BGH, Beschluss vom 16.06.2020 - II ZB 30/19
Fundstelle
openJur 2020, 32194
  • Rkr:
Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerinnen wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 29. Oktober 2019 aufgehoben. Die Fortsetzung des Verfahrens wird angeordnet.

Der Streitwert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 30.000.000 € festgesetzt.

Gründe

I. Die Beklagte ist als Holdinggesellschaft mit rund 52 % der Stimmrechte an der Nebenintervenientin beteiligt. Im Jahr 2007 stellte die Nebenintervenientin eine neue Baureihe von Dieselmotoren unter der Bezeichnung EA 189 vor, die sie ab dem Jahr 2008 baute und auch in den USA vermarktete. Am 22. September 2015 veröffentlichte die Nebenintervenientin eine Adhoc-Meldung, der zufolge nach bisherigen internen Prüfungen weltweit rund 11 Millionen Fahrzeuge mit Dieselmotoren des Typs EA 189 Auffälligkeiten bezüglich ihres Stickoxidausstoßes aufwiesen, weshalb sie beabsichtige, im dritten Quartal des laufenden Geschäftsjahres rund 6,5 Mrd. € ergebniswirksam zurückzustellen. Ebenfalls am 22. September 2015 informierte die Beklagte in einer Adhoc-Meldung hierüber und teilte mit, dass infolge der Kapitalbeteiligung der Beklagten an der Nebenintervenientin ein entsprechender ergebnisbelastender Effekt bei der Beklagten zu erwarten sei. In der Zeit ab Mitte September 2015 brachen die Aktienkurse der Stamm- und Vorzugsaktien der Nebenintervenientin und der Beklagten ein.

Die Klägerinnen, zwei Fondsgesellschaften, erwarben in den Jahren 2013 bis 2015 Vorzugsaktien der Beklagten und verlangen von ihr Schadensersatz, insbesondere wegen der Verletzung kapitalmarktrechtlicher Publizitätspflichten, in Höhe von rund 160 Mio. €.

Am 5. August 2016 erließ das Landgericht Braunschweig einen Vorlagebeschluss (5 OH 62/16), der lediglich die Nebenintervenientin als Musterbeklagte bezeichnet und zu einem Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig geführt hat (3 Kap 1/16). Mit den Feststellungszielen dieses Musterverfahrens soll geklärt werden, ob im Einzelnen benannte Umstände im Zusammenhang mit der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung der Dieselmotoren des Typs EA 189 und Ermittlungen US-amerikanischer Umweltbehörden im Zeitraum 2007 bis 2015 die Nebenintervenientin betreffende Insiderinformationen waren, die sie unverzüglich hätte veröffentlichen müssen. Weitere Feststellungsziele betreffen die Unrichtigkeit der Geschäfts- und Finanzberichterstattung sowie von Ad-Hoc-Meldungen der Nebenintervenientin und Fragen ihrer Haftung. Das Oberlandesgericht Braunschweig stellte mit Beschluss vom 15. Juni 2018 fest, dass sich das Musterverfahren auch gegen die Beklagte im vorliegenden Verfahren richte.

Das Landgericht Stuttgart erließ am 28. Februar 2017 einen Vorlagebeschluss (22 AR 1/17 Kap), der lediglich die Beklagte als Musterbeklagte bezeichnet. Dem Oberlandesgericht wurden Feststellungsziele zur Herbeiführung eines Musterentscheids vorgelegt, mit denen die unmittelbare Betroffenheit der Beklagten von Vorgängen aus der Sphäre der Nebenintervenientin, hieraus resultierende Adhoc-Mitteilungspflichten und Fragen der Wissenszurechnung an die Beklagte geklärt werden sollen (Oberlandesgericht Stuttgart, 20 Kap 2/17). Das Oberlandesgericht Braunschweig lehnte mit Beschluss vom 23. Oktober 2018 einen Antrag auf Erweiterung des Musterverfahrens 3 Kap 1/16 um diejenigen Feststellungsziele, die Gegenstand des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 sind, ab. Das Oberlandesgericht Stuttgart stellte im Verfahren 20 Kap 2/17 mit Beschluss vom 27. März 2019 fest, dass das Musterverfahren 20 Kap 2/17 wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig nach § 7 KapMuG unzulässig sei und lehnte die Bestimmung eines Musterklägers ab.

