VG Freiburg, Urteil vom 13.06.2017 - A 6 K 2772/16
Fundstelle
openJur 2020, 33877
  • Rkr:

1. Für ein vor dem Verlassen der Türkei aktives HDP-Mitglied stellt die Rückkehr in die Türkei ein unkalkulierbares Risiko dar, denn es ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Betreffende bei der Einreise unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung - wie zahlreiche andere HDP-Mitglieder - festgenommen und auf unbestimmte Zeit inhaftiert wird.

2. Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 kann von einem "tiefgreifenden Reformprozess" (so VGH Bad.-Württ., Urteil vom 27.08.2013, - A 12 S 561/13 -, juris Rn.70) keine Rede mehr sein.

3. Droht einem Kläger wegen Wehrdienstverweigerung eine Haftstrafe, ist ihm eine Rückkehr in die Türkei nicht zuzumuten. Denn er kann nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen und wäre wegen der hoffnungslos überfüllten Gefängnisse im dortigen Strafvollzug einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt (vgl. auch Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 20.03.2017, - (1) 53 AuslA 21/16 (11/16), InfAuslR 2017,254 m.w.N.).

Tenor

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid der Beklagten vom 28.06.2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der 1996 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 07.06.2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein und beantragte am 20.06.2016 seine Anerkennung als Asylberechtigter. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab der Kläger am 22.06.2016 an, er sei Mitglied der Jugendorganisation der HDP gewesen. Er sei von der Polizei beobachtet worden und habe sich unterdrückt gefühlt. In einem Vorbereitungskurs auf die Universität habe ihn seine Mutter angerufen. Da diese nur kurdisch sprechen könne, habe er ihr am Telefon auf Kurdisch geantwortet. Deshalb sei er von seinen Klassenkameraden sehr komisch angesehen worden. Auch habe er einmal in der Schule die Nationalhymne kaum singen können, weil er krank gewesen sei. Der Lehrer habe ihn daraufhin an die Tafel geholt, ihn laut vor der Klasse singen lassen und ihn beleidigt. Ein anderes Mal sei er mit zwei Freunden, einem Türken und einem Syrer, auf dem Weg zum Newroz-Fest gewesen. Sie seien von der Polizei angehalten worden. Seine Freunde hätten nach der Ausweiskontrolle wieder gehen dürfen, während er in das Polizeiauto gebracht, geohrfeigt und beleidigt worden sei. Dies sei am 23.03.2016 gewesen. Im Jahr 2015 hätten sie auch das Newroz-Fest gefeiert und er habe ein Stirnband mit der Aufschrift "Newroz" getragen. Eine Gruppe Türken von der MHP Partei hätte ihn angehalten, ihn getreten und ihn sowie seine Mutter beleidigt. In Gaziantep sei auch der IS aktiv. In einem religiösen Verein, zu dem er auch immer hin gegangen sei, habe der IS geworben. Die Leute des IS hätten ihn angesprochen, für sie zu kämpfen. Das erste Mal sei im Februar 2016 gewesen, er habe dies aber abgelehnt. Er habe sich von ihnen bedrängt und bedroht gefühlt.

Mit Bescheid vom 28.06.2016 lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 1 und 2) ebenso ab, wie die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Nr. 3). Ferner wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger die Abschiebung in die Türkei angedroht (Nr. 5).

Auf diesen ihm am 30.07.2016 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 12.08.2016 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Ergänzend lässt er vortragen, hinzu komme, dass er jederzeit mit der Einberufung zum türkische Militär rechnen müsse, wobei die Kurden bevorzugt in den kurdischen Gebieten eingesetzt würden. Falls er der Einberufung nicht Folge leiste, müsse er mit erheblichen Strafen seitens des türkischen Staates rechnen. Außerdem seien mehrere enge Verwandte aufgrund ihrer prokurdischen politischen Aktivitäten in der Türkei von den europäischen Asylbehörden als asylberechtigt anerkannt worden, so u.a. sein älterer Bruder X, welcher für die DHP tätig gewesen und deshalb vom türkischen Staat verfolgt worden sei. Der Kläger sei daher auch familiär "vorbelastet" und bereits deshalb im Visier der türkischen Behörden.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;

weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt,

und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.06.2016 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Im Übrigen hat er die Klage zurückgenommen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Die Berichterstatterin hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 13.06.2017 angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Dem Gericht liegt ein Ausdruck aus der elektronischen Akte des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (ein Heft) vor. Diese Akten waren ebenso wie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes betreffend die Türkei vom 19.02.2017 (Stand: Januar 2017), die Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH-Länderanalyse vom 17.02.2017 sowie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.09.2015 (Stand August 2015) Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Hierauf wird wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Das Gericht konnte verhandeln und entscheiden, obwohl nicht sämtliche Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung vertreten waren, denn auf diese Möglichkeit ist in den ordnungsgemäß bewirkten Ladungen hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Ziffern 1 und 3 - 6 des angefochtenen Bescheids sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).

Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951 - Genfer Flüchtlingskonvention -, wenn er sich unter anderem aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung - und sei es auch nur einer ihm zugeschriebenen Überzeugung, § 3b Abs. 2 AsylG - außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründet ist, gilt der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67). Dabei ist eine bereits erlittene Vorverfolgung oder ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden ein ernsthafter Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU).

Davon ausgehend ist der Kläger vorverfolgt ausgereist. Aufgrund der Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem erkennenden Gericht und des Eindrucks, den die Berichterstatterin in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, sowie den Einlassungen vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt aus der Türkei ausgereist ist und die Vermutung für ihn spricht, dass sich im Falle seiner Rückkehr die frühere Verfolgung wiederholen wird. Stichhaltige Gründe, die dagegen sprechen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er in seiner Heimatstadt Gaziantep Mitglied der Jugendorganisation der HDP gewesen ist. Schon sein Vater, sein Onkel und sein älterer Bruder waren bzw. sind in gleichem Maße aktiv. Ferner hat der Kläger glaubhaft und detailreich sowie widerspruchsfrei geschildert, wie er diskriminiert wurde und wie er bei einer Polizei Kontrolle getreten und geschlagen wurde. Die Berichterstatterin ist auch davon überzeugt, dass der Kläger die Wahrheit sagt, wenn er berichtet, dass drei seiner Freunde, die damals mit ihm in der HDP gewesen seien, sich derzeit in Haft befänden. Seine Furcht, dass auch ihn ein solches Schicksal ereilt hätte, wenn er nicht sein Heimatland verlassen hätte, ist nicht aus der Luft gegriffen. In der Heimatstadt des Klägers Gaziantep, einer Stadt in der Nähe zur syrischen Grenze, haben die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der HDP, denen eine Unterstützung der PKK vorgeworfen wurde, mit den Sicherheitskräften bereits im Sommer 2015 nach den Wahlen und nicht erst nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 begonnen (Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH-Länderanalyse vom 17.02.2017, S. 18 ff). Wenn in dem angefochtenen Bescheid davon die Rede ist, dass aus Ostanatolien zugewanderte Kurden in der Westtürkei eine ausreichende Lebensgrundlage finden können, und wenn es weiter dazu heißt, dass sich an dieser Bewertung durch die Auseinandersetzungen infolge der Verurteilung und der Haft des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan nichts geändert habe, so handelt es sich um einen veralteten Baustein, der die aktuellen Veränderungen in der Türkei, insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht berücksichtigt, allerdings auch nicht berücksichtigen konnte, denn der Bescheid trägt das Datum vom 28.06.2016. Auch soweit es heißt, die Regierung rücke neben den militärischen Maßnahmen zwischenzeitlich stärker soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Lösung der Kurdenfrage in den Vordergrund, geht diese Einschätzung an der Realität vorbei. Zutreffend heißt es deshalb in dem angefochtenen Bescheid auch im Weiteren, dass es nach dem durch die Terrormiliz IS verübten Attentat von Suruc am 20.07.2015 zu einer neuen Eskalationsdynamik mit zahlreichen Anschlägen und Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und der PKK gekommen sei und dass der Waffenstillstand Ende Juli 2015 beendet worden sei. Indessen werden diese Vorkommnisse lediglich beispielhaft erwähnt, ohne dass eine Bewertung hinsichtlich drohender Verfolgungsmaßnahmen im Falle einer Rückkehr in die Türkei erfolgte.

