VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.06.2017 - 8 S 2507/16
Fundstelle
openJur 2020, 33715
  • Rkr:

1. Wird eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge im Außenbereich errichtet, sind ihr gegenüber von einem Betrieb in einem angrenzenden Gewerbegebiet allenfalls die in einem Mischgebiet geltenden Immissionsrichtwerte einzuhalten.

Die Zulassung einer solchen Gemengelage nach Nr. 6.7 Abs. 1 Satz 2 TA Lärm rechtfertigt voraussichtlich kein geringeres Schutzniveau.

2. Aus § 246 Abs. 10 BauGB kann voraussichtlich nicht auf die Zumutbarkeit bestimmter Immissionen geschlossen werden.

Tenor

Auf die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. November 2016 - 2 K 7147/16 - teilweise geändert. Der Antrag der Antragstellerin zu 1 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 31. Oktober 2016 gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 24. Oktober 2016 wird abgelehnt, soweit er sich gegen das im Lageplan vom 24. März 2016 als "Haus 3" bezeichnete nördliche "Wohnhaus" richtet.

Im Übrigen werden die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 17. November 2016 - 2 K 7147/16 - zurückgewiesen.

Die Gerichtskosten der ersten Instanz tragen die Antragstellerin zu 1 zu einem Sechstel, der Antragsgegner zu zwei Sechstel und die Antragsteller zu 2 und zu 3 als Gesamtschuldner zur Hälfte. Die Gerichtskosten der zweiten Instanz tragen die Antragstellerin zu 1, der Antragsgegner sowie die Beigeladene zu je einem Drittel. Die außergerichtlichen Kosten des Antragsgegners in erster Instanz tragen die Antragstellerin zu 1 zu einem Sechstel und die Antragsteller zu 2 und 3 als Gesamtschuldner zur Hälfte. Von den außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 1 in erster Instanz trägt der Antragsgegner zwei Drittel. Im Übrigen tragen die Beteiligten ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 15.000 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässigen Beschwerden sind im sich aus dem Tenor ergebenden Umfang begründet.

1. Der Antragsgegner und die Beigeladene rügen erfolgreich die den angefochtenen Beschluss tragende Rechtsauffassung, bei den geplanten Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge und Asylbegehrende handele es sich um Wohnen und sei grundsätzlich ein Schutzniveau wie in einem Wohngebiet zu verlangen (BA, S. 6). So handelt es sich trotz des wohnähnlichen Charakters um eine Nutzung für soziale Zwecke (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.05.2017 - 5 S 1505/15 -; offen gelassen im vom Verwaltungsgericht angeführten Senatsbeschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 -). Die tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts werden ferner dadurch in Zweifel gezogen, dass - gestützt auf die der Beigeladenen am 21.12.2000 erteilte und nunmehr vorgelegte Baugenehmigung - geltend gemacht wird, die nach dieser Baugenehmigung nur zulässigen Tätigkeiten der Beigeladenen würden keine unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen hervorrufen.

2. Ergibt die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung, dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts dessen Entscheidung nicht rechtfertigt, hat der Senat umfassend zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach den allgemeinen Maßstäben von § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu gewähren ist (Senatsbeschluss vom 25.11.2004 - 8 S 1870/04 -; st. Rspr.). Die danach unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Widerspruchs vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin zu 1 aus, soweit diese sich gegen die Errichtung der beiden südlichen Unterkünfte wendet. Im Übrigen kommt dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem Interesse der Beigeladenen, von der Baugenehmigung sofort Gebrauch machen zu dürfen, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Vorrang zu, da die Antragstellerin zu 1 durch die Errichtung und Nutzung des nördlichen "Hauses 3" voraussichtlich nicht in ihren Rechten verletzt wird. Dass die Beigeladene nicht auf das Vorhaben "angewiesen" sein mag, rechtfertigt keine andere Abwägungsentscheidung.