Das Landgericht hat den vorliegenden Rechtsstreit mit Beschluss vom 20. Oktober 2017 im Hinblick auf die Umsatzgeschäfte der Klägerinnen vom 3. Juni 2014 bis 6. Juli 2015 bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die im Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 genannten Feststellungsziele ausgesetzt. Mit Urteil vom 24. Oktober 2019 hat es die Teilaussetzung aufgehoben und die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von etwa 44 Mio. € verurteilt sowie eine weitergehende Ersatzpflicht für einen Geldentwertungsschaden festgestellt. Auf die Berufungen der Klägerinnen und der Beklagten hat das Berufungsgericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Kapitalanleger-Musterverfahren des Oberlandesgerichts Braunschweig (3 Kap 1/16) und des Oberlandesgerichts Stuttgart (20 Kap 2/17) ausgesetzt. Hiergegen wenden sich die Klägerinnen mit ihrer vom Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde.

II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, das Verfahren sei gemäß § 8 KapMuG im Hinblick auf die Musterverfahren vor den Oberlandesgerichten Braunschweig und Stuttgart auszusetzen.

Die Entscheidung des Rechtsstreits hänge von den Feststellungszielen des Braunschweiger Musterverfahrens ab. Die Klage sei nicht unabhängig von den Feststellungszielen des Musterverfahrens als unzulässig oder unbegründet abzuweisen. Das Musterverfahren beziehe sich insbesondere auf tatsächliche und rechtliche Fragen zu nicht unverzüglich veröffentlichten Insiderinformationen, der Befreiung der Nebenintervenientin von der Pflicht zur Veröffentlichung, des rechtmäßigen Alternativverhaltens der Nebenintervenientin, des Vorsatzes der Nebenintervenientin, der Schadensberechnung und der Verjährung gemäß § 37b Abs. 4 WpHG in der bis 9. Juli 2015 geltenden Fassung. Die entsprechenden, zunächst die Nebenintervenientin betreffenden Feststellungsziele des Musterverfahrens in Braunschweig seien auch für die streitgegenständlichen Ansprüche gegen die Beklagte rechtlich und tatsächlich vorgreiflich. Die unmittelbare Betroffenheit der Beklagten, die Frage der Zurechnung von Wissen der Nebenintervenientin oder ein rechtmäßiges Alternativverhalten der Beklagten könnten nicht unabhängig von den Feststellungszielen beurteilt werden, sondern knüpften an das Vorliegen von Insiderinformationen an. Insofern genüge die teilweise Relevanz der Feststellungsziele.

Dem Rechtsstreit liege auch derselbe Lebenssachverhalt zu Grunde wie dem Musterverfahren des Oberlandesgerichts Braunschweig, obwohl kapitalmarktrechtliche und deliktische Pflichtverletzungen unterschiedlicher Emittenten geltend gemacht würden. Die gegen die Beklagte gerichteten Ansprüche gingen auf das in der Öffentlichkeit als Diesel- oder Abgasskandal bei der Nebenintervenientin bekannte tatsächliche Geschehen zurück, das nach den Feststellungszielen im Musterverfahren aufgeklärt und rechtlich gewürdigt werde. Die mit der Klage geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen und allgemein deliktsrechtlichen Schadensersatzansprüche bauten auf den Vorgängen auf und hätten ihre Grundlage im selben Lebenssachverhalt. Die Ablehnung der Erweiterung des Musterverfahrens um die Feststellungsziele, die die Beklagte beträfen, rechtfertige keine andere Beurteilung. Hierdurch könne zwar ein weiteres Musterverfahren erforderlich werden. Dies sei aber für die Klägerinnen nicht unzumutbar. Weder der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes noch eine Beteiligung der Klägerinnen an den Kosten des Musterverfahrens stehe der Aussetzung entgegen.

