehmer von vornherein eine entsprechende Präferenz für ein bestimmtes Zustellgebiet. Es war daher nicht möglich und kam auch nicht vor, dass die Angeklagten einem Auftragnehmer ein anderes Zustellgebiet einseitig zuwiesen.

Bestimmte Vorgaben oder Weisungen für die Auslieferung wurden den Auftragnehmern nicht gemacht; diese wurden auch nicht bei ihrer Arbeit kontrolliert. Vertragliche Regelungen hierzu wurden nicht getroffen.

Die Vergütung der Leistungen der Auftragnehmer erfolgte entsprechend den vertraglichen Regelungen nach Rechnungslegung jeweils monatlich aufgrund der Anzahl der ausgelieferten Briefe und Pakete und für ... B... nach zeitlicher Abrechnung.

Alle Auftragnehmer sahen sich als selbständig an, ohne dass sie (durchgängig) eigene Arbeitnehmer beschäftigten. Nötige Büroarbeiten erledigten sie bei sich zu Hause. Mit Ausnahme des ... S....waren alle bereits vor Beginn der Tätigkeit für die Angeklagten als Selbständige tätig und hatten ein Gewerbe angemeldet. Der ... S... meldete ein Gewerbe mit Beginn seiner Tätigkeit für die Angeklagten an.

Der ... M... hatte neben "Kurierdienstleistungen" noch "Entsorgungs- und allgemeine Hausdienstleistungen" als Tätigkeitsgebiet angegeben und war insofern beitragspflichtiges Mitglied der Handwerkskammer. Der ... B... hatte bereits ein Gewerbe als Fahrschullehrer angemeldet und betrieb dies weiterhin neben der Tätigkeit für die Angeklagten. ...K... war zuvor als Versicherungsfachmann für die N... Versicherung selbständig tätig und hatte zudem ein Gewerbe in dem Bereich der PC-Soft- und Hardware angemeldet. ... L....hatte neben den Angeklagten einen Kundenstamm, für den sie Kurierdienstleistungen erbrachte.

Den Angeklagten waren die vorgenannten Umstände bekannt; sie gingen davon aus, dass sämtliche ihrer Auftragnehmer selbständig tätig waren und nicht der gesetzlichen Sozialversicherungspflicht unterliegen.

Im Fall einer nichtselbständigen Tätigkeit wären die Einkünfte der Auftragnehmer nach folgenden Lohnsteuerklassen zu versteuern gewesen:

Auftragnehmer

LSt-Klasse

Kirchensteuerpflichtig

L

IV

-

M

I

-

S

I

-

K

IV

-

B

IV

-

III.

(Rechtliche Würdigung)

Die Angeklagten waren aus tatsächlichen Gründen freizusprechen, weil nach den getroffenen Feststellungen weder der objektive noch der subjektive Tatbestand des § 266a Abs. 1 und 2 StGB erfüllt ist.

1. Objektiver Tatbestand

Es bestand zwischen den Angeklagten und den Zeugen L, M, S, K und B kein zur Versicherungspflicht in sämtlichen Zweigen der Sozialversicherung führendes Beschäftigungsverhältnis im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB IV, mithin waren die Angeklagten keine Arbeitgeber, die genannten Zeugen keine Arbeitnehmer.

Ob eine Person Arbeitgeber ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht, das wiederum auf das Arbeitsrecht Bezug nimmt. Arbeitgeber ist danach derjenige, dem der Arbeitnehmer nicht selbständige Dienste gegen Entgelt leistet und zu dem er in einem Verhältnis persönlicher Abhängigkeit steht, wobei besondere Bedeutung dem Weisungsrecht sowie der Eingliederung in den Betrieb des Arbeitgebers zukommt (BGH NStZ 2015, 648). Weitere Kennzeichen der Arbeitnehmerstellung sind insbesondere die Bezahlung nach festen Entgeltsätzen und das Fehlen eines eigenen unternehmerischen Risikos. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich ausgehend von den genannten Umständen nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (stRspr. vgl. zum Ganzen zB BSGE 120, 99). Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung bzw. der selbstständigen Tätigkeit setzt dabei voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, d.h. den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen werden (BSGE 120,99).

Durch Vereinbarung der Vertragsparteien können die aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse bestehenden Abführungspflichten nicht verändert werden. Zur Abgrenzung zwischen Arbeitsverhältnissen und selbstständigen Tätigkeiten kommt es vorrangig auf die tatsächlichen Verhältnisse, erst dann auf die vertraglichen Vereinbarungen und Bezeichnungen an (BGH NStZ-RR 2013, 278; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 266a, Rz. 4 und 4 a. m.w.N.).

Unter Zugrundelegung der genannten Abgrenzungskriterien und nach Ermittlung sowie Abwägung sämtlicher Kriterien des vorliegenden Einzelfalles miteinander war im Ergebnis von einer selbständigen Tätigkeit der genannten Zeugen auszugehen.

2. Subjektiver Tatbestand

Selbst wenn die Arbeitgebereigenschaft objektiv zu bejahen wäre, läge ein nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB zu behandelnder Tatbestandsirrtum vor, der den Vorsatz ausschließt, weil die Angeklagten im Rahmen der von ihnen vorgenommenen Parallelwertung in der Laiensphäre davon ausgingen, nicht Arbeitgeber der Auftragnehmer zu sein.