Davon unabhängig liegen aufgrund des gescheiterten Putschversuchs im Juli 2016 im Falle des Klägers auch Nachfluchtgründe vor, die nach gegenwärtiger Erkenntnislage bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG begründen.

Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg hat noch in einem Urteil aus dem Jahre 2013 angeführt, dass die Verhältnisse in der Türkei durch einen tiefgreifenden Reformprozess gekennzeichnet gewesen seien, der wesentliche Teile der Rechtsordnung betroffen habe, wozu auch die Ausweitung der Minderheitenrechte vor allem für die Kurden und die Stärkung der Meinungsfreiheit gehörten. Zudem habe sich die allgemeine Sicherheitslage in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei verbessert. Das Notstandsregime, das in 13 Provinzen gegolten habe, sei mit der Aufhebung des Notstands in den letzten Notstandsprovinzen Diyarbakir und Sirnak im November 2002 beendet worden (VGH Bad.-Württ. Urt. v. 27.08.2013 - A 12 S 561/13 -, juris, Rdnr. 70/72).

Diese im Jahr 2013 noch zutreffende Prognose kann nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 nicht mehr aufrechterhalten werden, vielmehr ist zu befürchten, dass sich die Türkei immer mehr in Richtung Diktatur entwickelt. Davon, dass der Reformprozess vorangetrieben wird, kann keine Rede mehr sein. Von "Säuberungsmaßnahmen" wird berichtet, der landesweite Ausnahmezustand wurde um weitere 3 Monate zunächst bis Mitte April und nunmehr erneut um weitere 3 Monate verlängert (Süddeutsche Zeitung vom 18.04.2017), die Meinungs- und Pressefreiheit sind akut bedroht, zahlreiche kurdische Abgeordnete sind inhaftiert.

In dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Januar 2017) vom 19.02.2017 heißt es, nach dem Putschversuch habe die Regierung sog. ,,Säuberungsmaßnahmen" gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, welche sie der GüIen-Bewegung zurechne oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen werde. Im Zuge dieser Maßnahmen seien bislang gegen 103.850 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet, 86.519 Personen in Polizeigewahrsam genommen worden, davon befänden sich 41.034 in Untersuchungshaft (7.597 Polizei, 6.748 Militär, 2.433 Richter und Staatsanwälte) (Stand: 4.1.2017). 76.000 Beamte seien vom Dienst suspendiert worden, auch sei es zur Beendigung des Beamtenverhältnisses bei Militärangehörigen (7.536) gekommen. Die Maßnahmen zielten erklärtermaßen darauf ab, die Anhänger der Gülen-Bewegung aus allen relevanten Institutionen in der Türkei zu entfernen. Bei diesen ,,Säuberungen" werde nicht zwischen Personen unterschieden, denen lediglich eine Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werde und jenen Personen, die einer aktiven Beteiligung am Putschversuch verdächtigt würden. Zur Unterstützung dieser Maßnahmen habe die Regierung am 20.07.2016 den Notstand verhängt, zunächst für drei Monate. Am 19.10.2016 und am 03.01.2017 sei dieser Notstand für jeweils weitere drei Monate verlängert worden. Er gelte nun mindestens bis 19.04.2017. ....Die Regierung habe seit dem Putschversuch eine fast alles beherrschende nationalistische Atmosphäre geschaffen, die gleichermaßen auf Furcht, Euphorie, Propaganda und nationale Einheit setze. Die Atmosphäre speise sich aus den "Säuberungsmaßnahmen" und mit ihnen einhergehenden öffentlichen Aufrufen zur Denunziation, aus der Überhöhung des nationalen Widerstands, der allabendlich mit Demonstrationen auf den zentralen Plätzen der Großstädte gefeiert werde......Thematisch fahre Erdogan zur Erreichung seines Ziels seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK sei. ...Viele der zunehmenden Freiheitseinschränkungen und Repressionsmaßnahmen rechtfertige die Regierung mit der Notwendigkeit, den Terrorismus zu bekämpfen. Jedoch würden jenseits der Bekämpfung realer terroristischer Bedrohungen Terrorismusvorwürfe inflationär genutzt. Neben der Einstufung der GüIen-Bewegung als Terrororganisation sei u.a. 57 von 59 Abgeordneten der prokurdischen HDP die parlamentarische Immunität entzogen worden. Die Verfahren gegen die HDP-Abgeordneten stützten sich überwiegend auf angebliche Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze. Nach Abschluss der Verfahren könnten einige dieser Abgeordneten ihr Mandat verlieren. Aktuell befänden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Stand: 30.12.2016). .....Die Meinungs- und Pressefreiheit seien akut bedroht. Seit Juli seien per Notstandsdekret rund 170 überwiegend Gülen-nahe und kurdische Print- und Bildmedien geschlossen worden; ca. 3.000 Journalisten hätten durch Schließungen ihren Job verloren und hätten - gebrandmarkt als Gülenisten oder PKK-Sympathisanten - keine Aussicht darauf, einen neuen zu finden. Als Grundlage für das strafrechtliche Vorgehen gegen diese Personen werde häufig ebenfalls der Terrorismustatbestand bzw. der Vorwurf der Propaganda für terroristische Organisationen angeführt. 140 Journalisten säßen nach Angaben von Human Rights Watch derzeit in Haft (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei, Stand 04.01.2017; siehe auch ZEIT ONLINE, 26.12.2016: "Anti-Terror-Polizei nimmt HDP-Vizechefin fest"; ZEIT ONLINE, 30.12.2016: "Haftbefehl gegen kritischen Journalisten in der Türkei erlassen", dieser Artikel betrifft den Journalisten und Buchautor Ahmet Sik; zur Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel: ZEIT ONLINE, 27.02.2017: "Richter ordnet Untersuchungshaft gegen "Welt"-Korrespondenten an").