Der Rechtsstreit hänge auch von den Feststellungszielen des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart ab. Die Feststellungsziele bezögen sich unter anderem auf die für das vorliegende Berufungsverfahren zentralen Kernfragen der unmittelbaren Betroffenheit der Beklagten durch Vorgänge bei der Nebenintervenientin und der Wissenszurechnung, insbesondere der Darlegungs- und Beweislast für die Kenntnis der Beklagten von einer Insiderinformation, und der Zurechnung von Kenntnissen der Mitglieder des Vorstands der Nebenintervenientin, die zugleich Mitglieder des Vorstands der Beklagten seien oder gewesen seien. Das Verfahren betreffe auch den gleichen Lebenssachverhalt.

Selbst wenn der die Unzulässigkeit des Musterverfahrens feststellende Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. März 2019 (20 Kap 2/17)

abgeändert würde, sei die Unzulässigkeit nicht ohne Weiteres zu verneinen. Zwar wäre das Braunschweiger Musterverfahren in diesem Fall für den vorliegenden Fall nicht bindend, so dass sich die Frage stellen würde, ob die entsprechenden Tatsachen- und Rechtsfragen im vorliegenden Fall zu klären seien. Es läge jedoch eine Erweiterung der Feststellungsziele im Musterverfahren 20 Kap 2/17 gemäß § 15 Abs. 1 KapMuG nahe, weil dem Landgericht Stuttgart über die ausgesprochenen Feststellungsziele hinaus noch weitere Musterverfahrensanträge vorgelegen hätten, die es in dem Vorlagebeschluss teils als unzulässig und teils als noch nicht entscheidungserheblich behandelt habe.

Der Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 habe sich nicht erledigt. Das Landgericht habe sich mit seiner gegenteiligen Sicht ohne gesetzliche Grundlage über die Bindungswirkung des eigenen Vorlagebeschlusses hinweggesetzt. Die Erledigung des Musterverfahrens könne nur vom Oberlandesgericht in eigener Sachprüfung festgestellt oder von allen Beteiligten erklärt werden. Die Dauer des Musterverfahrens bis zum Erlass des angegriffenen Urteils rechtfertige das Vorgehen schon deswegen nicht, weil Verfahrensverzögerungen von den Parteien grundsätzlich im Wege des Verzögerungsrügeverfahrens geltend zu machen seien. Das Landgericht berufe sich zu Unrecht auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes.

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung weder in Bezug auf die Feststellungsziele des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig noch in Bezug auf die Feststellungsziele des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart bejaht werden.

a) Mit Recht hat das Berufungsgericht aber angenommen, dass die Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 KapMuG zwingend und auch im Berufungsverfahren möglich ist (OLG München, ZIP 2013, 2077, 2078; OLG Oldenburg, ZIP 2019, 465, 466; Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, 2. Aufl., § 8 Rn. 6; vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2007 - II ZB 15/07, ZIP 2008, 137 Rn. 8).

b) Die Entscheidung des Rechtsstreits ist entgegen der Sicht des Berufungsgerichts nicht von der Entscheidung über die Feststellungsziele des Vorlagebeschlusses im Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig abhängig.

aa) Der Senat hat im Verfahren über die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. März 2019 (20 Kap 2/17) mit Beschluss vom heutigen Tag entschieden, dass es für die Frage der Abhängigkeit nach § 7 Satz 1, § 8 Abs. 1 KapMuG maßgeblich ist, ob mit der Entscheidung über die Feststellungsziele in dem bereits eingeleiteten Musterverfahren eine Bindung des Prozessgerichts nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG eintreten kann. Für Schadensersatzansprüche, die auf das Unterlassen einer öffentlichen Kapitalmarktinformation gestützt werden, kann eine Entscheidung über die Feststellungsziele eines bereits eingeleiteten Musterverfahrens nur dann bindende Wirkung haben, wenn diese Feststellungsziele dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation betreffen (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2020 - II ZB 10/19). Für die Aussetzung eines Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG gilt nichts anderes.

