SG Frankfurt (Oder), Urteil vom 09.05.2018 - S 18 U 126/15
Fundstelle
openJur 2020, 36342
  • Rkr:

1. Die "Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegelds gemäß § 44 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VII" haben nicht den Charakter eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung, so dass sie für die Gerichte nicht bindend sind. Ihre schematische Anwendung ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalles ist unzulässig. Sie sehen keine festen v.H.-Sätze des Pflegegeldes vor. Insbesondere ist es bereits nach ihren Vorgaben möglich, unter Berücksichtigung der individuellen persönlichen Situation des Pflegebedürftigen auch höhere oder niedrigere Prozentsätze als in den vorgegebenen Bandbreiten vorgesehen zu rechtfertigen. Die Abstufung der Prozentanteile der Hilflosigkeit erfolgt vor allem nach der verbliebenen Selbständigkeit.

2. Die Anhaltspunkte erzeugen durch ihre allgemeine Handhabung im Bereich des jeweiligen Unfallversicherungsträgers, welche entsprechend dem aktuellen Handlungsleitfaden der DGUV bei einer Funktion als "Richtschnur" weiterhin anzunehmen ist, eine aus dem allgemeinen Gleichheitsgrund des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz abzuleitende Selbstbindung der Verwaltung zugunsten der Versicherten. Ein Abweichen im Einzelfall zu Lasten des Versicherten ohne besondere Gründe ist deshalb ermessensfehlerhaft (so auch Landessozialgericht Berlin- Brandenburg, Urteil vom 23. Oktober 2013, Aktenzeichen L 3 U 216/10, Rn. 50). Deshalb sind auch Bereitschaftszeiten der Pflegeperson bei der Bemessung des Pflegebedarfs zu berücksichtigen.

3. Der Versicherte kann einen gebundenen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld über dem Mindestsatz haben, wenn sich gemessen an den gesetzlichen Vorgaben des § 44 Abs. 2 SGB VII im Zusammenspiel mit den ermessensreduzierenden Vorgaben der Anhaltspunkte ergibt, dass das Ermessen der Behörde, Pflegegeld zumindest in einer bestimmten Höhe zu bewilligen, auf Null reduziert ist. Dieses setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige Ausübung des Ermessens rechtsfehlerfrei zuließen. Hierfür ist ein strenger Maßstab anzulegen, da das Gericht nicht sein Ermessen an die Stelle des fehlenden oder fehlerhaften Ermessens des Unfallversicherungsträgers setzen darf.

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 verpflichtet, den Bescheid vom 9. März 2011 abzuändern und der Klägerin Pflegegeld beginnend ab dem 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2013 in Höhe von 60% des Höchstsatzes zu bewilligen.

2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe des Pflegegelds der Klägerin im Zeitraum Januar 2011 bis Juni 2013.

Die am xx.xx 1952 geborene Klägerin erlitt am xx.xx 1969 als Schülerin einen in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Unfall, als es bei einer Vorwärtsrolle zu einem Bruch des sechsten Halswirbels und einer Stauchung der Halswirbelsäule kam. Die Klägerin erlitt als Folge dessen eine Schädigung des Rückenmarks mit einer inkompletten Tetraplegie sub C6 sowie einer Blasen- und Mastdarmlähmung. Weiter treten bei der Klägerin auf Grund der vorgenannten Gesundheitsstörung Spastiken auf.

Die Klägerin arbeitete ab dem xx.xx 1973 als Sachbearbeiterin an einer Polytechnischen Oberschule und seit dem Jahr 1980 als Verwaltungsangestellte in einem Altenheim. Diese Arbeit konnte sie nur halbtags verrichten, da eine vollschichtige Belastung ihre körperlichen Ressourcen überfordert hätte. Die Klägerin bezieht eine Verletztenrente nach einer MdE von 100 von Hundert.

Die Klägerin war zunächst in der Lage, sich mit Hilfe von zwei Stockstützen und ergänzend mit einem Rollstuhl selbständig fortzubewegen. Die Klägerin wurde von der Beklagten durch die Gewährung von Teilhabeleistungen zum Erhalt des Arbeitsplatzes unterstützt. Notwendige Pflegeleistungen erfolgen durch den Ehemann der Klägerin. Hierfür leistet die Beklagte Pflegegeld.

Mit Rücksicht auf das Nachlassen der Gehfähigkeit stellte die Klägerin einen Antrag auf Überprüfung der Höhe des Pflegegeldes. Die Beklagte veranlasste daraufhin die Durchführung einer Pflegeaufwandsbestimmung, welche am 25. November 2010 im Rahmen eines persönlichen Besuchs durch eine Sachbearbeiterin der Beklagten durchgeführt wurde und einen tagesdurchschnittlichen Pflegebedarf der Klägerin in der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung in Höhe von 136,2 Minuten ergab. Die Beklagte veranlasste weiterhin die Erstellung eines Gutachtens zur Nachprüfung der MdE mit einer Zusatzfrage zur Bestimmung des Pflegeaufwandes durch den Chefarzt des Behandlungszentrums für Rückenmarksverletzte Dr. N sowie eines Zusatzgutachtens auf dem urologischen Fachgebiet durch den Klinikdirektor der Klinik für Urologie und Neuro-Urologie Dr. D.

Dr. D stellte für die Klägerin in seinem Gutachten vom 17. Januar 2011 fest, dass es auf Grund der Unfallfolgen zu einer neurogenen Detrushyperreflexie mit bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt deutlich eingeschränkter Blasenkapazität, wiederkehrenden Inkontinenzerscheinungen sowie Harnwegsinfekten gekommen sei. Die Blasenentleerung erfolge bis zum heutigen Tag spontan durch Triggern. Die Blasenfunktion sei weitgehend unauffällig, bei abgesunkener Blasenkapazität. Die Defäkation erfolge zweimal die Woche durch Einnahme von Sennesblättertee. Die unfallbedingte MdE schätzte Dr. D auf seinem Fachgebiet mit 40 von Hundert ein.