Auch nach dem 04.01.2017 wurden weitere 6000 Bedienstete entlassen (ZEIT ONLINE, 07.01.2017: "Türkei entlässt weitere 6000 Bedienstete"). Betroffen seien Polizisten, Angestellte des Justiz- und Gesundheitsministeriums und Universitätslehrkräfte. Auch gegen fast 400 Unternehmer wurden Haftbefehle erlassen, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wurden (ZEIT ONLINE, 05.01.2017: "Behörden erlassen Haftbefehl gegen 380 Unternehmer"). Auch wer in der Türkei Aussagen etwa über die PKK online veröffentlicht, muss damit rechnen, verhaftet zu werden. 1.656 Menschen sind inhaftiert worden wegen Beiträgen in sozialen Medien unter anderem über die PKK, in 3700 Fällen wird ermittelt (ZEIT ONLINE, 24.12.2016: "Mehr als 1000 Festnahmen wegen Beiträgen in sozialen Medien"; ZEIT ONLINE, 28.2.2017: "Jeder kann zum Terrorverdächtigen werden"). Auch in Deutschland müssen türkische Staatsbürger damit rechnen, dass etwaige Kritik an der türkischen Regierung bzw. Aussagen zur PKK dem türkischen Generalkonsulat gemeldet werden (ZEIT ONLINE, 23.02.2017: "Türkei fordert offenbar zu Spitzelei an Schulen auf" und SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017: "Willkommen in Istanbul, Sie sind festgenommen" zur Festnahme von Deutschen und Österreichern mit Wurzeln in der Türkei, die nach ihrer Ankunft am Flughafen Istanbul festgenommen worden sind - wohl wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Möglicherweise wurden sie zuvor bespitzelt).

Soweit es im oben erwähnten Lagebericht des Auswärtigen Amtes mit Stand 04.01.2017 im weiteren Verlauf zur Frage der Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern noch heißt, dass dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden sei, indem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden sei. (Seite 29), kommt diesen Ausführungen nach der mittlerweile eingetretenen weiteren Verschärfung der Situation in der Türkei und der Verschlechterung des Verhältnisses zu Deutschland keine Aussagekraft mehr zu. Diese Passage stimmt wörtlich mit dem Lagebericht mit Stand August 2015 überein, der noch vor dem gescheiterten Putschversuch des Jahres 2016 erstellt worden ist, und ist nicht mehr aktuell. So berichten die Medien - wie bereits ausgeführt - sogar über Festnahmen bei der Einreise von Deutschen und Österreichern mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Kritik an Präsident Erdogan. Laut Aussage eines westlichen Diplomaten gehe man von einer "hohen zweistelligen Zahl jeden Monat" aus. Von einem "Spitzelwerk im Ausland" ist die Rede und auch davon, dass es für die oben erwähnten Personen "ein unkalkulierbares Risiko" darstelle, "in die Türkei zu reisen"(SPIEGEL ONLINE, 09.03.2017, a.a.O.; vgl. zur Rückkehrgefährdung in die Türkei schon kurz vor dem Putschversuch: Nieders. OVG, Urteil vom 31.05.2016 - 11 LB 53/15 -, InfAuslR 2016, 450).