a) aa) Das Baugrundstück grenzt westlich an ein Gewerbegebiet, in dem sich das Grundstück der Antragstellerin zu 1 befindet. Ob das Baugrundstück noch innerhalb des Siedlungsbereichs i. S. von § 246 Abs. 9 BauGB liegt mit der Folge der entsprechenden Geltung des § 35 Abs. 4 Satz 1 BauGB, kann offen bleiben, da auch für solche Vorhaben das in § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 verankerte Gebot der Rücksichtnahme gilt (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.01.2012 - 3 S 20/11 -). Dieses findet nicht nur auf Außenbereichsvorhaben untereinander Anwendung, sondern wirkt über Gebietsgrenzen hinweg und kommt auch Eigentümern zugute, deren Grundstücke im Geltungsbereich eines Bebauungsplans i. S. des § 30 BauGB oder im unbeplanten Innenbereich i. S. des § 34 BauGB liegen (BVerwG, Urteil vom 28.10.1993 - 4 C 5.93 - NVwZ 1994, 686 [687]).

Nicht nur Vorhaben, von denen Belästigungen oder Störungen ausgehen, sondern auch solche, die sich schädlichen Umwelteinwirkungen aussetzen, können gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen. Ein Verstoß liegt aber nicht vor, wenn ein neues störempfindliches Vorhaben keine zusätzlichen Einschränkungen für die "störende" Anlage zur Folge haben wird, weil die Anlage schon auf eine vorhandene, in derselben Weise störempfindliche Bebauung Rücksicht nehmen muss. Ergeben sich hingegen zusätzliche Rücksichtnahmepflichten und ist deshalb mit einer Verschärfung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen an die Anlage zu rechnen, etwa weil eine beabsichtigte Wohnbebauung näher "heranrückt" als die vorhandene Wohnbebauung oder weil die störempfindliche Bebauung in einer Richtung geplant ist, in die die Anlage bisher ungehindert emittieren darf, wird das störempfindliche Vorhaben regelmäßig gegenüber dem Betrieb "rücksichtslos" sein (Bay. VGH, Beschluss vom 25.10.2006 - 1 ZB 06.24 -, juris, Rn. 13).

bb) Das Baugrundstück liegt im Außenbereich, für den die TA Lärm keine Immissionsrichtwerte festsetzt. Aufgrund der dort privilegierten Nutzungen müssen Eigentümer von Außenbereichsgrundstücken grundsätzlich mit der Verwirklichung "lästiger" Anlagen in der Umgebung rechnen, so dass allenfalls auf Mischgebietsniveau geminderte Schutzansprüche bestehen - tags 60 dB(A) und nachts 45 dB(A) gemäß Nr. 6.1 Buchst. b TA Lärm (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.06.2016 - 3 S 250/16 -, juris, Rn. 57; Bay. VGH, Beschluss vom 02.11.2016 - 22 CS 16.2048, 22 CS 16.2049 -, juris, Rn. 35).

Ein (noch) niedrigeres Schutzniveau wie in einem Gewerbegebiet folgt entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht aus § 246 Abs. 10 Satz 1 BauGB. Die Vorschrift soll zwar die Unterbringung von Flüchtlingen in Gewerbegebieten erleichtern (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.05.2017 - 5 S 1505/15 -, juris, Rn. 31). Es spricht aber viel dafür, dass aus der Regelung - ebenso wie aus § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2, wonach die Nutzungsänderung in Industriegebieten erleichtert wird - nicht auf die Zumutbarkeit bestimmter Immissionen geschlossen werden kann (vgl. hierzu Decker, in: Jäde/Dirnberger, BauGB/BauNVO 8. A. 2017, § 246 BauGB Rn. 44). Die Vorschrift fordert die Vereinbarkeit mit öffentlichen Belangen unter Würdigung nachbarlicher Interessen. Die Fassung von § 246 Abs. 10 BauGB ist zurückzuführen auf einen Änderungsvorschlag der Bundesregierung zum ursprünglichen Gesetzentwurf des Bundesrates. Nach dem Änderungsvorschlag sollten Aufnahmeeinrichtungen nicht flächendeckend als Ausnahme zugelassen werden können, da wegen der Wohnähnlichkeit Nutzungskonflikte entstehen könnten und Anpassungen der TA Lärm und der TA Luft zu prüfen wären. Da auch der Regelungsvorschlag des Bundesrates letztlich nur auf Standorte in Gewerbegebieten ziele, an denen Konflikte insbesondere wegen Lärm- und Geruchsimmissionen nicht zu erwarten seien, aber in seinem Regelungsgehalt deutlich über dieses Anliegen hinaus gehe, sei die von der Bundesregierung vorgeschlagene erweiterte Befreiungsmöglichkeit ausreichend (BTDrucks 18/2752, S. 12). Welches Schutzniveau sich vor diesem Hintergrund aus § 246 Abs. 10 BauGB für Flüchtlingsunterkünfte in Gewerbegebieten ergibt, kann hier jedoch dahinstehen, da die Vorschrift jedenfalls keine Regelungen zum zulässigen Lärmniveau außerhalb von Gewerbegebieten trifft.

