Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 07.04.2020 - 1 U 7/19
Fundstelle
openJur 2020, 38862
  • Rkr:
Tenor

Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Dezember 2018 - 11 O 113/18 - durch Beschluss zurückzuweisen.

Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.

Beide Parteien erhalten Gelegenheit binnen gleicher Frist zur Höhe des Gegenstandswertes Stellung zu nehmen.

Gründe

Der Senat hält die Berufung des Klägers einstimmig für ohne Aussicht auf Erfolg. Das Rechtsmittel ist zwar zulässig, aber unbegründet. Da der Rechtssache als Einzelfall keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, eine Entscheidung des Berufungsgerichts weder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung noch zur Fortbildung des Rechts erforderlich erscheint und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist, ist beabsichtigt, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss zurückzuweisen.

I.

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Unterlassung von Presseveröffentlichungen in Anspruch.

Der Kläger unterhält seit Juli 2014 eine Beziehung mit seiner im Juni 2000 geborenen Nichte, der J... P.... Am 6. März 2015 verließ die seinerzeit 14 jährige J... P... ihr Elternhaus ohne Kenntnis der Eltern, Bekannten oder Behörden und begab sich zusammen mit dem Kläger an einen unbekannten Aufenthaltsort. Nach Erkennen des Verschwindens des Mädchens erstatteten deren Eltern Anzeige bei der Polizei, die daraufhin Ermittlungen einleitete. Am 8. März 2015 veröffentlichte das Polizeipräsidium Brandenburg eine Pressemitteilung, nach der der Kläger unter anderem wegen Entziehung einer Minderjährigen zur Fahndung ausgeschrieben sei. Zeugen, die Angaben zum Aufenthalt des Mädchens und des Klägers machen können, wurden aufgerufen, sich bei der Polizei zu melden. Das Geschehen war schon in den folgenden Tagen Gegenstand verschiedener Berichterstattungen in unterschiedlichen Medien, "nahezu die gesamte deutsche Medienlandschaft berichtet über den Vorgang".

Am 8. April 2015 wurde der Kläger zusammen mit seiner Nichte in F... aufgefunden und nach D... zurückgebracht. Die J... P... lehnte jedoch eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt ab. Die Situation zwischen Eltern und Tochter war in Folgezeit von wechselseitigem Misstrauen und gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Im Juni / Juli 2015 tauchte die J... P... erneut unter und hielt sich in der Folgezeit vor ihren Eltern verborgen. In der Zeit vom 20. August 2015 bis 17. September 2015 war die J... P... auf Betreiben ihrer Eltern in einer psychiatrischen Einrichtung geschlossen untergebracht. Eine dazu ergangene gerichtliche Entscheidung wurde später aufgrund eines Rechtsmittels wieder aufgehoben. Die polizeilichen Ermittlungen wurden bereits im Juni 2015 eingestellt.

Die Beklagte veröffentlichte auf ihrer Internetadresse www.....de - wie auch in von ihr herausgegebenen Printausgaben - verschiedene Berichte über die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Verschwinden und der Rückkehr der J... P.... Dabei wurde auch ein Bildnis des Klägers gezeigt, dessen Wohnort, sein Alter und Familienstand genannt, sein Fahrzeug und sein Wohnwagen beschrieben und deren Kennzeichen benannt; auch der Name der J... M... P... wurde mehrfach genannt. Bereits am 8. März 2015 veröffentlichte sie die folgende Passage:

"- 14 jährige brennt mit Onkel durch.

- J... M... P... aus Sch... (O...) ist eigentlich ein normales 14-jähriges Mädchen. Seit Freitagmorgen wird sie vermisst. Sie ist vermutlich freiwillig weggelaufen, um mit ihrer großen Liebe zusammen sein zu können: ihrem Onkel. Nun sucht die Polizei nicht nur das Mädchen, sondern auch den 47-jährigen Verführer.

- Seit Freitagmorgen wird die 14-jährige J... P... vermisst. Die Polizei geht bisher davon aus, dass sie freiwillig untergetaucht ist, um mit ihrem Onkel zusammen sein zu können. Der 47-Jährige soll mit dem Mädchen eine Liebesbeziehung eingegangen sein.

