OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.07.2020 - 15 B 950/20
Fundstelle
openJur 2020, 31966
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Der angefochtene Beschluss wird geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin und die Teilnehmenden der heutigen "Kundgebung gegen die stationäre polizeiliche Videoüberwachung in L. "

1. zu Beginn der Versammlung in geeigneter Weise mündlich (etwa durch Megafondurchsage) zu informieren, dass die Videoüberwachungsanlagen am S.-------platz und am E. während der Versammlung nicht in Betrieb sind, und

2. auf gleichem Weg unverzüglich zu informieren, falls die Kameras dieser Videoüberwachungsanlagen aufgrund des §§ 12 a, 19 a VersG in Betrieb genommen werden sollen.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen tragen die Antragstellerin zu 2/3 und der Antragsgegner zu 1/3.

Gründe

Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet,

Videoaufnahmen und Videoaufzeichnungen am S.-------platz in L. -Innenstadt am 2. Juli 2020 zwischen 18.00 bis 20.00 Uhr durch die dort befindliche stationäre polizeiliche Videoanlage (5 Videokameras) an einem Kamerastandort am S.-------platz selbst und dem Standort "E. " (4 Videokameras) nach außen erkennbar mittels mechanischer/physischer Sperren an oder um die Videokameras unmöglich zu machen.

Die Beschwerde des Antragsgegners und die zu ihrer Begründung darlegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung der angefochtenen Entscheidung.

Die für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung erforderlichen Voraussetzungen des § 123 Abs. 1, Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 ZPO liegen bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht vor. Ein Anordnungsanspruch ist weder in Bezug auf den Haupt- noch den Hilfsantrag gegeben.

1. Es ist in der vorliegenden konkreten (Versammlungs-)Situation nicht davon auszugehen, dass die am und um den S.-------platz im Rahmen einer offenen Videobeobachtung fest installierten Kameras (insgesamt neun, davon fünf am Standort S.-------platz und vier am Standort E. ) in Bezug auf die in Rede stehende Versammlung unter Berücksichtigung sämtlicher Rahmenbedingungen in das Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG eingreifen.

Versammlungen sind durch Art. 8 Abs. 1 GG als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung geschützt und stellen eine für die Demokratie unentbehrliche Form der Meinungsäußerung und Meinungsbildung dar. Art. 8 Abs. 1 GG schützt den gesamten Vorgang des Sich-Versammelns. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit kann auch durch faktische Maßnahmen beeinträchtigt werden, wenn diese in ihrer Intensität imperativen Maßnahmen gleichstehen und eine abschreckende oder einschüchternde Wirkung entfalten bzw. geeignet sind, die freie Willensbildung und die Entschließungsfreiheit derjenigen Personen zu beeinflussen, die an Versammlungen teilnehmen (wollen).

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. November 2015- 2 BvQ 39/15 -, juris Rn. 11, und vom 11. Juni 1991 - 1 BvR 772/90 -, juris Rn. 16 ff.; BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 6 C 46.16 -, juris Rn. 28 und 31 f.; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 55.

Ob dies der Fall ist, kann nur aufgrund einer Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls anhand eines objektiven Beurteilungsmaßstabs festgestellt werden. Dabei ist nicht die subjektive Bewertung einzelner konkret betroffener Personen maßgeblich. Vielmehr ist schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsanwendungsgleichheit ein objektiver Beurteilungsmaßstab anzulegen und auf die Sichtweise eines sog. verständigen Dritten abzustellen. Entscheidend ist, ob ein vernünftiger Mensch in der Situation des oder der Betroffenen ernsthaft in Betracht ziehen würde, aufgrund der staatlichen Maßnahme von der Teilnahme an der (bevorstehenden) Versammlung in der geplanten Form Abstand zu nehmen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017- 6 C 46.16 -, juris Rn. 31 und 33; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 57.

Dabei ist die Anfertigung von Übersichtsaufzeichnungen von einer Versammlung mit Foto- und/oder Videotechnik nach dem heutigen Stand der Technik für die Aufgezeichneten immer ein Grundrechtseingriff, weil die Einzelpersonen auch in Übersichtsaufzeichnungen in der Regel individualisierbar mit erfasst sind. Sie können, ohne dass technisch weitere Bearbeitungsschritte erforderlich sind, durch schlichte Fokussierung erkennbar gemacht werden, so dass einzelne Personen identifizierbar sind. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Übersichtsaufzeichnungen und personenbezogenen Aufzeichnungen besteht diesbezüglich, jedenfalls nach dem Stand der heutigen Technik, nicht.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009- 1 BvR 2492/08 -, juris Rn. 130; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 59; ebenso VerfGH Berlin, Urteil vom 11. April 2014 - 129/13 -, juris Rn. 48.