Eine Erhöhung des Immissionsrichtwertes auf einen Wert zwischen die für Misch- und Gewerbegebiete geltenden Werte wegen der Gemengelage dürfte ausscheiden. Nach Nr. 6.7 Abs. 1 Satz 2 TA Lärm sollen die Immissionsrichtwerte für Kern-, Dorf- und Mischgebiete nicht überschritten werden. Ob hiervon ausnahmsweise abgewichen werden kann, weil wegen des Bedarfs zur Unterbringung von Flüchtlingen dem Rücksichtnahme-Begünstigten vorübergehend ein Mehr an Beeinträchtigungen zuzumuten ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11.10.2016 - 5 S 605/16 -, juris, Rn. 28), lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend beurteilen. Im Übrigen erscheint zweifelhaft, ob eine Mittelwertbildung das Heranrücken einer störempfindlichen Bebauung rechtfertigte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 24.01.2013 - 5 S 913/11 -, BRS 81 Nr. 22, juris Rn. 52).

b) Der Senat geht einstweilen von der schalltechnischen Stellungnahme vom 01.08.2016 aus. In Eilverfahren erfolgt grundsätzlich nur eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage. Es ist daher nicht Aufgabe dieses Verfahrens, die zahlreichen, durch Stellungnahmen der Gewerbeaufsicht gestützten Einwendungen der Beschwerdeführer und die von einer eidesstattlichen Versicherung begleiteten Erwiderungen der Antragstellerin zu 1 im Einzelnen zu würdigen. Eine eigene schalltechnische Untersuchung haben Antragsgegner und Beigeladene trotz offensichtlicher Lärmkonflikte im Baugenehmigungsverfahren nicht erstellt. Nach der schalltechnischen Stellungnahme vom 01.08.2016 liegt indes lediglich das Haus 3 in einem Bereich, in dem der Beurteilungspegel bei weniger als 60 dB(A) liegt.

c) Entgegen der Annahme der Beschwerdeführer dürfte sich eine erhebliche Einschränkung des Betriebs der Antragstellerin zu 1 nicht aus der ihr erteilten Baugenehmigung vom 21.12.2000 ergeben. Zu deren Bestandteil erklärt wurde lediglich das schalltechnische Gutachten vom 25.09.2000 (033). Dieses hat jedoch allein raumakustische Maßnahmen zum Gegenstand und ist für dieses Verfahren ohne Bedeutung. Des Weiteren wurde die Baugenehmigung mit der Auflage versehen, das Betriebsgebäude mindestens entsprechend den Annahmen und Vorschlägen des Schallschutzgutachtens vom 21.09.2000, Seiten 11 und 12, auszuführen (020 i.V.m. I.1 der Auflagen des Gewerbeaufsichtsamts). Daraus ergeben sich Anforderungen an die Schalldämmung. Die Zulässigkeit eines maximalen Lärmpegels von 57 db(A) - der auf den Seiten 11 und 12 nicht erwähnt wird - kann der Regelung jedoch voraussichtlich nicht entnommen werden, sondern lediglich die (allgemeiner als auf Seite 18 des Gutachtens formulierte) Vorgabe, dass das Rolltor beim Betrieb der Stanzmaschinen geschlossen zu halten ist. Ob danach das unter Nr. 2.4 der Stellungnahme vom 01.08.2016 beurteilte "Richten von Blechen", das auch bei geöffnetem Verladetor stattfindet, einen Verstoß gegen die Baugenehmigung darstellt, erscheint allerdings zweifelhaft. Diese Tätigkeit ist jedenfalls nach der Stellungnahme vom 01.08.2016 für die drohende Lärmbeeinträchtigung der geplanten Flüchtlingsunterkünfte von eher geringer Bedeutung.