- "Wir haben nicht den Verdacht, dass das Mädchen gegen ihren Willen gehandelt hat", sagt D... R... von der Pressestelle der Polizei N.... "Offenbar handelt es sich um eine Liebesbeziehung von beiden Seiten". Doch J... M... P... sei eben minderjährig. "Wir gehen auch nicht von einem Freitod oder ähnlichem aus, deshalb sehen wir zum Beispiel keinen Ansatz, jetzt den Wald zu durchforsten".

- Beide sind vermutlich mit dem blauen ... des Onkels mit dem amtlichen Kennzeichen ... und einem Wohnwagen der Marke ... mit dem Kennzeichen ... unterwegs.

- Polizei sucht nach Zeugen.

- Zeugen, die Angaben zum Aufenthalt von J... M... P... und ihrem Onkel machen können oder die genannten Fahrzeuge gesehen haben, werden gebeten, sich in der Polizeiinspektion O... unter der Telefonnummer ... zu melden.

- Der Mann ist inzwischen unter anderem wegen Entziehung Minderjähriger zur Fahndung ausgeschrieben."

Die Beklagte berichtete auch in den folgenden Tagen über das weitere Geschehen, so bis zum 13. März 2015 täglich und auch am 18. März 2015, am 2., 9., 12., 16. und 20. April 2015. Weitere Artikel folgten am 28. Dezember 2015 und 19. März 2016.

Am 26. Februar 2018 gab der Kläger zusammen mit seiner Nichte J... P... dem Fernsehsender (X) ein Interview, in dem beide die Umstände ihrer Flucht schilderten. Dort berichtete der Kläger auch über seine persönlichen Lebensumstände sowie über seine aktuelle Beziehung zu seiner Nichte. Das Interview wurde in den (X)-Sendungen ".-..", "..." und im Magazin "..." am 18. Januar 2018 ausgestrahlt. Über diese Sendungen wurde in weiteren Medien ausführlich berichtet und zwar unbeanstandet vom Kläger; dieser ist dort auch bildlich deutlich erkennbar.

Die Beklagte hat die streitgegenständlichen Beiträge zwischenzeitlich aus ihrem Online-Angebot entfernt.

Im vorliegenden Verfahren wollte der Kläger mit der am 19. Dezember 2018 vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) erhobenen Klage der Beklagten die Verbreitung der genannten Passagen untersagen lassen. Darüber hinaus machte er eine Geldentschädigung im Bereich von 50.000,- € sowie einen Feststellungsantrag hinsichtlich weiterer Schäden geltend, die aus der Verbreitung der Beiträge entstanden seien oder künftig entstehen würden. Dazu behauptet der Kläger unter näheren Darlegungen, er sei aufgrund der Berichterstattung durch die Beklagte krank und dauerhaft berufsunfähig, insbesondere leide er an Depressionen. Daraus würden sich für ihn bis an sein Lebensende erhebliche finanzielle Einbußen ergeben, die er mit 365.840,40 € bzw. im Falle einer erfolglosen Reha-Maßnahme mit 478.326,- € beziffert.

Das Landgericht Frankfurt (Oder) hat die Klage mit dem am 21. Dezember 2018 verkündeten Urteil abgewiesen. Die Kammer ist davon ausgegangen, dass die Berichterstattung durch die Beklagte nicht rechtswidrig sei. Das Interesse des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit müsse hinter dem öffentlichen Interesse auf Berichterstattung und Information zurückstehen.

Dagegen wendet sich die Berufung des Klägers, mit der er weiter die Verurteilung der Beklagten zur Unterlassung der streitgegenständlichen Berichterstattung und zu einer Geldentschädigung begehrt. Der erstinstanzlich geltend gemachte Feststellungsanspruch wird in der Berufungsinstanz nicht weiter verfolgt.

II.

Die Berufung wird keinen Erfolg haben können, das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Das Landgericht Frankfurt (Oder) ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Unterlassung der beanstandeten Äußerungen entsprechend § 1004 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB hat. Die bei der Berichterstattung über polizeiliche Ermittlungsverfahren anzuwendenden Grundsätze der Verdachtsberichterstattung hat das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend dargestellt und im Ergebnis richtig angewendet.