bb) Die Aussetzung des Verfahrens kann danach nicht auf die Feststellungsziele des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Braunschweig gestützt werden, weil die Feststellungen des Oberlandesgerichts Braunschweig keine Bindungswirkung nach § 22 Abs. 1 Satz 1 KapMuG für mögliche, auf die Verletzung von Informationspflichten der Beklagten gestützte Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte hätten. Die Feststellungsziele im Musterverfahren beim Oberlandesgericht Braunschweig betreffen ausschließlich anspruchsbegründende oder anspruchsausschließende Voraussetzungen bzw. Rechtsfragen in Bezug auf Schadensersatzansprüche wegen öffentlicher Kapitalmarktinformationen der Nebenintervenientin.

c) Die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf das Musterverfahren beim Oberlandesgericht Stuttgart ist nicht schon deswegen unzulässig, weil dieses mit Beschluss vom 27. März 2019 festgestellt hat, dass das Musterverfahren 20 Kap 2/17 wegen der Sperrwirkung des Vorlagebeschlusses des Landgerichts Braunschweig nach § 7 KapMuG unzulässig sei und die Bestimmung eines Musterklägers abgelehnt hat. Die Aussetzung des Verfahrens widerspricht unter diesem Gesichtspunkt auch nicht dem Anspruch der Klägerinnen auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).

aa) Der Senat hat zu § 5 KapMuG aF ausgesprochen, dass die Sperrwirkung bereits mit Erlass des ersten Vorlagebeschlusses einsetzt und durch eine nicht rechtskräftige Aufhebung dieses Vorlagebeschlusses durch das Oberlandesgericht nicht entfällt (BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2011 - II ZB 5/11, ZIP 2012, 269 Rn. 11). Soweit dem unter Hinweis darauf widersprochen wurde, dass die Rechtsbeschwerde gegen einen den Vorlagebeschluss aufhebenden Beschluss nach § 575 Abs. 5, § 570 Abs. 1 ZPO keine aufschiebende Wirkung habe und daher der Vorlagebeschluss mit der Aufhebung den Erlass eines weiteren Vorlagebeschlusses nicht mehr hindern könne (Möllers/Faber, NZG 2012, 581, 583), vermag der Senat dem nicht zuzustimmen. Nach § 7 Satz 1, § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG ist für die Sperrwirkung die rechtskräftige Entscheidung über die Feststellungsziele maßgeblich. Solange aufgrund eines Rechtsmittels noch offen ist, ob es noch zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele kommen kann, dauert die Sperrwirkung an. Daher ist auch die Aussetzung eines Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG weiterhin zulässig.

bb) Entgegen der Sicht der Rechtsbeschwerde gebietet es der Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) nicht, dass das Prozessgericht von der Aussetzung des Verfahrens Abstand nimmt, wenn ein Gericht das Musterverfahren für unzulässig hält. Die Entscheidung über die Aussetzung steht nicht im Ermessen des Prozessgerichts, sondern hängt ausschließlich von den in § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG genannten Voraussetzungen ab und ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Feststellungsziele möglich.

Die normative Ausgestaltung des Rechtswegs ist unter Berücksichtigung dieser Auslegung von § 8 Abs. 1 KapMuG weder ungeeignet oder unangemessen noch für den Rechtssuchenden unzumutbar (vgl. BVerfG, NJW 2007, 3118, 3119). Verzögerungen des Musterverfahrens sind nicht zu vermeiden, wenn das Oberlandesgericht von der Unzulässigkeit des Musterverfahrens gemäß § 7 Satz 1, § 8 Abs. 1 KapMuG ausgeht und diese Entscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren überprüft werden muss. Ebenso liegt es in diesem Fall in der Natur der Sache, dass es bis zur endgültigen Klärung der Frage der Sperrwirkung Unklarheit darüber gibt, ob und gegebenenfalls im Hinblick auf welches Musterverfahren letztlich eine Aussetzung zu erfolgen hat. Im Regelfall dürfte sich in Verfahren, in denen eine Sperrwirkung im Raum steht, schon nicht die Frage stellen, ob dem Verfahren Fortgang zu geben ist. Ungeachtet dessen geht von der Möglichkeit, das Verfahren - möglicherweise nur vorübergehend - fortzusetzen, keine wesentliche Verbesserung der Rechtsschutzmöglichkeiten aus, sondern diese würde den mit der Bündelung der Verfahren angestrebten Zweck unterlaufen.