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe verneint zwar eine Verhaftung bei Rückkehr nur aufgrund der kurdischen Ethnie, ist allerdings der Ansicht, dass die Behörden eine Festnahme mit illegalen Aktivitäten begründen würden, welche unter die Anti-Terrorgesetzgebung fallen. Es sei nicht möglich auszuschließen, dass eine Person willkürlich verhaftet werde (Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 17.02.2017, Seite 3). Diese Einschätzung ist indessen erfolgt aufgrund Aussagen von Kontaktpersonen, die türkischen Menschenrechtsorganisationen angehören und die am 10. bzw. 18.01.2017 befragt worden sind. Wie oben bereits erwähnt, ist es jedoch in der Folgezeit zu willkürlichen Verhaftungen bei Einreise in die Türkei gekommen (vgl. zusätzlich ZEIT ONLINE, 11.05.2017: "Journalistin aus Ulm in Istanbul verhaftet"). Auch ist nicht auszuschließen, dass sich die Kontaktpersonen selbst bedroht fühlen und sich aus diesem Grunde scheuen, eine allzu kritische Haltung gegenüber der türkischen Regierung einzunehmen. So ist es am 07.06.2017 zur Verhaftung des Chefs von Amnesty International Taner Kilic gemeinsam mit 22 weiteren Anwälten wegen angeblicher Unterstützung der Gülen-Bewegung gekommen (ZEIT ONLINE, 07.06.2017: "Türkei-Chef von Amnesty International verhaftet").

Davon ausgehend steht im vorliegenden Fall zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Maßnahmen drohen in Anknüpfung an eine ihm unterstellte regimekritische Haltung aufgrund seiner Mitgliedschaft in der HDP und seiner früheren Aktivitäten in der Türkei. Eine Rückkehr in die Türkei stellt für ihn ein unkalkulierbares Risiko dar, denn er muss damit rechnen, bei der Einreise unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung - wie zahlreiche andere HDP-Mitglieder und zwei seiner Freunde - festgenommen und auf unbestimmte Zeit inhaftiert zu werden. Hinzu kommt, dass sich sein Bruder und ein Cousin in der Bundesrepublik mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus aufhalten. Auch insoweit muss der Kläger unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft damit rechnen, in asylrelevanter Weise nach dem Aufenthalt und den politischen Aktivitäten seiner Verwandten sowie seiner eigenen politischen Betätigung befragt zu werden. Schon aus diesem Grunde ist der Klage stattzugeben.

Soweit der Kläger vorträgt, er sei unter anderem deshalb ausgereist, weil er keinen Wehrdienst leisten wollte, ist angesichts der oben geschilderten veränderten Sachlage derzeit unklar, wie die türkische Regierung darauf reagiert, dass der Kläger die Türkei verlassen hat, um keinen Wehrdienst leisten zu müssen, und welche asylrelevanten Maßnahmen dem Kläger allein deshalb im Falle einer Rückkehr bzw. Abschiebung in die Türkei drohen. In dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.02.2017 heißt es zur Wehrdienstverweigerung, insofern wortgleich wie im Lagebericht vom 29.09.2015, dass Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige strafrechtlich verfolgt werden. Zwar sei zunächst eine Geldstrafe statt der Freiheitsstrafe zu verhängen. Subsidiär blieben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Es komme regelmäßig, zuletzt 2010, zu Verhaftungen von Kriegsdienstverweigerern; diese Praxis werde jedoch nicht einheitlich umgesetzt (AA, Lagebericht vom 19.02.2017 (S. 18) und vom 29.09.2015 (S. 16).