d) Aus der schalltechnischen Stellungnahme vom 01.08.2016 ergibt sich schließlich nicht, dass die zulässigen Immissionsrichtwerte an den nach A.1.3 des Anhangs zur TA Lärm maßgeblichen Orten überschritten werden. Es lässt sich daher im Eilverfahren nicht feststellen, dass der Antragstellerin zu 1 unabhängig von der Errichtung der geplanten Flüchtlingsunterkünfte immissionsschutzrechtliche Anordnungen drohten, die eine Einschränkung ihres Betriebs zur Folge hätten. Dies dürfte freilich ohnehin nur bei der Errichtung der Häuser 1 und 2 der geplanten Flüchtlingsunterkunft in einem Bereich zu befürchten sein, in dem die von der Antragstellerin zu 1 verursachten Emissionen bislang nicht störten. Die Genehmigung der beiden Häuser verstößt daher ihr gegenüber voraussichtlich gegen das Rücksichtnahmegebot.

3. Der Senat gewichtet das Interesse der Antragstellerin zu 1 an der Verhinderung vollendeter Tatsachen höher als das Vollzugsinteresse, soweit sie sich gegen die Häuser 1 und 2 der geplanten Unterkunft richtet. Zwar besteht ein dringendes öffentliches Interesse an der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbegehrenden. Wegen des voraussichtlichen Erfolgs des Widerspruchs der Antragstellerin zu 1, soweit er sich gegen die Häuser 1 und 2 richtet, muss es jedoch hinter das Suspensivinteresse zurücktreten. Da die bloße Errichtung der Häuser ohne ihre spätere Nutzung nicht geeignet wäre, den Unterbringungsbedarf zu decken, das öffentliche Interesse nur an der Errichtung - noch dazu im Außenbereich - demzufolge gering ist, kommt auch nicht in Betracht, die aufschiebende Wirkung nur hinsichtlich einer späteren Nutzung der Häuser anzuordnen. Soweit die Beigeladene auf durchgeführte Ausgleichsmaßnahmen und finanzielle Verpflichtungen verweist, ist dem entgegenzuhalten, dass diese Probleme im Wesentlichen durch den vorzeitigen Baubeginn dreieinhalb Wochen vor Erteilung der Baugenehmigung verursacht worden sind. Dies kann der Beigeladenen nicht zum Vorteil gereichen.

4. Der von der Beigeladenen noch gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Beschlusses ist mit der vorliegenden Entscheidung gegenstandslos.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und 3, § 155 Abs. 1, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Verteilung der Kosten berücksichtigt, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts gegenüber den Antragstellern zu 2 und 3 rechtskräftig geworden ist und die Beigeladene nur in der zweiten Instanz einen Antrag gestellt hat. Da von den außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 1 in zweiter Instanz der Antragsgegner und die Beigeladene jeweils ein Drittel, von deren außergerichtlichen Kosten aber wiederum die Antragstellerin zu 1 unter Berücksichtigung der jeweiligen Obsiegens- und Unterliegensanteile jeweils ein Drittel zu tragen hätte, konnte von der Anordnung gegenseitiger Erstattung abgesehen werden.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht im Ergebnis der des Verwaltungsgerichts (vgl. Senatsbeschluss v. 06.06.2017 - 8 S 1041/17 -).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.