cc) Etwas anderes ergibt sich entgegen der Sicht der Rechtsbeschwerde auch nicht daraus, dass das Oberlandesgericht Stuttgart auf den Vorlagebeschluss des Landgerichts Stuttgart vom 28. Februar 2017 mit Beschluss vom 5. August 2018 auf die Unzulässigkeit des Musterverfahrens gemäß § 7 Satz 1 KapMuG hingewiesen und diese mit Beschluss vom 27. März 2019 festgestellt hat. Diese Abläufe stützen schon nicht die Behauptung der Rechtsbeschwerde, das Oberlandesgericht sei elf Monate oder länger untätig geblieben, anstatt das Verfahren zu bearbeiten und zu fördern. Das Oberlandesgericht hat auch mit Recht darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens nicht davon abhängig ist, ob die Sachbehandlung des Oberlandesgerichts im Musterverfahren aus der Sicht des vorlegenden Landgerichts zutreffend ist.

d) Das Berufungsgericht hat die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von den geltend gemachten Feststellungszielen rechtsfehlerhaft darauf gestützt, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart um weitere Feststellungsziele naheliege.

aa) Der Rechtsstreit hängt im Sinne des § 8 Abs. 1 KapMuG erst dann von den Feststellungszielen des Musterverfahrens ab, wenn nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet werden können. Es ist dem Rechtsuchenden nicht zuzumuten, dass sein individueller Rechtsstreit ausgesetzt wird und er unabsehbare Zeit auf das Ergebnis des oft jahrelang dauernden Musterverfahrens warten muss, obwohl nicht feststeht, dass es auf den Ausgang des Musterverfahrens in seinem Prozess tatsächlich ankommt. Neben der reinen Verzögerung kann er erhebliche Rechtsnachteile in der Beweisführung dadurch erleiden, dass Zeugen verstorben sind oder sich wegen des Zeitablaufs nicht mehr genau an den Sachverhalt erinnern können. Ferner ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, eine Partei an den Kosten eines Musterverfahrens anteilig zu beteiligen (vgl. § 24 KapMuG), das für ihren Rechtsstreit nicht entscheidungserheblich ist (BGH, Beschluss vom 30. April 2019 - XI ZB 13/18, BGHZ 222, 15 Rn. 28 f.). Vor der Aussetzungsentscheidung nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG müssen nicht nur die im Musterverfahren statthaften Feststellungsziele offenbleiben, sondern auch solche Tatsachen oder Rechtsfragen, die nur auf diese bezogen geprüft werden können. Das Prozessgericht ist nicht gehalten, hierzu vor seiner Aussetzungsentscheidung hypothetische Erwägungen anzustellen (BGH, Beschluss vom 30. April 2019 - XI ZB 13/18, BGHZ 222, 15 Rn. 34).