Dr. N stellte in seinem Gutachten vom 5. Januar 2011 folgende unfallbedingte Gesundheitsstörungen fest:

-

Inkomplette spastische Tetraparese mit Schwäche der Hände, des Rumpfes und der Beine mit der Notwendigkeit einer Rollstuhlnutzung

-

Neurogene Blasen- und Mastdarmlähmung mit aktuell ungedämpfter Reflexblase

-

Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule durch Fixierung Segment C6 / C7

-

Spinale Spastik

-

Belastungsbedingt Karpaltunnelsyndrom beidseits

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin schätzte Dr. N insgesamt mit 100% ein. Zur Begründung führte er aus, dass die an Gehstützen zurücklegbare Gehstrecke in den letzten 20 Jahren kontinuierlich abgenommen habe. Momentan könne die Klägerin zwar noch eine Wegstrecke von 80 Metern zurücklegen. Das Gehen an Gehstützen gehe jedoch zu Lasten der Restgesundheit, was sich an den zunehmenden Rückenschmerzen und einer Fehlbelastung feststellen lasse. Das Gangbild sei in einer solchen Weise unphysiologisch, dass ein Gehen im Prinzip nicht empfohlen werden könne. De facto bestehe eine vollständige Rollstuhlpflichtigkeit. Zum anderen bestehe auf Grund der auftretenden Spastiken ein hohes Sturzrisiko, weshalb es in der Vergangenheit zu Frakturen gekommen sei. Eine erhebliche Verschlechterung des Zustandes sei mit dem unfallbedingten Mittelfußbruch nach einem Sturz am 19. Oktober 2007 zu sehen. Hierdurch sei die bereits zuvor fortgeschrittene Gehbehinderung deutlicher zu Tage getreten und sei durch das fehlende Training verstärkt worden. Dieses habe auch eine Rehabilitationsbehandlung nicht auszugleichen vermocht. Die Klägerin sei auch durch die Blasenentleerungsstörung erheblich in ihrem Alltag eingeschränkt. Da sie in ihrem Tagesablauf nicht auf Fremdhilfe angewiesen sei und sie mit Festhaltehilfe kurzfristig stehen könne, schätze er das Pflegegeld mit 60% ein.

Mit Rücksicht auf die abweichende Einschätzung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin durch die Pflegeaufwandsbestimmung vom 25. November 2010 und durch Dr. N veranlasste die Beklagte eine erneute Prüfung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegegutachterin Frau B. Diese stellte in ihrer Untersuchung vom 11. Februar 2011 einen durchschnittlichen täglichen Pflegebedarf von 124,6 Minuten, inklusive 8 Minuten medizinisch - pflegerischer Versorgung fest.

Mit Bescheid vom 9. März 2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin Pflegegeldleistungen in Höhe von 30 von Hundert des Höchstsatzes beginnend ab dem 1. Dezember 2010. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Rücksicht auf eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin, insbesondere eines im Mai 2013 erlittenen Oberschenkelhalsbruches in Folge eines weiteren Sturzes, veranlasste die Beklagte eine erneute Bestimmung des Pflegeaufwands durch Frau B. Diese nahm in ihrer Pflegeaufwandsbestimmung vom 14. März 2014 einen durchschnittlichen täglichen Pflegeaufwand von 166,7 Minuten an. Die Beklagte bewilligte der Klägerin daraufhin mit Bescheid vom 22. Mai 2014 Pflegegeld in Höhe von 40% des Höchstsatzes beginnend ab dem 1. August 2013. Auch dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Telefonat vom 2. Juli 2014 und Schreiben vom 7. Juli 2014 verwies die Klägerin darauf, dass Dr. N bereits im Jahr 2011 ein Pflegegeld in Höhe von 60 von Hundert des Höchstsatzes befürwortet habe. Sie bitte daher um Prüfung der bereits bestandskräftigen Entscheidung der Beklagten vom 22. Mai 2014.

Die Beklagte nahm durch Frau M am 10. September 2014 eine erneute Prüfung des Pflegebedarfs der Klägerin vor. Abweichend von Frau B stellte sie einen durchschnittlichen täglichen Pflegebedarf von 218,4 Minuten fest.

Mit Bescheid vom 12. November 2014 bewilligte die Beklagte der Klägerin unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 22. Mai 2014 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab dem 1. August 2013 Pflegegeld in Höhe von 60 von Hundert des Höchstsatzes. Dieser Bescheid wurde ebenfalls bestandskräftig.

Mit Schriftsatz vom 7. Januar 2015 bat die Klägerin um Überprüfung ihres Pflegegeldbescheides vom 9. März 2011. Es sei davon auszugehen, dass dieser rechtswidrig sei. Bereits das Rentengutachten vom 5. Januar 2011 habe eine Pflegeeinstufung von 60 von Hundert angenommen. Ihr Gesundheitszustand habe sich hiernach nicht erheblich gebessert. Es sei davon auszugehen, dass die Pflegegutachterin bei der Einstufung der Pflegebedürftigkeit die Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes als verbindliche Verwaltungsvorschrift der Beklagten nicht beachtet habe. Nach Ziffer 11 der vorgenannten Anhaltspunkte sei bei einer inkompletten Tetraphlegie eine Einstufung im Bereich zwischen 60 und 80 % des Höchstsatzes vorzunehmen. Die Gutachterin hätte insoweit erklären müssen, aus welchen Gründen sie von diesen Werten nach unten abweicht. Auch die Zeiterfassung der Gutachterin sei fehlerhaft erfolgt. Diese habe sie nicht zum tatsächlichen Pflegeaufwand befragt und auch nicht die Bereitschaftszeiten der Pflegeperson berücksichtigt. Sie bitte um rückwirkende Festsetzung des Pflegegeldes für die Zeit ab dem 1. Dezember 2010.

Mit Bescheid vom 18. März 2015 wies die Beklagte den Überprüfungsantrag der Klägerin vom 7. Januar 2015 als unbegründet ab. Die Beklagte führte aus, dass Art und Schwere des Gesundheitsschadens keine Pflegegeldzahlungen rechtfertigen. Entscheidend sei der Umfang der tatsächlich erforderlichen Hilfe. Die von Frau B ermittelten einzelnen Pflegetatbestände hätten einen Pflegeumfang von 30 von Hundert ergeben. Die Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes der DGUV seien Empfehlungen und nach der Rechtsprechung nicht rechtsverbindlich.