Wie schon das LG Ravensburg (StV 2007, 412) zutreffend ausgeführt hat, liegen zwischen der Annahme und Verneinung einer Arbeitgebereigenschaft oft nur Nuancen, die von fachkundigen Entscheidungsträgern unterschiedlich betrachtet und gewertet werden können. Bestätigt wird diese Einschätzung von Segebrecht (Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 7 Rn. 30):

"Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass in Verwaltungs- und auch in Gerichtsverfahren nicht zuletzt eine ‚ziel- und ergebnisorientierte‘ Tatsachendarstellung durch die Beteiligten - je nachdem, ob Sozialleistungen gewollt oder Beitragspflichten unerwünscht sind - der ‚objektiv‘ richtigen Entscheidungspraxis der Gerichte und der Verwaltung faktische Grenzen setzt. Für revisionsfeste Entscheidungen in strittigen und problematischen Abgrenzungsfällen müssen ggf. äußerst umfangreiche Ermittlungen angestellt (und die so festgestellten Sachverhalte auch im Urteil umfassend wiedergegeben) werden, um anschließend alle Anhaltspunkte, die für oder gegen eine Beschäftigung sprechen, mit- und gegeneinander abzuwägen und ihre jeweils für den Einzelfall maßgebliche Tragweite zu gewichten. Solche Bewertungsprozesse können durchaus dazu führen, dass die 2. Instanzen bei (mindestens inhaltlich) vergleichbaren Tätigkeiten rechtsfehlerfrei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können."

Das Bundesverfassungsgericht hat die der Arbeitgebereigenschaft zugrunde liegende Bestimmung des § 7 Abs. 1 SGB IV zwar als hinreichend bestimmt angesehen (NJW 1996, 2644), jedoch nur im Hinblick auf die sozialversicherungsrechtliche Frage der Beitragspflicht. Ob das (strengere [BVerfGE 49, 168, 181]) strafrechtliche Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG überhaupt durch ein Tatbestandsmerkmal (Arbeitgeber) gewahrt werden kann, welches nur in der Rechtsfigur des Typus normiert ist (vgl. BVerfG a.a.O.), kann schon grundsätzlich bezweifelt werden. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht zum Bestimmtheitsgebot aus Art 103 Abs. 2 GG ausgeführt, jedermann solle vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht sei (2 BvR 2559/08, Rn. 70 zitiert nach juris). Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehre, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen (BVerfG a.a.O. Rn. 69). Diese Kriterien sind ersichtlich nicht erfüllt, wenn die Arbeitgebereigenschaft nicht mehr von einem juristischen Laien, sondern nur noch im Rahmen eines langwierigen sozialrechtlichen Verfahrens geklärt werden kann. In der strafprozessualen Praxis ist zu beobachten, dass die Verfahren wegen Verstoßes gegen § 266 a StGB von der Deutschen Rentenversicherung angestoßen werden und die Würdigung der Deutschen Rentenversicherung kritiklos von der Staatsanwaltschaft in die Anklageschrift übernommen wird.

Es ist zwar anerkannt, dass die Rechtsprechung gehalten ist, Unklarheiten über den Anwendungsbereich von Strafnormen durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (sog. Präzisierungsgebot, BVerfG 2 BvR 2559/08). Jedoch ist genau diese Konkretisierung im Sinne einer besseren Vorhersehbarkeit der Arbeitgebereigenschaft weder den Sozial- noch den Strafgerichten bisher gelungen. Vielmehr finden im Rahmen der von der Rechtsprechung herangezogenen Lehre vom Gesamtbild (z.B. BSGE 120, 99) stetig mehr Faktoren Berücksichtigung (vgl. Segebrecht in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB IV, 3. Aufl. 2016, § 7 Abs. 1 SGB IV, Rn. 93 ff., der insgesamt 30 relevante Faktoren auflistet, zuletzt BSG NZS 2017, 664 ff. mit der Honorarhöhe als weiteres Kriterium). Auch zu der im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Frage der beitragsrechtlichen Beurteilung von Kurierfahrern hat es unterschiedliche Rechtsprechung gegeben (vgl. SG Düsseldorf, Urteil v. 13.3.2003, S 26 (8, 9] RJ 67/98; BAG, Urteil v. 27.6.2001, 5 AZR 561/99; LAG Köln, Beschluss v. 24.8.1999, 11 TA 240/99; LSG Düsseldorf, Urteil v. 7.12.2016, L 8 R 862/15). Teilweise wurden diese - zugegebenermaßen mit jeweils unterschiedlicher Ausgestaltung der tatsächlichen Verhältnisse - als selbständig, teilweise als nichtselbständig eingestuft. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass dem Präzisierungsgebot etwa durch Fallgruppenbildung Genüge getan wurde.

Um dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung zu tragen, ist daher eine einschränkende Auslegung des § 266a StGB - in Form der Anwendung des § 16 StGB auf das Tatbestandsmerkmal des "Arbeitgebers" - erforderlich mit der Folge, dass die Angeklagten vorliegend nicht vorsätzlich handelten.

IV.

Nebenentscheidung

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 S. 1 StPO.