Die polizeiliche Erstellung von Übersichtsaufzeichnungen führt daher zu gewichtigen Nachteilen. Sie begründet für Teilnehmende an einer Versammlung das Bewusstsein, dass ihre Teilnahme und die Form ihrer Beiträge unabhängig von einem zu verantwortenden Anlass festgehalten werden können und die so gewonnenen Daten über die konkrete Versammlung hinaus verfügbar bleiben. Dabei handelt es sich überdies um sensible Daten. In Frage stehen Aufzeichnungen, welche die gesamte - möglicherweise emotionsbehaftete - Interaktion der Teilnehmenden optisch fixieren und geeignet sind, Aufschluss über politische Auffassungen sowie weltanschauliche Haltungen zu geben. Das Bewusstsein, dass die Teilnahme an einer Versammlung in dieser Weise festgehalten wird, kann Einschüchterungswirkungen haben, die zugleich auf die Grundlagen der demokratischen Auseinandersetzung zurückwirken. Wer damit rechnet, dass die Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert wird und dass ihm dadurch persönliche Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf die Ausübung seines Grundrechts verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil die kollektive öffentliche Meinungskundgabe eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten demokratischen und freiheitlichen Gemeinwesens ist.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2009- 1 BvR 2492/08 -, juris Rn. 131; OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019 - 15 A 4753/18 -, juris Rn. 61.

Dies gilt auch für "flüchtige", d. h. nicht gespeicherte Aufnahmen bzw. Bildübertragungen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 63; Nds. OVG, Urteil vom 24. September 2015 - 11 LC 215/14 -, juris Rn. 22; OVG Rh.-Pf., Urteil vom 5. Februar 2015 - 7 A 10683/14 -, juris Rn. 31; VG Berlin, Urteile vom 26. April 2012 - 1 K 818.09 -, juris Rn. 23 ff., und vom 5. Juli 2010 - 1 K 905.09 -, juris Rn. 15 f.; VG Münster, Urteil vom 21. August 2009 - 1 K 1403/08 -, juris Rn. 15; Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, VersG, 18. Aufl. 2019, § 12a Rn. 9; anderer Ansicht Enders, in: Dürig-Friedl/Enders, VersG, 2016, § 12a Rn. 6.

Ohne Eingriffsqualität können demgegenüber unter Umständen bloße Übersichtsaufnahmen sein, die erkennbar der Lenkung eines Polizeieinsatzes namentlich von Großdemonstrationen dienen und hierfür erforderlich sind, oder die reine Beobachtung durch begleitende Beamte.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. September 2019- 15 A 4753/18 -, juris Rn. 65, Beschluss vom 23. November 2010 - 5 A 2288/09 -, juris Rn. 4, unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985- 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, juris Rn. 70 - Brokdorf -, wonach der staatsfreie unreglementierte Charakter einer Demonstration nicht durch "exzessive Oberservationen und Registrierungen" verändert werden darf; kritisch zu Übersichtsaufnahmen auch Koranyi/Singelnstein, NJW 2011, 124, 126.

2. Gemessen an diesen Maßstäben ist der Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege ein Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG vor, im vorliegenden Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Versammlungssituation und ihrer Begleitumstände sowie der ergänzenden tenorierten Verpflichtungen des Antragsgegners bei summarischer Betrachtung - auch unter Berücksichtigung der Beschwerdeerwiderung - nicht zu folgen. Bei der hier gegebenen Sachlage überschreitet das bloße Vorhandensein einer vorübergehend deaktivierten Videoüberwachungsanlage am Versammlungsort nicht die Schwelle zum Grundrechtseingriff. Es ist nicht davon auszugehen, dass bei Zugrundelegung eines objektiven Beurteilungsmaßstabs ein verständiger Dritter allein wegen der Existenz der unverhüllten Kameras von der Teilnahme an der Versammlung Abstand nehmen würde.