Mit Schriftsatz vom 7. April 2015 legte die Klägerin gegen die vorgenannte Entscheidung der Beklagten Widerspruch ein. Dieser wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2015 als unbegründet zurückgewiesen.

Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 11. Juni 2015 hat die Klägerin gegen die vorgenannte Entscheidung der Beklagten Klage erhoben. Zur Klagebegründung führte der Prozessbevollmächtigte aus, dass die zur Sicherstellung der Gleichbehandlung von den Unfallversicherungsträgern herausgegebenen "Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes" nach dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung zu einer Ermessensreduzierung der Beklagten bei der von ihr zu treffenden Entscheidung über die Höhe des Pflegegeldes führen. Hierüber habe sich die Beklagte in eklatanter Weise hinweggesetzt. So sei das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit nach den vorgenannten Anhaltspunkten durch einen sachverständigen Arzt zu bestimmen. Weiterhin sei nicht ersichtlich, über welche Qualifikation Frau B verfüge. Die Klägerin habe ferner nicht die Möglichkeit einer Gutachterauswahl gehabt. Schließlich sei die Bewertung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit nur im Rahmen der von den Anhaltspunkten vorgegebenen Werten zulässig. Damit betrage das Pflegegeld der Klägerin mit Rücksicht auf die gutachterlichen Feststellungen von Dr. N 60 bis 80 von Hundert.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 zu verurteilen, den Bescheid vom 9. März 2011 abzuändern und ihr Pflegegeld beginnend ab dem 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2013 in Höhe von 60% des Höchstsatzes zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte erwiderte, dass sie das Recht nicht unrichtig angewandt habe. Auch bei den Anhaltspunkten für die Pflegegeldbemessung sei eine individuelle Bewertung bereits nach dem Gesetzeswortlaut des § 44 Abs.1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) vorgesehen. Bei gleichen Gesundheitsstörungen und Funktionseinschränkungen könne der tatsächlich anfallende Pflegeaufwand sehr unterschiedlich ausfallen. Die Klägerin sei immer selbständig und motiviert gewesen. Die Einschätzung von 30% des Höchstbetrages ab dem 1. Dezember 2010 sei adäquat gewesen.

Die Klägerin hat auf Nachfrage des Gerichts dargelegt, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang ihr Ehemann Hilfeleistungen im Zeitraum ab dem Jahr 2011 erbringen musste. Auf die mit dem Schriftsatz vom 23. Mai 2016 beigefügte Anlage K 16 wird Bezug genommen.

Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat zur weiteren Sachverhaltsaufklärung ein Gesamtleistungsverzeichnis der DAK sowie Behandlungsunterlagen der Klägerin beim behandelnden Unfallchirurgen Dr. D beigezogen. Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat weiterhin die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens nach Aktenlage zur Einschätzung des Pflegeaufwandes durch Dr. N veranlasst.

Dr. N nahm in seinem Gutachten vom 30. Juni 2017 dahingehend Stellung, dass er sich bei der Einstufung der Pflegebedürftigkeit an Ziffer 11 der Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes orientiert habe. Wie von diesen gefordert liege bei der Klägerin eine Tetraplegie mit unterschiedlichen Restfunktionen der betroffenen Extremitäten und am Rumpf mit zum Teil störend überlagernder Spastik vor. Die Spastik sei im Fall der Klägerin nicht nur störend sondern ausgeprägt und habe bereits zu mehreren Stürzen und Unfällen geführt. Weiterhin bestehe über die Anforderungen der Anhaltspunkte Ziffer 11 hinausgehend eine Blasen- und Mastdarmlähmung, was erheblichen Einfluss auf den Umfang der Pflegebedürftigkeit habe. Im gesamten Zeitraum sei auf Grund der Folgen des im Jahr 2007 erlittenen Mittelfußbruches eine Nutzung der Unterarmgehstützen nur noch unter Schmerzen möglich gewesen, so dass die Rollstuhlnutzung in den Vordergrund getreten sei.

Die von ihm gewählte Einordnung der Pflegebedürftigkeit sei mit 60 von Hundert eher restriktiv aber noch zu rechtfertigen. Ab dem 18. Mai 2013 sei die Gehfähigkeit in Folge der erlittenen Schenkelhalsfraktur vollständig aufgehoben, so dass ab diesem Zeitpunkt Abhängigkeit vom Rollstuhl bestanden habe. Parallel habe sich die Blasensituation weiter verschlechtert. Da bei der Klägerin wegen wiederholter Harnwegsinfekte kein Blasenkatheter gelegt werden könne, gebe es bei erhaltenen Füllungsgefühl der Blase ein kompliziertes Entleerungssystem, welches zum Teil unter Zeitdruck absolviert werden müsse (Umsetzen vom Liegen in der Rollstuhl, vom Rollstuhl auf die Toilette, Triggern und Auspressen, Umsetzen auf den Rollstuhl, Umsetzen ins Bett). Mit Rücksicht auf die urologisch festgestellte Hyperaktivität des Blasenmuskels, welche insbesondere nachts auftrete und mit vegetativen Erscheinungen einhergehe, müssten nachts bis zu acht Blasenentleerungen durchgeführt werden. Die Klägerin könne hierbei sicherlich nicht unerheblich mithelfen, sei bei allen Tätigkeiten aber auf die Hilfe der Pflegeperson angewiesen. Daher gehe er bis zum Eintritt des Oberschenkelhalsbruches von einer Pflegebedürftigkeit von 60 % und ab diesem von einer Pflegebedürftigkeit von 80% aus.