Droht dem Kläger wegen Wehrdienstverweigerung eine Haftstrafe, ist ihm eine Rückkehr in die Türkei nicht zuzumuten. Denn er kann nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen und wäre wegen der hoffnungslos überfüllten Gefängnisse im dortigen Strafvollzug einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt. Hierzu hat das Brandenburgische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 20.03.2017 unter Aufbereitung der neueren Erkenntnisse zur Frage einer Auslieferung entschieden, dass diese unter den zur Zeit obwaltenden Umständen in der Türkei unzulässig sei, da sie gegen Art. 3 EMRK verstoße. Es heißt dort:

"Nach einer offiziellen Verlautbarung des Bundesamts für Justiz vom 16.08.2016 und vom 24.02.2017 ("Auswirkungen des Ausnahmezustandes auf Rechtstaatlichkeit und Haftbedingungen") stellen sich die aktuellen Verhältnisse im Bereich der Strafjustiz in der Republik Türkei u. a. wie folgt dar: Die Republik Türkei, ein Vertragsstaat der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, hat durch offizielle Meldung an den Europarat von der Möglichkeit des Art. 15 EMRK Gebrauch gemacht und auf diese Weise die in der Konvention kodifizierten Rechte eines Beschuldigten weitgehend außer Kraft gesetzt. Nach dem Inhalt des innerstaatlich in der Republik Türkei zu Grunde liegenden "Ministerratsbeschlusses Nr. 667" vom 22.07.2016 sind danach unter anderem die Möglichkeiten effektiver Verteidigung eines Beschuldigten drastisch eingeschränkt worden. Ein Beschuldigter kann von der Polizei ohne richterliche Entscheidung bis zu 30 Tagen in Haft gehalten werden. Die Staatsanwaltschaft ist befugt, ohne Zustimmung eines Beschuldigten den von ihm gewählten Verteidiger auszuwechseln und sogar die Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant vollständig zu untersagen. Diese Einschränkungen haben nach Mitteilung der Rechtsanwaltskammer Ankara dazu geführt, dass Verteidiger häufiger das Mandat niederlegen, so dass eine wirkungsvolle Verteidigung nicht möglich sei.

In Gerichtsverfahren reicht es aus, einen Beschuldigten nur summarisch über den Inhalt der gegen ihn erhobenen Anklage zu informieren. Ein uneingeschränktes Recht des Beschuldigten, in der gegen ihn geführten Verhandlung anwesend zu sein, besteht offenbar nicht mehr.

Nach der Verhaftung tausender Richter und Staatsanwälte ist damit zu rechnen, dass Strafverfahren, die schon zuvor "häufig sehr lange" dauerten, jetzt noch deutlich länger dauern werden, als es bisher üblich war. Damit sind zurzeit nicht nur mit der Meldung nach Art. 15 EMRK an den Europarat die Grundrechte eines Beschuldigten aus Art. 6 EMRK (Verhandlung über eine Anklage innerhalb angemessener Frist, Unterrichtung über Art und Grund der erhobenen Beschuldigung in allen Einzelheiten, Recht auf Verteidigung durch einen Verteidiger eigener Wahl) offiziell außer Kraft gesetzt.

Diese für das Strafverfahren bestehenden Einschränkungen gelten auch für das Strafvollstreckungsverfahren. Die schon vor den aktuellen Ereignissen vielfach bestehende Überbelegung von Haftanstalten hat sich nach der Verhaftung zehntausender Personen nochmals drastisch verschärft. Mit überfüllten Zellen, unzureichender und schlechter Ernährung ist zu rechnen. In der Regel sind weder ausreichende Sitz- noch Schlafmöglichkeiten vorhanden. Die Haftbedingungen verstoßen gegen die Grundrechte eines Beschuldigten aus Art. 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), also einer Vorschrift, die selbst in Anwendung des Art. 15 EMRK nicht abbedungen werden darf, unter den faktisch herrschenden Umständen aber nicht eingehalten werden kann" (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 20.03.2017, - (1) 53 AuslA 21/16 (11/16), InfAuslR 2017,254 m.w.N.).

Dieser Einschätzung schließt sich die Berichterstatterin auch für den Fall an, dass dem Ausländer - wie gegebenenfalls hier - ein Strafverfahren, das nicht rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt, oder unmenschliche Haftbedingungen drohen. Ob dem Kläger vorliegend eine Haftstrafe droht, braucht indessen nicht abschließend geklärt zu werden, da die Klage schon aus anderen Gründen Erfolg hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).