bb) Das Berufungsgericht konnte die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von der Entscheidung über die Feststellungsziele des Musterverfahrens nicht darauf stützen, dass eine Erweiterung des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht Stuttgart (20 Kap 2/17) um weitere Feststellungsziele naheliege, weil das Landgericht Stuttgart im Vorlagebeschluss weitergehende Musterfeststellungsanträge teils als unzulässig und teils als noch nicht entscheidungserheblich behandelt habe. In diesem Fall ist es dem Rechtsuchenden ebenfalls nicht zuzumuten, dass sein individueller Rechtsstreit ausgesetzt wird und er unabsehbare Zeit auf das Ergebnis des oft jahrelang dauernden Musterverfahrens warten muss, obwohl nicht feststeht, dass es auf den Ausgang des Musterverfahrens in seinem Prozess tatsächlich ankommt. Eine Aussetzung des Verfahrens kann in solchen Fällen erst erfolgen, wenn das Musterverfahren entweder tatsächlich gemäß § 15 Abs. 1 KapMuG um weitere Feststellungsziele erweitert wurde, von denen die Entscheidung des Rechtstreits abhängt, oder vom Prozessgericht festgestellt wurde, dass nur noch Tatsachen oder Rechtsfragen offen sind, die unabhängig vom Ausgang des Musterverfahrens nicht beantwortet oder bezogen auf die Entscheidung über die Feststellungsziele geprüft werden können.

e) Die Aussetzungsentscheidung des Oberlandesgerichts erweist sich in dem zuletzt genannten Punkt auch nicht deswegen teilweise als richtig, weil das Verfahren weiterhin auf der Grundlage und im Umfang des Aussetzungsbeschlusses vom 20. Oktober 2017 ausgesetzt ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Entscheidung des Landgerichts über die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses mangels verfahrensrechtlicher Grundlage wirkungslos geblieben wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Januar 1995 - IV ZB 22/94, NJW-RR 1995, 765; Beschluss vom 22. September 2010 - IX ZB 195/09, ZIP 2010, 2160 Rn. 19). Die Entscheidung hat allerdings eine verfahrensrechtliche Grundlage. Der Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses steht nicht entgegen, dass dieser - mangels Einlegung eines Rechtsbehelfs rechtskräftig geworden ist. Die dadurch eingetretene Unanfechtbarkeit gilt nur für den Aussetzungsbeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des Landgerichts, mit der der Aussetzungsbeschluss aufgehoben oder der Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens abgelehnt wird. Dies folgt aus §§ 150, 250 ZPO, die die Aufnahme eines ausgesetzten Verfahrens grundsätzlich zulassen und die Entscheidung darüber in das Ermessen des Gerichts stellen, soweit nicht einerseits ein Aussetzungszwang oder andererseits eine Fortsetzungspflicht besteht. Aufgrund dessen wird mit der Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses auch die Frist des § 569 Abs. 1 ZPO nicht umgangen (BGH, Beschluss vom 8. April 2014

- XI ZB 40/11, ZIP 2014, 1045 Rn. 10). Selbst wenn, wie es das Berufungsgericht angenommen hat, das Landgericht bei seiner Beurteilung, der Rechtsstreit sei ungeachtet des Musterverfahrens entscheidungsreif, in unzulässiger Weise das Ergebnis des Musterverfahrens vorweggenommen haben sollte, führt dies nicht dazu, dass der Aufhebungsentscheidung eine verfahrensrechtliche Grundlage fehlt.

III. Die angefochtene Entscheidung ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO aufzuheben. Da die Sache zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 577 Abs. 5, § 563 Abs. 3 ZPO). Dem Verfahren ist Fortgang zu geben. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG kommt erst in Betracht, wenn das Berufungsgericht entsprechend der unter II. 2. d) dargestellten Voraussetzungen die Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von den Feststellungszielen des Musterverfahrens beim Oberlandesgericht feststellt.

IV. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Klägerinnen wenden sich gegen die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 8 Abs. 1 Satz 1 KapMuG. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens bilden einen Teil der Kosten des Ausgangsrechtsstreits, welche die in der Sache unterliegende Partei unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens nach §§ 91 ff. ZPO zu tragen hat (BGH, Beschluss vom 30. April 2019 - XI ZB 13/18, BGHZ 222, 15 Rn. 36 mwN).

Drescher Bernau B. Grüneberg V. Sander von Selle Vorinstanzen:

LG Stuttgart, Entscheidung vom 24.10.2018 - 22 O 348/16 -

OLG Stuttgart, Entscheidung vom 29.10.2019 - 1 U 205/18 -