Die Berichterstattung der Beklagten vom 8. März 2015 sowie in der Folgezeit bis einschließlich 19. März 2016 stellt einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers dar. Denn die Berichterstattung über eine angebliche Straftat unter Angabe von persönlichen, den Tatverdächtigen identifizierbaren Umständen beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und Achtung seines Privatlebens, weil sie sein angebliches Fehlverhalten öffentlich bekannt macht und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifiziert. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Berichterstattung sich auf den bloßen Verdacht einer Straftat bezieht, denn auch dabei haftet dem noch als unschuldig geltenden Betroffenen der Makel an, dass an der Sache "etwas dran" sein könnte und es droht eine Vorverurteilung in der Öffentlichkeit (OLG Düsseldorf, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 15 U 79/10, juris Rn. 21).

Im Hinblick auf die vom Kläger angegriffene identifizierende Berichterstattung über ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren gelten dabei die Maßstäbe der Verdachtsberichterstattung, verbunden mit der Abwägung des öffentlichen Informationsinteresses gegen die Geheimnishaltungsinteressen des Betroffenen. Denn die Beklagte berichtet nicht nur darüber, dass die Polizei in der Pressemitteilung über die öffentliche Fahndung nach dem Kläger - vor allem nach seiner minderjährigen Nichte - informiert hat, sondern zeigt teilweise sein Bild und nennt den Kläger identifizierbare Umstände sowie die dem Verfahren zugrunde liegenden Vorwürfe gegen den Kläger, so dass auch der Verdacht des entsprechenden tatsächlichen Geschehens Gegenstand der Berichterstattung ist (BGH, Urteil vom 16. Februar 2016 - VI ZR 367/15, NJW-RR 2017, 31).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zur Verdachtsberichterstattung darf eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 Abs. 1 GG, § 193 StGB). Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass vor Aufstellung oder Verbreitung der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für die Medien grundsätzlich strenger als für Privatleute. An die Wahrheitspflicht dürfen im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Diese Grundsätze gelten zunächst auch für die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten. In diesem Verfahrensstadium steht lediglich fest, dass ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, in der Regel ist aber nicht geklärt, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen (BGH, Urteil vom 30. Oktober 2012 - VI ZR 4/12, NJW 2013, 229 BGH, Urteil vom 13. November 2012 - VI ZR 330/11, AfP 2013, 54 BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2012 - 1 BvR 2499/09, AfP 2012, 143). Dies gilt auch für die Berichterstattung über eine vermeintliche Straftat, da diese zum Zeitgeschehen gehört und die Verletzung der Rechtsordnung und die Beeinträchtigung von Rechtsgütern der betroffenen Bürger oder der Gemeinschaft ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näherer Information über Tat und Täter begründen kann (BGH, Urteil vom 7. Juni 2011 - VI ZR 108/10, BGHZ 190, 52 m.w.N.; EGMR, Urteil vom 7. Februar 2012 - 39954/08, EuGRZ 2012, 294). Besteht allerdings - wie im Ermittlungsverfahren - erst der Verdacht einer Straftat, so sind die Medien bei besonderer Schwere des Vorwurfs angesichts des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die persönliche Ehre in besonderem Maße zu sorgfältigem Vorgehen verpflichtet. Dabei ist im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die bloße Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf "etwas hängenbleibt". Sind - wie hier - die Anforderungen an eine Verdachtsberichterstattung zu beachten, ist erforderlich, dass ein Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegt, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (BGH, Urteil vom 16. Februar 2016 - VI ZR 367/15, NJW-RR 2017, 31 m.w.N.).

Bei einer identifizierenden Berichterstattung ist zudem besondere Zurückhaltung geboten. Die Erwähnung den Beschuldigten identifizierbarer Umstände erfordert zusätzlich zu den Anforderungen an eine zulässige Verdachtsberichterstattung, dass auch unter Berücksichtigung des Geheimhaltungsinteresses des Betroffenen bei der erforderlichen Abwägung das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiegt. Dies kommt entweder in Betracht, wenn es sich um Fälle schwerer Kriminalität oder aber um Straftaten handelt, die - wie hier - die Öffentlichkeit besonders berühren (BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 2006 - 1 BvR 152/01, BeckRS 2012, 56239; BGH, Urteil vom 7. Dezember 1999 - VI ZR 51/99, NJW 2000, 1036BGH, Urteil vom 7. Dezember 1999 - VI ZR 51/99, BGHZ 143, 199).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Beklagte bei ihrer Berichterstattung über die Geschehnisse im März 2015 vorliegend die Voraussetzungen für eine identifizierende Berichterstattung eingehalten. Denn es gab einen hinreichenden Mindestbestand an Beweistatsachen dafür, dass der Kläger zusammen mit seiner Nichte ohne Wissen der Eltern, anderer Bekannter oder der Behörden sich an einen unbekannten Aufenthaltsort begeben hat.