Im Unterschied zur Sachlage, die der - den Beteiligten bekannten - Entscheidung des Senats vom 13. März 2020 (15 B 332/20) zugrunde lag, ist vorliegend davon auszugehen, dass die Versammlungsteilnehmenden und Teilnahmeinteressierte hinreichend erkennen können, dass die Kamerainstallationen während der Versammlung nicht in Betrieb sind. Dies wird in erster Linie durch die vorhandene Beschilderung sichergestellt; sie klärt zum einen darüber auf, in welchen innerstädtischen Bereichen eine Videoüberwachung durch fest installierte Kameras erfolgt, und gibt zum anderen darüber Aufschluss, dass während Versammlungen keine Videobeobachtung bzw. -aufzeichnung stattfindet. Diese Aufklärung erfolgt sowohl durch einen entsprechenden kurzen Text als auch verdeutlichend durch ein entsprechendes Piktogramm. Ausweislich des mit der Beschwerdebegründung übersandten Foto- und Kartenmaterials ist diese Beschilderung in ihrer Größe und Anbringung ausreichend für Passanten erkennbar. Im unmittelbaren Bereich des S1.-------platzes befinden sich fünf entsprechende Schilder, die z. T. in verschiedene Blickrichtungen ausgerichtet sind. Weitere drei Hinweisschilder sind im Bereich von Zugängen zum Platz angebracht. Zusätzlich hat der Antragsgegner angekündigt, bei der Versammlung über vor Ort befindliche Polizeikräfte die Versammlungsteilnehmenden über die Einstellung der Videobeobachtung und der Bildaufzeichnung in Kenntnis zu setzen, was der Senat zur Klarstellung als entsprechende Verpflichtung in den Tenor aufgenommen hat. Dabei handelt es sich angesichts der voraussichtlich zu erwartenden Anzahl von zehn Teilnehmenden und des Charakters der Versammlung als Standkundgebung ebenfalls um eine geeignete Maßnahme, um Klarheit über die Einstellung des Betriebs der Kameras zu schaffen. Jedenfalls eine solche Personenzahl ist ohne weiteres erreichbar.

Ein Abschreckungs- bzw. Einschüchterungseffekt durch die nicht verdeckten fest installierten Kameras lässt sich auch nicht mit der Erwartung begründen, dass der Antragsgegner möglicherweise entgegen seiner schriftlichen Zusage im Bescheid vom 24. Juni 2020 eine Videobeobachtung bzw. Bildaufzeichnung durchführen werde. Der an Recht und Gesetz gebundene Antragsgegner hat bei summarischer Prüfung hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen, die die Außerbetriebnahme der Kameras während Versammlungen grundsätzlich gewährleisten. Nach seiner Handlungsanweisung vom 17. Februar 2017 sind Führungs- und Lagedienst/ Leitstelle von der Versammlungslage in Kenntnis zu setzen, die die Außerbetriebnahme veranlassen. Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass - wie der Antragsgegner selbst einräumt - in einem Fall entgegen der üblichen Handhabung durch fehlerhafte Umsetzung der bestehenden Vorgaben eine kurzfristige Inbetriebnahme der Kameras erfolgte. Die Verantwortlichen in der Videozentrale werden nach Angaben des Antragsgegners regelmäßig geschult und stichprobenartig kontrolliert. Vorliegend hat der Antragsgegner darüber hinaus zugesichert, über die tatsächlich erfolgte Abschaltung der Videobeobachtung im Bereich S.-------platz in L. , soweit diese in der Lage ist, den räumlichen Verlauf der Versammlung zu erfassen, für den Versammlungszeitraum am 2. Juli 2020 von 18:00 bis 20:00 Uhr einen entsprechenden Nachweis durch Vorlage der diesen Zeitraum und Ort betreffenden Protokolldaten zu erbringen.

Insofern verbleiben mit Blick auf den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG allein die Existenz der unverhüllten Kameras, sowie der Umstand, dass grundsätzlich auch eine kurzfristige Inbetriebnahme auf Grundlage des §§ 12 a; 19 a VersG - die sich der Antragsgegner ausweislich der genannten Handlungsanweisung im Einzelfall vorbehält - erfolgen kann, ohne dass dies für die Teilnehmenden der Versammlung oder Teilnahmeinteressierte erkennbar wäre. Zur Vermeidung der daraus für die Grundrechtsausübung ggf. resultierenden Einschränkungen wird der Antragsgegner verpflichtet, im Falle einer Anordnung von Aufzeichnungen und/oder Videobeobachtungen durch den Polizeiführer diese Anordnung umgehend den Versammlungsteilnehmenden in geeigneter Form (etwa durch Megafondurchsage) zur Kenntnis zu geben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).