Dr. N führte weiter aus, dass eine bei der Klägerin stattgehabte Ellenbogenentzündung zwar zu einer vorübergehenden, nicht aber zu einer dauerhafte Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin geführt habe. Ein ihr verschriebener Elektrorollstuhl habe nach acht Wochen zurückgegeben werden können. Die Karpaltunnelsyndrome der Klägerin seien inzwischen operativ versorgt worden. Es seien jedoch erhebliche funktionelle Einschränkungen verblieben. Dr. N führte aus, dass die Feststellungen von Frau B in mehreren Punkten nicht zuträfen. Die Gutachterin habe die Detrusorhyperaktivität nicht erfasst. Dadurch sei der tatsächliche Pflegeaufwand höher. Bereits zum Zeitpunkt der Begutachtung habe die Klägerin nachts mehrfach die Toilette aufsuchen müssen. Dabei sei die Hilfe des Ehemannes erforderlich gewesen. Ein von der Gutachterin vorgeschlagenes Kathetern sei nicht sinnvoll. Umstellungsversuche auf einen Katheter hätten zu massiven Harnwegsinfekten geführt. Dass die Klägerin dieses ablehne sei nachvollziehbar. Die Detrusorhyperaktivität könne nur durch Botoxinjektionen unterbunden oder eingeschränkt werden. Dieses sei jedoch ein invasiver Eingriff den die Klägerin ebenfalls ablehne. Weiterhin gehe Frau B zu Unrecht vom Bestehen einer Rumpfstabilität aus. Tatsächlich sei auch die Bauchmuskulatur von der Lähmung betroffen. Hieraus resultierend seien auch die Sitzstabilität und die Selbsthilfemöglichkeit eingeschränkt.

Weiterhin sei der Minutenaufwand für die jeweiligen Pflegetätigkeiten zu gering bemessen und orientiere sich auch rechtsfehlerhaft an den Vorgaben des Elften Buch Sozialgesetzbuch. Sie berücksichtige nicht den tatsächlich anfallenden Pflegeaufwand. Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung seien auch Bereitschaftszeiten der Pflegeperson zu berücksichtigen. So berücksichtige Frau B für das Wasserlassen nur eine Minute an Pflegezeit. Tatsächlich könne es jedoch fünf bis 10 Minuten dauern, bis der Reflex die Blasenentleerung ausgelöst habe. Weiterhin gehe die Gutachterin von der Notwendigkeit zum Wasserlassen alle zwei Stunden aus. Pro Tag würden jedoch nur 9 Toilettengänge bestätigt. Tatsächlich müsste auf Grund ihrer körperlichen Situation nachts durchgehend eine Pflegekraft anwesend sein. Auch sei nicht nachvollziehbar, dass am Tag nur drei Minuten Hilfestellung beim Stuhlgang und 10 Minuten Hilfestellung beim Richten von Kleidung Berücksichtigung fänden. Für die große Körperpflege am Morgen seien 60 bis 90 Minuten täglich notwendig. Sicherlich könne die Klägerin viele dieser Handlungen selbständig ausführen. Jedoch sei die Anwesenheit ihres Mannes als Pflegeperson durchgehend erforderlich. Schließlich sei die Klägerin nicht mehr in der Lage gewesen, sich selbständig mit einem Adaptivrollstuhl außerhalb des Hauses zu bewegen. Ihr Mann habe sie seit dem Jahr 2011 zur Arbeit begleiten müssen. Auch diesen Zeiten fänden keine Berücksichtigung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 9. Mai 2018, die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, welche der Kammer zur Entscheidung vorlagen.

Gründe

I.

Die Klage wurde in zulässiger Weise gemäß § 54 Abs.1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben.

II.

1.

Die Klage ist auch begründet.

Die Beklagte hat es mit der streitgegenständlichen Entscheidung vom 18. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 zu Unrecht abgelehnt, den bestandskräftigen Bescheid vom 9. März 2011 abzuändern und der Klägerin Pflegegeld im Sinne des § 44 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Höhe von 60 von Hundert des jeweiligen jährlichen Höchstsatzes im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB VII für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Mai 2013 zu gewähren. Hierdurch wird die Klägerin in ihren subjektiven öffentlich - rechtlichen Rechten verletzten (vgl. § 54 Abs.2 SGG). Aus diesem Grunde war der streitgegenständliche Überprüfungsbescheid der Beklagten vom 18. März 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die begehrte Abänderung des bestandskräftigen Bewilligungsbescheides entsprechend dem Klagebegehren vorzunehmen.

Die Klägerin hat nach § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) einen Anspruch auf Abänderung des bestandskräftigen Pflegegeldbescheides der Beklagten vom 9. März 2011 für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Mai 2013, da ihr für diesen Zeitraum ein höherer Anspruch auf Pflegegeldleistungen im Sinne des § 44 SGB VII zusteht und sie für diesen Zeitraum am 7. Januar 2015 einen im Sinne des § 44 Abs. 4 SGB X rechtzeitigen Überprüfungsantrag bei der Beklagten gestellt hat.

Die Klägerin hat für den vorgenannten Zeitraum einen gebundenen Anspruch auf die Gewährung von Pflegegeld in Höhe von 60 von Hundert des Höchstsatzes im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB VII.

Die Klägerin hat auf Grund des versicherten Unfalls vom xx.xx 1969 dem Grunde nach einen Anspruch auf die Gewährung von Pflegegeldleistungen durch die Beklagte als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein solcher Anspruch besteht gemäß § 44 Abs. 1 SGB VII für Versicherte, die infolge des Versicherungsfalls so hilflos sind, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfen.

Die Klägerin litt unfallbedingt im streitgegenständlichen Zeitraum nach den für die Kammer auch schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen der im Verwaltungsverfahren tätigen Gutachter Dr. N und Dr. D an folgenden Gesundheitsstörungen:

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Inkomplette spastische Tetraparese mit Schwäche der Hände, des Rumpfes und der Beine mit der Notwendigkeit einer Rollstuhlnutzung

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Neurogene Blasen- und Mastdarmlähmung mit aktuell ungedämpfter Reflexblase

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Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule durch Fixierung Segment C6 / C7

-

Spinale Spastik

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Belastungsbedingt Karpaltunnelsyndrom beidseits

Im Mai 2013 trat als Folge eines Folgeunfalls noch ein behandlungsbedürftiger Oberschenkelhalsbruch hinzu.