Bei ansehensbeeinträchtigenden Tatsachenbehauptungen wie im vorliegenden Fall wird die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen ganz wesentlich vom Wahrheitsgehalt der Behauptungen bestimmt. Wahre Tatsachenbehauptungen müssen in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen sind, unwahre dagegen nicht (BGH Urteil vom 18. Dezember 2018 - VI ZR 439/17, NJW 2018, 1881 Rn. 12 vom 11. Dezember 2012 - VI ZR 314/10, AfP 2013, 57 Rn. 12). Auch wahre Tatsachenbehauptungen sind indes nicht unbeschränkt zulässig. Vielmehr können sie rechtswidrig in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eingreifen, wenn sie einen Persönlichkeitsschaden anzurichten drohen, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Aussage geeignet ist, eine erhebliche Breitenwirkung zu entfalten oder eine besondere Stigmatisierung des Betroffenen nach sich zu ziehen, so dass sie zum Anknüpfungspunkt für soziale Ausgrenzung und Isolierung zu werden droht (BGH Urteile vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, VersR 2019, 1225 Rn. 21 vom 18. Dezember 2018 - VI ZR 439/17, NJW 2018, 1881 Rn. 12 vom 19. März 2013 - VI ZR 93/12, NJW 2013, 1681 Rn. 29, 32; jeweils mwN; BVerfG, NJW 2009, 3357 Rn. 17).

Im vorliegenden Fall teilt die Beklagte - jedenfalls in der gebotenen rückblickenden Betrachtung - in dem beanstandeten Artikel keine falschen Tatsachen mit. Die in der streitgegenständlichen Veröffentlichung dargestellten Tatsachen zu dem Geschehen am und vor dem 6. März 2015 sind vielmehr unstreitig wahr. Es entspricht den Tatsachen, dass der Kläger zusammen mit seiner Nichte, zu der er eine Liebesbeziehung unterhalten hat, "durchgebrannt" ist; die beiden begaben sich schließlich mit einem Fahrzeug des Klägers nach F..., wo sie später aufgegriffen wurden. Die in dem beanstandeten Artikel über die Person des Klägers genannten Tatsachen sind ebenfalls zutreffend. Es ist richtig, dass der Kläger der Onkel der J... P... ist, dass er in B... lebt, Architekt und Schreiner ist, seinerzeit 47 Jahre alt war und Frau und Kinder hat. Auch die Angaben über die J... P... sind nicht falsch, insbesondere, dass diese seinerzeit 14 Jahre alt war, dass sie ihr Elternhaus freiwillig verlassen hat und die in dem Artikel genannte Kleidung getragen hat.

Auch der berichtete Umstand, dass der Kläger zur Fahndung ausgeschrieben war und die Polizei die 14-jährige sucht, war, jedenfalls zu dem Zeitpunkt zu dem die Veröffentlichung erstmals erfolgte, zutreffend. Nach den für die Ermittlung des Aussagegehaltes einer Äußerung maßgeblichen Grundsätzen (BGH Urteil vom 16. Januar 2018 - VI ZR 498/16, VersR 2018, 492 Rn. 20 mwN; vom 10. Januar 2017 - VI ZR 562/15, VersR 2017, 369 Rn. 13 mwN) ist der angegriffenen Textpassage insoweit (lediglich) der Sinngehalt zu entnehmen, dass die Polizei nach dem Kläger wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger fahnde. Dies war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung jedoch gerade zutreffend, denn die Polizei hatte am Tag der ersten Berichterstattung durch die Beklagte, am 8. März 2015, eine Pressemitteilung veröffentlicht, nach der der Kläger unter anderem wegen Entziehung einer Minderjährigen zur Fahndung ausgeschrieben sei. Darüber durfte die Beklagte auch berichten. Insoweit ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass den Verlautbarungen amtlicher Stellen ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden darf, da Behörden in ihrer Informationspolitik unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind und Amtsträger, wenn sie vor der Frage stehen, ob die Presse über amtliche Vorgänge informiert werden soll, die erforderliche Abwägung zwischen dem Informationsrecht der Presse und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorzunehmen haben (BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - VI ZR 211/12, AfP 2014, 135BGH, Urteil vom 11. Dezember 2012 - VI ZR 314/10, AfP 2013, 57). Weitere Recherchen darüber, ob die Angaben der Polizei über die von ihr selbst eingeleiteten Maßnahmen in einer den Medien allgemein zugänglich gemachten Presseerklärung richtig sind, waren in dieser Situation nicht veranlasst, weil dies wiederum nur durch Nachfrage bei der Polizei selbst möglich gewesen wäre.

Schließlich hat die Beklagte auch die darüber hinaus zu berücksichtigen Anforderungen an die identifizierbare Berichterstattung erfüllt. Auch die insoweit gebotene zusätzliche Abwägung der jeweiligen Interessen fällt zugunsten des Informationsinteresses der Öffentlichkeit aus. Wird wahrheitsgemäß über den Verdacht der Begehung einer Straftat durch einen identifizierbaren Täter berichtet, ist zu berücksichtigen, dass solche Taten zum Zeitgeschehen gehören, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien ist. Die vermeintliche Verletzung der Rechtsordnung und die Beeinträchtigung individueller Rechtsgüter, die Sympathie mit den Opfern, die Furcht vor Wiederholungen solcher Straftaten und das Bestreben, dem vorzubeugen, begründen grundsätzlich ein anzuerkennendes Interesse der Öffentlichkeit an näherer Information über Tat und Täter (BVerfG, Beschluss vom 6. November 2019 - 1 BvR 16/13 Rn. 111). Dieses wird umso stärker sein, je mehr sich die Tat, deren der Betroffene verdächtig ist, in Begehungsweise und Schwere von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt oder ein besonderes, über das für übliche Kriminalität bestehende Interesse der Öffentlichkeit hinausgehendes Interesse besteht. Nicht nur beim Verdacht auf schweren Gewaltverbrechen kann ein über bloße Neugier und Sensationslust hinausgehendes Interesse an näherer Information über die Tat und ihren Hergang, über die Person des Täters und seine Motive sowie über die Strafverfolgung anzuerkennen sein (BGH Urteil vom 19. März 2013 - VI ZR 93/12, NJW 2013, 1681 Rn. 18 mwN; Urteil vom 8. Mai 2012 - VI ZR 217/08, NJW 2012, 2197 Rn. 38 Urteil vom 9. Februar 2010 - VI ZR 243/08, NJW 2010, 2432 Rn. 17 Urteil vom 15. Dezember 2009 - VI ZR 227/08, BGHZ 183, 353 Rn. 14 BVerfG NJW 2009, 3357 Rn. 18 jeweils mwN).

Im vorliegenden Fall ist aufgrund der Besonderheiten des Geschehens, vor allem des planmäßigen und geheimen Vorgehens des Klägers, dem Informationsinteresse der Vorrang einzuräumen. Dies schließt die Nennung von den Kläger identifizierbaren Umständen ein, denn nach der Pressemitteilung der Polizei bestand nicht nur der Verdacht der Straftat der Kindesentziehung gemäß § 235 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 2 Ziff. 1 StGB. Es war vielmehr aufgrund des planmäßigen Vorgehens des Klägers auch unklar, ob nicht darüber hinausgehende Straftatbestände erfüllt sein könnten, ohne dass ein entsprechender Verdacht bereits geäußert wurde. Darüber hinaus ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass die Polizei die Medien um Unterstützung auf der Suche nach dem Kläger gebeten hatte. Vor allem die außergewöhnlichen Umstände der "Flucht" des Klägers mit seiner minderjährigen Nichte, die planmäßige Flucht ins Ausland ohne Benachrichtigung von Angehörigen oder zuständiger staatlicher Stellen, die insoweit nahezu einmalig sind, und mit denen er die Ursache der öffentlichen Fahndung selbst gesetzt hatte, führten zu einem ganz besonderen Medieninteresse. Der Kläger selbst führt aus, dass nahezu die gesamte deutsche Medienlandschaft über den Vorgang berichtet hat. Schließlich hat er in Konsequenz dieses erheblichen Medieninteresses später selbst ausführliche Interviews über die Geschehnisse gegeben und weitere Details über seine Person und die Beziehung zu seiner Nichte preisgegeben. In diesem Fall muss das Geheimhaltungsinteresse des Klägers hinter dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit zurückstehen.