Als Folge dieser Gesundheitsstörungen ist die Klägerin hilflos im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB VII, da sie in Bezug auf ihre Selbstversorgung und insbesondere im Bereich Mobilität regelmäßig wiederkehrend - im Fall der Klägerin jeden Tag - im erheblichen Maß auf die Hilfe ihres Ehemannes als Pflegeperson angewiesen ist (vgl. § 14 Abs.2 Nr. 4 - 6 SGB XI, zum Maßstab der Hilfebedürftigkeit bzw. Hilflosigkeit im Sinne des § 44 SGB VII mit Verweis auf den vergleichbaren Begriff des § 14f. SGB XI: Ricke in Kassler Kommentar 97. Ergänzungslieferung, zu § 44 SGB VII, Randnummer 4ff m.w.N.), so dass dem Grunde nach ein gebundener Anspruch auf die Gewährung von Pflegegeld oder einer entsprechende Sachleistung der Pflege nach § 44 Abs. 1 SGB VII besteht (zu dem Vorliegen eines gebundenen Anspruchs auf Gewährung von Pflegegeld in Höhe des Mindestbetrages im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB VII bei Bejahung der Tatbestandsvoraussetzzungen des § 44 Abs. 1 SGB VII Landessozialgericht Berlin - Brandenburg, Urteil vom 23. Oktober 2013, Aktenzeichen L 3 U 216/10, Rn. 42 ff, zu recherchieren unter www.juris.de). Die Beklagte hat der Klägerin Pflegegeld bewilligt, wenn auch nicht in der begehrten Höhe.

In dem hier vorliegenden Einzelfall steht der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum Januar 2011 bis Mai 2013 mindestens der von ihr geforderte monatliche Pflegegeldbetrag in Höhe von 60 von Hundert des jeweiligen Höchstpflegegeldbetrages zu. Die Kammer geht insoweit von einer Reduzierung des Ermessens der Beklagten auf Null aus, dass der Klägerin die im Klageverfahren beantragten Leistungen zu gewähren sind.

Die Höhe des zu gewährenden Pflegegeldes wird vom Gesetzgeber in der im Verhältnis zu den Regelungen des SGB XI autonomen Regelung des § 44 Abs. 2 bis 4 SGB VII geregelt.

Gemäß § 44 Abs. 2 S. 1 bis 3 SGB VII in der ab dem 5. November 2008 gültigen Fassung ist das Pflegegeld unter Berücksichtigung der Art oder Schwere des Gesundheitsschadens sowie des Umfangs der erforderlichen Hilfe auf einen Monatsbetrag entsprechend der jeweils einschlägigen gesetzlichen Mindest- und Höchstspanne festzusetzen. Diese Beträge werden jeweils zum gleichen Zeitpunkt, zu dem die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung angepasst werden, entsprechend dem Faktor angepasst, der für die Anpassung der vom Jahresarbeitsverdienst abhängigen Geldleistungen maßgebend ist. Übersteigen die Aufwendungen für eine Pflegekraft das Pflegegeld, kann es angemessen erhöht werden.

In Anschluss an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und der einschlägigen Literatur steht der Beklagten als Unfallversicherungsträger bei der Bemessung der Höhe des Pflegegelds grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu. Ihr wird damit die Möglichkeit eröffnet, nach eigener Abwägung dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zwischen mehreren rechtmäßigen Handlungsweisen zu wählen. Daher lassen sich für die Bestimmung der Höhe des Pflegegelds nach wie vor keine generell verbindlichen Kriterien festlegen; maßgebend sind vielmehr im Einzelfall die individuellen Verhältnisse des Verletzten, wobei bei der Abwägung in erster Linie die nach § 44 Abs. 2 S. 1 SGB VII maßgebenden Kriterien zu beachten sind (vgl. Bundesozialgericht, Urteil vom 26. Juni 2001, Aktenzeichen B 2 U 28/00 R, Rn. 21, zu recherchieren unter www.juris.de; Fischer in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, zu § 44 SGB VII Rn. 45). Bereits aus dem Grund, dass die Norm des § 44 Abs.1 SGB VII mit dem Wortlaut "Pflegegeld wird gezahlt" die Pflegegeldleistung so sie denn statt der Stellung einer Pflegekraft oder einer stationären Pflege als Sachleistung gewährt wird, von seinem Wortlaut her nicht als Ermessensleistung ausformt, untersteht die Ausübung dieses Ermessens vollumfänglich der gerichtlichen Kontrolle (so zutreffend Fischer, a.a.O.).

Im Rahmen der Prüfung der streitgegenständlichen Entscheidung der Beklagten ist weiterhin zu beachten, dass der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) "Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegelds gemäß § 44 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VII" (nachfolgend nur "Anhaltspunkte"; abgedruckt etwa in HBVG-Info 1999, S. 256 ff., ebenfalls zu recherchieren als Anlage bei Hauck / Noftz, Kommentar zum SGB VII, Werkstand 8/12) zwecks Gleichbehandlung herausgegeben hat. Auf diese wird auch aktuell noch im Handlungsleitfaden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und Sozialversicherung der Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau "Die Pflegeleistungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung" mit Stand zum 1. Januar 2016 unter Punkt 2.6.1. als "Richtschnur" weiterhin Bezug genommen (zu recherchieren unter anderem unter www.deutsche-syringomyelie.de/pflegeleist.pdf). Die vorgenannten "Anhaltspunkte" haben nicht den Charakter eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung, so dass sie für die Gerichte nicht bindend sind (vgl. Bundessozialgericht, a.a.O., Rn. 24; Ricke, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 97. Ergänzungslieferung 2017, SGB VII § 44 Rn. 8a jeweils mit weiteren Nennungen). Ihre schematische Anwendung ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles ist bereits nach Punkt 1.3. der "Anhaltspunkte" sowie der vorzitierten Bundessozialgerichtsrechtsprechung unzulässig. Sie sehen keine festen v.H.-Sätze des Höchstbetrags vor, sondern Bandbreiten zur Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse (z.B. unterschiedliche subjektive Kompensationsmöglichkeiten der Betroffenen aus eigener Kraft, Einsatzmöglichkeit von Hilfsmitteln, familiäre und Wohnungssituation), die anhand eines einheitlichen Erhebungsbogens für die anschließende ärztliche Einschätzung zu ermitteln sind. Die Anhaltspunkte führen unter Punkt 1.3. ausdrücklich aus, dass mit Rücksicht auf die individuelle persönliche Situation des Pflegebedürftigen auch höhere oder niedrigere Prozentsätze zu rechtfertigen sind. Damit ist zur Überzeugung der Kammer ein Abweichen von den vorgegebenen Bandbreiten im begründeten Einzelfall möglich. Die Abstufung der Prozentanteile der Hilflosigkeit erfolge nach der verbliebenen Selbständigkeit (vgl. Punkt 1.3. der Anhaltspunkte).

Die Anhaltspunkte legen unter Punkt 2.1. als Orientierung für die Umwertung der Gesundheitsschäden folgende Kategorien fest:

I

= 100 v.H.:

Schwerste Beeinträchtigungen

II

= 80 bis 60 v.H.:

Erhebliche Beeinträchtigungen

III

= 60 bis 40 v.H.:

Mittlere Beeinträchtigungen

IV

= 40 bis 25 v.H.:

Leichtere Beeinträchtigungen

Damit erfolgt eine Pauschalierung des Pflegegeldes, die im Grundsatz unabhängig von den entstehenden, bei der Pflege durch Angehörige ohnehin schwer zu ermittelnden Kosten in einem ersten Schritt unter Beachtung der unfallbedingten Gesundheitsschäden erfolgt (vgl. Ricke, a.a.O.). Der wirtschaftliche Wert der Hilfe ist jedoch entsprechend Punkt 1.2 der "Anhaltspunkte" neben der Anzahl der Verrichtungen und dem hierfür notwendigen Zeitaufwand bei der Bestimmung des Umfangs der Hilfe im Einzelfall zu berücksichtigten.

Ferner enthalten die "Anhaltspunkte" zur Konkretisierung der vorgenannten Beeinträchtigungskategorien in ihrem Punkt 2.2. Einzelaufstellungen bestimmter Verletzungsfolgen mit näheren Angaben zu den zugrunde gelegten Funktionseinschränkungen. Sie sind gemäß Punkt 1.3. der Anhaltspunkte auch grobe Orientierungshilfen für nicht beschriebene Verletzungsfolgen mit ähnlichen Funktionseinschränkungen. Im Fall der Klägerin ist hierbei von Relevanz, dass nach Nummer 11 von Punkt 2.2. der Anhaltspunkte eine inkompletten Tetraplegie mit unterschiedlich ausgeprägten Restfunktionen an den Extremitäten und am Rumpf mit zum Teil störend überlagernden Spastiken mit Rücksicht auf ihre Gesundheitsschäden grundsätzlich mit einer Pflegegeldhöhe von 60 bis 80 von Hundert eingestuft wird. Ein inkomplette Tetraplegie ohne funktionseinschränkende Spastik und ohne motorische Störungen einschließlich dem Segment S 3 / S 5 wäre nach Nummer 16 von Punkt 2.2. der Anhaltspunkte mit einem von Hundertsatz von 40 bis 60 zu bewerten.

Die Anhaltspunkte sind entsprechend dem Vorgenannten zwar nicht rechtsverbindlich, erzeugen aber durch allgemeine Handhabung im Bereich des jeweiligen Unfallversicherungsträgers, welche entsprechend dem aktuellen Handlungsleitfaden der DGUV bei einer Funktion als "Richtschnur" weiterhin anzunehmen ist, eine aus dem allgemeinen Gleichheitsgrund des Art. 3 Abs.1 Grundgesetz abzuleitende Selbstbindung der Verwaltung zugunsten der Versicherten. Ein Abweichen im Einzelfall zu Lasten des Versicherten ohne besondere Gründe ist deshalb ermessensfehlerhaft. (so auch Landessozialgericht Berlin - Brandenburg, a.a.O., Rn 50; Ricke, a.a.O., Rn. 10). Eine ermessensfehlerhafte Entscheidung der Beklagten hätte im Gerichtsverfahren grundsätzlich eine Aufhebung der Entscheidung unter Verpflichtung zu einer ermessensfehlerfreien Neuentscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zur Folge.

Abweichend hiervon kann sich aus den gesetzlichen Vorgaben des § 44 Abs. 2 SGB VII im Zusammenspiel mit den ermessensreduzierenden Vorgaben der Anhaltspunkte im Einzelfall auch ein gebundener Anspruch auf die Gewährung von Pflegegeld in einer gewissen - über dem Mindestpflegegeldanspruch - liegenden Höhe ergeben. Dieses ist dann der Fall, wenn das Ermessen der Beklagten Pflegegeldleistungen zumindest in dieser Höhe zu erbringen, auf Null reduziert ist. In diesem Fall kann das Gericht die Leistung zusprechen, ohne die Entscheidung an die Beklagte zurückgeben zu müssen (vgl. Seewald in Kassler Kommentar, a.a.O., zu § 38 Erstes Buch Sozialgesetzbuch, Rn 12). Dieses setzt voraus, dass es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, dass Umstände vorliegen, die eine anderweitige Ausübung des Ermessens rechtsfehlerfrei zuließen, wenn also jede andere Entscheidung sich zwingend als rechtswidrig darstellen würde (vgl. Just in Hauck / Noftz, Kommentar zum SGB I, Stand 08/06, zu § 39 SGB I, Randnummer 18 m.w.N.). Hierfür ist ein strenger Maßstab anzulegen. Insbesondere darf das Gericht nicht sein Ermessen an die Stelle des fehlenden oder fehlerhaften Ermessens der Beklagten setzen.

Im Fall der Klägerin ist die Kammer davon überzeugt, dass ihr für den Zeitraum Januar 2011 bis Mai 2013 Pflegegeldleistungen in Höhe von mindestens 60 von Hundert zustanden. Hierbei lässt sich die Kammer von folgenden Erwägungen leiten:

Der Dachverband der gesetzlichen Unfallversicherungen, dem die Beklagte angehört, hat durch den in Punkt 2.2. der Anhaltspunkte geschaffenen Katalog der Gesundheitsschäden grundsätzlich eine Bandbreite von Vomhundertsätzen für die Gewährung von Pflegegeld geschaffen, an der sie sich auf Grund der bereits festgestellten Selbstbindung der Verwaltung zumindest zu Gunsten des Versicherten festhalten lassen muss. Vor diesem Hintergrund besteht ein gebundener Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld in Höhe des Mindestwertes der für die Gesundheitsstörungen der Klägerin einschlägigen Spanne, wenn nicht in ihrem Einzelfall Umstände vorliegen, welche eine niedrige Einstufung rechtfertigen. Damit wird sichergestellt, dass Versicherte mit den gleichen oder zumindest vergleichbaren Gesundheitsstörungen gleich behandelt werden, wenn sich in ihrem Einzelfall nicht Umstände ergeben, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Solche Umstände können entsprechend den vorgenannten Ausführungen des Bundessozialgerichts und der Anhaltspunkte insbesondere in einer - im Vergleich zu den anderen Versicherten mit den gleichen Gesundheitsstörungen - besonders hohen oder besonders niedrigen Selbständigkeit beziehungsweise in einem besonders hohen oder niedrigen Hilfebedarf zu sehen sein. Dieses ist um eine schematische Anwendung der Tabellenwerte zu verhindert in jedem Einzelfall zu prüfen.