Ein Unterlassungsanspruch steht dem Kläger schließlich auch nicht aufgrund des Zeitablaufs zu. Insoweit ist zwar anerkannt, dass mit zunehmender zeitlicher Distanz zur vermeintlichen Straftat das Interesse des Täters, von einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben, zunehmende Bedeutung gewinnt. Das Persönlichkeitsrecht bietet Schutz vor einer zeitlich uneingeschränkten Befassung der Medien mit der Person des Verdächtigen. Allerdings führt selbst die Verbüßung einer Strafe nicht dazu, dass ein Täter den uneingeschränkten Anspruch erwirbt, mit der Tat "allein gelassen zu werden". Maßgeblich ist vielmehr stets, in welchem Ausmaß das Persönlichkeitsrecht einschließlich des Resozialisierungsinteresses des Betroffenen von der Berichterstattung unter den konkreten Umständen beeinträchtigt wird (BGH Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, VersR 2019, 1225 Rn. 22 Urteil vom 18. Dezember 2018 - VI ZR 439/17, NJW 2018, 1881 Rn. 16: Urteil vom 8. Mai 2012 - VI ZR 217/08, NJW 2012, 2197 Rn. 40 BVerfG NJW 2009, 3357 Rn. 21). Im vorliegenden Fall besteht unter dem Gesichtspunkt des Anspruchs auf Vergessen kein Unterlassungsanspruch des Klägers, weil er unstreitig zusammen mit seiner Nichte J... P... dem überregionalen Fernsehsender (X) - und offenbar auch einem Schweizer Fernsehsender - ein Interview gegeben hat, in dem beide die Geschichte ihrer Liebesbeziehung und die Umstände ihrer Flucht erzählt haben und beide ihre Privatsphäre entsprechend geöffnet haben; insoweit scheidet auch die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr aus. Diese Interviews waren nach den Angaben des Klägers von dem Wunsch getragen, gerade im Hinblick auf das mediale Interesse seine Sicht der Dinge darzustellen. Zwar ist auch anerkannt, dass eine unter dem Druck der Berichterstattung erfolgte Selbstöffnung einer Person nicht zwingend als dahingehende Öffnung der Privatsphäre angesehen werden kann, dass dieser in der Zukunft ein geringerer Schutz zukommt, als bisher. In der vorliegenden Konstellation kommt dieser Gesichtspunkt jedoch schon deshalb nicht zum Tragen, weil zwischen der maßgeblichen Berichterstattung im März und April 2015 und der Selbstöffnung im Februar 2018 weder ein zeitlicher noch ein situativer Zusammenhang zu erkennen ist. Welche Motivation der Kläger und seine Lebensgefährtin im Januar 2018 tatsächlich hatten, die genannten Interviews zu geben und sich nach nahezu drei Jahren Abstand vom eigentlichen Geschehen gegenüber den Medien so umfangreich zu äußern, trägt der Kläger nicht vor; von einem "Druck der Veröffentlichungen" kann nach so langer Zeit jedenfalls ohne nähere Erläuterungen nicht ausgegangen werden.

Da der Beklagten der Vorwurf einer rechtswidrigen Berichterstattung nicht gemacht werden kann, steht dem Kläger auch kein Anspruch auf eine Geldentschädigung wegen einer Persönlichkeitsrechtsverletzung und auch kein Anspruch auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu.

Aus den vorstehenden Gründen wird die Berufung des Klägers zurückzuweisen sein, weshalb der Senat zur Vermeidung weiterer Kosten deren Zurücknahme zu erwägen gibt.

III.

Der Senat beabsichtigt den Gegenstandswert für das Berufungsverfahren auf 75.000,- € festzusetzen. Hinsichtlich des Antrages zu 1.) dürfte die erste Berichterstattung am 8. März 2015 mit einem Gegenstandwert von 20.000,- € hinreichend gewichtet sein. Für alle weiteren streitgegenständlichen Berichte dürfte insgesamt kein höherer Wert als 5.000,- € angemessen sein. Die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Klägers hat sich mit der ersten Berichterstattung realisiert. Die dann folgenden Berichte wiederholen im Wesentlichen die Darstellung des ursprünglichen Geschehens und bauen mit Darstellung der weiteren Entwicklung auf die erste Veröffentlichung auf. Für den Antrag zu 2.) ergibt sich die Wertfestsetzung in Höhe von 50.000,- € aus den Vorstellungen des Klägers zur Höhe einer Geldentschädigung.

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