Im Fall der Klägerin gibt es zur Überzeugung der Kammer jedoch keine Umstände, welche für eine niedrigere Einstufung der Klägerin als den Prozentsatz von 60 von Hundert sprechen. Gemäß den überzeugenden Ausführungen von Dr. N liegt bei der Klägerin eine inkomplette Tetraplegie mit muskulöser Schwächung der Hände, der Beine und der Rumpfmuskulatur sowie mit störenden Spastiken vor, welche die Klägerin im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum auf Grund des hohen Sturzrisikos de facto rollstuhlpflichtig machen. Bereits auf Grund dieser Gesundheitsstörung wäre die Klägerin nach Punkt 11 von Nummer 2.2. der "Anhaltspunkte" in die Kategorie II der Gesundheitsschäden nach Punkt 2.1. der "Anhaltspunkte" für erhebliche Beeinträchtigungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Kommunikation, Mobilität, hauswirtschaftliche Versorgung einzustufen, bei der Versicherte in allen Phasen der wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens überwiegend auf fremde Hilfe angewiesen sind. Hinzu kommt allerdings zusätzlich die erhebliche gesundheitliche Einschränkung der neurogenen Blasen- und Mastdarmlähmung mit ungedämpfter Reflexblase bei Bestehen einer Detrusorhyperaktivität. Bei der Klägerin besteht eine reduzierte Blasenkapazität bei Erhalt des Harndrangs mit vegetativen Erscheinungen und Kontinenzproblemen. Die Blase muss jeden Tag und vor allem nachts weit überdurchschnittlich oft durch Triggern entleert werden. Hierdurch besteht bei der Klägerin im Vergleich zum Katalogfall der "Anhaltspunkte" eine zusätzliche Gesundheitsstörung mit pflegerelevanten Funktionsstörungen, die über das "normale Maß" einer unter Punkt 11 der Nummer 2.2. der "Anhaltspunkte" genannten Tetraplegie deutlich hinausgehen. Hierdurch besteht ein Indiz für das Vorliegen eines überdurchschnittlich schweren Falls der über der unteren Grenze der Bewertungsspanne liegt. Dr. N führt insoweit nachvollziehbar aus, dass seine Bewertung mit 60 von Hundert zurückhaltend aber mit Rücksicht auf die kurzzeitige Stehfähigkeit der Klägerin und einer hohe Selbständigkeit tagsüber noch zu rechtfertigen war.

Auch unter Berücksichtigung des tatsächlichen Umfangs der erforderlichen Hilfe als zweiter wesentlicher Faktor im Sinne des § 44 Abs. 2 SGB VII ist eine Herabsetzung des Pflegegeldes auf unter 60 von Hundert im Fall der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht gerechtfertigt. Bei der Klägerin liegen Gesundheitsstörungen vor, die auch in ihrem Einzelfall einen Hilfebedarf im Sinne der Kategorie II der Gesundheitsschäden im Sinne von Punkt 2.1. der Anhaltspunkte bedingen.

Zur Bestimmung des Umfangs der notwendigen Hilfe kann zur Bewertung der Beeinträchtigung der Selbständigkeit und Fähigkeiten des Versicherten eine Orientierung an den in § 14 Abs. 2 SGB XI genannten sechs Bereichen geschehen. Im Weiteren ist zu prüfen, ob die unter Kategorie II der "Anhaltspunkte" genannten Auswirkungen der Gesundheitsschäden mit der überwiegenden Notwendigkeit fremder Hilfe in allen Phasen der wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens bestehen. Hierbei ist zusätzlich zu den Vorgaben des SGB XI zu berücksichtigen, dass die Hilflosigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nach Punkt 1.2 der "Anhaltspunkte" unter anderem auch die Anleitung, Kontrolle und Bereitschaft zu Verhütung möglicher Selbst- und Fremdgefährdungen beziehungsweise Gesundheitsstörungen des Versicherten und die Notwendigkeit der Pflegebereitschaft erfasst. Auch diesbezüglich ist durch den Erlass der Anhaltspunkte als Richtlinie oder "Richtschnur" der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eine Selbstbindung der Verwaltung zu Gunsten der Versicherten gegeben.

Vorliegend benötigt die Klägerin unter Berücksichtigung der schlüssigen Ausführungen von Dr. N, der teilweise schlüssigen Ausführungen von Frau B, bezüglich deren Ausführungen unabhängig von der Frage, ob eine Gutachterauswahl nach § 200 Abs. 2 SGB VII hätte stattfinden müssen oder nicht, kein Beweisverwertungsverbot besteht (vgl. Ricke, a.a.O. zu § 200 SGB VII, Rn. 25) m.w.N.), sowie ihrer eigenen Ausführungen im Klageverfahren bei einer Vielzahl von Tätigkeiten die Hilfe ihres Ehemannes, welcher der Klägerin zumindest assistierend beistehen muss beziehungsweise in Bereitschaft zur Pflege stehen muss. Dieses betrifft insbesondere den Punkt des Wasserlassens. Hier haben der Gutachter Dr. N in seinem Gutachten wie auch der Ehemann der Klägerin im Verhandlungstermin für die Kammer mit Rücksicht auf die bei der Klägerin vorliegenden urologischen Gesundheitsstörung überzeugend dargelegt, dass die Klägerin nachts mindestens 4 bis 6 mal vom Bett zur Toilette und zurück transferiert werden muss, was zum Teil mit Rücksicht auf die bestehende vegetative Symptomatik unter Zeitdruck geschehen muss. Mit Rücksicht darauf, dass das Triggern nicht sofort zum Urinieren führt, dürfte allein für einen solchen Vorgang unter Berücksichtigung der notwendigen Bereitschaftszeiten des Ehemannes der Klägerin rund 15 Minuten zu veranschlagen sein. Damit sind täglich bereits rund 60 Minuten zu dem von Frau B festgestellten täglichen Pflegebedarf hinzuzurechnen. Tatsächlich dürfte der Ehemann der Klägerin als Pflegeperson nachts ähnlich gebunden sein, wie eine nächtliche Pflegekraft in Rufbereitschaft. Hinzu kommt nach den nachvollziehbaren Darstellungen des Ehemannes der Klägerin, dass diese auch tagsüber wegen des Harndranges mit entsprechender vegetativer Symptomatik im Grunde immer ihren Ehemann als Pflegeperson in der Nähe haben muss. Insofern muss dieser seine Ehefrau auf allen Wegen außer Haus und während der damals noch halbtags verrichteten Arbeit nicht nur zur Sicherstellung der ansonsten nicht gewährleisteten Mobilität sondern auch als Bereitschaft zur Sicherstellung des rechtzeitigen Toilettengangs begleiten. Allein dieses begründet zur Überzeugung der Kammer einen ganz erheblichen mindestens in Höhe der Kategorie II der "Anhaltspunkte" entsprechenden Pflegebedarf, da die Klägerin im Endeffekt rund um die Uhr von einer Pflegeperson in Bereitschaft begleitet werden muss.

Hierbei weist die Kammer darauf hin, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, der Harndrangsymptomatik durch Botoxinjektionen oder einer Katheteranlegung entgegenzuwirken, da dieses in ihre körperliche Integrität eingreift und daher auch zur Vermeidung von Mehrkosten für die Beklagte nicht duldungspflichtig ist. Dieses gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass der Gutachter mit Rücksicht auf die laufende Behandlung beim UKB bestätigen kann, dass das Anlegen eines Katheters bei der Klägerin gehäuft zu Harnwegsinfekten geführt hat.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass nach den Feststellungen von Dr. N entgegen der Annahme von Frau B auf Grund der Mitbetroffenheit der Bauchmuskulatur gesundheitsbedingt keine Rumpfstabilität besteht. Dieses bedingt wiederum, dass die Klägerin in ihrer Selbständigkeit deutlich stärker eingeschränkt war, als dieses von Frau B angenommen wurde. Bei fehlender Rumpfstabilität ist eindeutig, dass die Klägerin insbesondere bei der täglichen Körperpflege erheblich auf die Pflege oder zumindest unterstützende Mithilfe ihres Ehemannes angewiesen ist.

Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum bei fast allen Verrichtungen des Alltags auf die Pflege beziehungsweise zumindest auf die Mithilfe und Pflegebereitschaft ihres Ehemannes angewiesen war, bestand sowohl hinsichtlich der Anzahl der notwendigen Verrichtungen, dem bei Eheleuten schwer zu schätzenden wirtschaftlichen Wert (eine Pflegekraft zur Abdeckung des notwendigen Pflegebedarfs als Sachleistung wäre deutlich teurer als der Höchstsatz des Pflegegeldes) und dem zeitlichen Umfang der Pflege, ein ganz erheblich Pflegebedarf. Dieser war mindestens als erheblich im Sinne der Kategorie II des Punktes 2.1. der Anhaltspunkte einzustufen. Dieses gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Klägerin in Übereinstimmung mit dem Eindruck ihrer Sachbearbeiterin bei der Beklagten hochmotiviert und gewillt war, möglichst selbständig zu bleiben und sie sogar noch halbtags arbeitete, da dieses nach außen nur einen günstigeren Eindruck zur Pflegesituation vermittelte, als dieser tatsächlich war.

Zusammengefasst rechtfertigen im Fall der Klägerin Art oder Schwere des Gesundheitsschadens sowie der Umfangs der erforderlichen Hilfe unter Zugrundelegung der Vorgaben der Anhaltspunkte, insbesondere Nummer 11 von Punkt 2.2. der Anhaltspunkte im streitgegenständlichen Zeitraum die Gewährung von Pflegegeld mindestens in Höhe von 60 von Hundert des Höchstsatzes. Nach Auffassung der Kammer wäre auch eine Ausschöpfung des oberen Grenzwertes von 11 des Punktes 2.2., also Pflegegeld in Höhe von 80 von Hundert des Höchstsatzes durchaus zu rechtfertigen gewesen. Dieses zu Grunde gelegt, hat die Klägerin trotz des Bestehens von Ermessen der Beklagten einen gebundenen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld in Höhe von 60 von Hundert des Höchstsatzes, da die Gewährung eines geringeren Betrages unter keinen erdenklichen Ermessensgesichtspunkt zu rechtfertigen wäre. Nur bezüglich eines höheren Betrages hätte Raum für Ermessenserwägungen bestanden.

Die Klägerin hat nach § 44 Abs. 3 SGB VII einen Anspruch darauf, dass ihr über den 18. Mai 2013 hinaus Pflegegeld für den Zeitraum ihres stationären Krankenhausaufenthaltes bis zum Ende des ersten auf die Aufnahme folgenden Monats weitergezahlt wird. Weitergezahlt im Sinne des § 44 Abs. 3 SGB VII bedeutet nach dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Norm, welche in der Vermeidung von Doppelleistungen liegt (vgl. Nehls in Hauck / Noftz, a.a.O. zu § 44 SGB VII, Rn. 15), dass Pflegegeld unabhängig von der Veränderung des Gesundheitszustandes in der bisherigen Höhe erbracht wird. Damit spielt es für den noch streitgegenständlichen Zeitraum vom 19. Mai 2013 bis 31. Mai 2013 keine Rolle, dass durch den hinzugetretenen Oberschenkelhalsbruch der Klägerin eine weitere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes und eine nochmalige Mehrung von Art und Umfang ihrer Pflegebedürftigkeit eingetreten ist, da die Klägerin sich in diesem Zeitraum zur Behandlung des Oberschenkelhalsbruches in stationären Krankenhausbehandlung befand und sie im Rahmen dieser Behandlung von Klinikpersonal Pflegeleistungen als Sachleistung erhielt.

2.

Die Kostengrundentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang der Hauptsacheentscheidung.

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